Sonntag, November 24

Über einen Ort, der kolonialisiert, besetzt, zerstört und schliesslich vergessen wurde.

Für einmal waren die Russen Helden. Als die Sowjetarmee am 25. Oktober 1944 in die nordnorwegische Stadt Kirkenes einfiel, wurden die Soldaten von der lokalen Bevölkerung als Befreier gefeiert. Die Region hatte arg unter der Besetzung der deutschen Wehrmacht gelitten. Den Sowjets gelang es, die verhassten Nazis zurückzudrängen – danach zogen sie ab.

Die Russen als Beschützer Europas vor dem Faschismus: So wird die Geschichte heute gerne vom Kreml erzählt. Derzeit feiern die Russen an der Barentssee den 80. Jahrestag der Kämpfe im Zweiten Weltkrieg. Doch die Rote Armee marschierte nicht nur in Nordnorwegen ein, sondern auch im finnischen Petsamo. Die vermeintliche «Befreiung» brachte der Region Zerstörung und Elend. Aus Petsamo wurde Petschenga, eine militarisierte Bergbaustadt in der Sowjetunion, die jahrzehntelang von der Aussenwelt abgeschottet war.

Die Geschichte Petsamos zeigt, was den besetzten ukrainischen Gebieten droht, sollten sie endgültig an Russland fallen.

Die finnischen Kolonialisten

Die Russen waren nicht die ersten Invasoren. 1920 war man in Finnland einer utopischen Vision ein Stück näher gekommen. Gerade erst hatte sich das Land nach einem blutigen Bürgerkrieg vom russischen Kaiserreich losgesagt und für unabhängig erklärt. Die Idee eines «Grossfinnland» geisterte herum: eines unabhängigen Nationalstaates, der ganz Karelien umfassen und dessen natürliche Grenzen bis an die Barentssee reichen sollten. Nun schien wenigstens ein Teil davon Realität zu werden: Als sich Finnland und Russland auf ihre gemeinsame Grenze einigten, fiel Petsamo an die Finnen.

In Helsinki war man ausser sich vor Freude. «Die Briten haben Indien, wir haben Petsamo», soll es damals gemeinhin geheissen haben. Tausende Finninnen und Finnen machten sich auf den Weg in den Norden. Sie wollten das «Eismeer», wie die Barentssee auf Finnisch heisst, bewundern und das neu gewonnene Gebiet bevölkern. Doch Petsamo war keine unbewohnte Wildnis.

An der Küste der Barentssee lebten seit Jahrhunderten Skoltsamen. Die neue Grenze führte quer durch ihr Stammesgebiet und schnitt sie von ihren Rentierherden ab. Die Eindringlinge aus dem Süden behandelten die indigene Bevölkerung wahlweise als Forschungsobjekte oder Arbeitskräfte – in jedem Fall jedoch als minderwertig gegenüber der weissen finnischen Bevölkerung. Die Unterdrückung rechtfertigten sie damit, die als primitiv gesehenen Ureinwohner zivilisieren zu wollen.

In Wahrheit ging es den finnischen Kolonialisten jedoch um etwas anderes. Die beeindruckende Natur versprach ein neues Geschäftsfeld für den Tourismus, der ganzjährig eisfreie Hafen neue Ressourcen für die Fischerei. Und dann wurde in Petsamo noch etwas anderes entdeckt. Etwas, was das arme Finnland zu einem reichen Land hätte machen können und was später das Elend Petsamos besiegelte: Nickel.

Die deutschen Besetzer

Ende November 1939 startete die Sowjetunion ihre erste Invasion gegen Finnland und marschierte auch in Petsamo ein. Die Nachricht über den Bodenschatz war jedoch nicht nur zu den Russen, sondern auch zu den Deutschen durchgedrungen. Die Wehrmacht, die bereits Norwegen eingenommen hatte, überschritt am 22. Juni 1941 die norwegisch-finnische Grenze mit dem Ziel, von Petsamo weiter nach Murmansk vorzustossen.

Die Offensive scheiterte an der Ausrüstung: «In der arktischen Hölle zitterten die Deutschen in ihrer Sommerkleidung in Pappzelten», schreibt die finnische Zeitung «Iltalehti» in einem historischen Artikel. Der Nazi-Kommandant Ferdinand Schörner, der in Finnland schnell den Übernamen «Schrecken von Petsamo» bekam – unter anderem weil er seine eigenen Soldaten hinrichten liess und aus dem Fenster seines Autos auf andere Verkehrsteilnehmer schoss –, blieb mit ebendiesem Fahrzeug für einen ganzen Tag im Schnee stecken. Die Szene wurde zum Sinnbild der deutschen Besetzung.

Mithilfe der Nazis konnte Finnland die Russen im Zweiten Weltkrieg von Petsamo und der Nickelmine fernhalten. Doch die Unterstützung hatte ihren Preis. Die Besetzer übernachteten, wo sie wollten, stahlen Heu, Brennholz und Kartoffeln und verwüsteten zum Dank ihre Gaststätten. Und sie sicherten sich den Zugang zum begehrten Metall.

Hatten sich die Finninnen und Finnen den Skoltsamen noch rassisch überlegen gefühlt, waren es nun sie, die als Minderwertige behandelt wurden. Als sich 1944 die Niederlage der Wehrmacht abzuzeichnen begann, löste sich Finnland schnell aus der unheiligen Allianz. Für Petsamo aber sollte es noch schlimmer kommen.

Die russischen Zerstörer

Finnland konnte nach dem Zweiten Weltkrieg seine Unabhängigkeit behalten, doch gewonnen hat es den Krieg nicht. Fast 100 000 Finninnen und Finnen wurden von russischen Soldaten getötet. Im Friedensvertrag von 1947 diktierte die Sowjetunion die Bedingungen. Sie verlangte neben hohen Reparationszahlungen auch grössere Teile Kareliens und Petsamo.

Während die «karelische Frage» – ob die abgetretenen Gebiete für immer verloren seien – einen Teil der finnischen Gesellschaft bis heute umtreibt, ging Petsamo im öffentlichen Diskurs beinahe komplett vergessen. Das Gebiet hatte nur 24 Jahre zu Finnland gehört, und von den 420 000 Finninnen und Finnen, die durch den Krieg heimatlos geworden waren, stammen nur 5500 aus Petsamo – unter ihnen immer noch als minderwertig erachtete Skoltsamen.

Petsamo verschwand für Jahrzehnte hinter dem Eisernen Vorhang. Das Gebiet wurde militarisiert, und im Hafen fuhren Atom-U-Boote ein. Aus anderen Teilen der Sowjetunion wurden Zehntausende Personen nach Petsamo verfrachtet, um in der Nickelmine zu arbeiten. Als die Grenze nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder aufging, eröffnete sich der Welt ein erschreckendes Bild.

Die Wälder waren zerstört worden, das Grundwasser ist durch die Mine verseucht. Die finnische Historikerin Maria Lähteenmäki hat Petsamo mehrfach besucht und berichtet «Iltalehti», was sie gesehen hat: «Die Umgebung sieht düster aus. In der Sowjetunion kümmerte sich niemand um die Verschmutzung durch die Nickelminen und ihre Auswirkungen auf die Natur.» Auch von den Militärstützpunkten sei ausser Ruinen nicht mehr viel übrig. «Auf einem Stein stand mit weissen Buchstaben geschrieben: ‹Willkommen in der Hölle›.»

Die Mär der Befreiung

Die örtlichen Behörden im heutigen Petschenga feiern in diesen Tagen den 80. Jahrestag dessen, was sie als Befreiung des russischen Landes bezeichnen. Die norwegische Zeitung «The Barents Observer» veröffentlichte ein Video, das Jugendliche in Kampfausrüstung und mit Maschinengewehren bei einer Parade zeigt. Sie imitieren Kampfhandlungen, schiessen mit Platzpatronen und schwenken die russische Flagge. Unter den Zuschauern sind zahlreiche Kinder zu sehen – und Politiker, die die Show für ihre Propaganda nutzen.

Die Mär von der Befreiung ist mehr als eine krude Deutung historischer Ereignisse. Aus den zwei Brigaden, die heute in Petschenga stationiert sind, sollen laut dem «Barents Observer» Tausende Männer in den Angriffskrieg gegen die Ukraine gezogen sein. Hunderte wurden bereits getötet. In einem hat der Kreml recht: Sie sind im gleichen Auftrag unterwegs wie einst ihre Vorväter, die in Petsamo eindrangen. Er besteht darin, sich völkerrechtswidrig und gewaltsam fremdes Land anzueignen, und bringt vor allem eins: Zerstörung.

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