Sonntag, Oktober 6

Alle reden über Imane Khelif, kaum jemand weiss wirklich etwas über sie. Von einer Heldin, die einer griechischen Sage entsprungen sein könnte.

Ein Mädchen, geboren in einem Land, das für Mädchen wenig bereithält. Ein sportliches Mädchen, das gerne Fussball spielt, im Fernsehen Boxkämpfe sieht, sich Geld zusammenspart, damit es ins Training in der nahen Stadt kann. Ein starkes Mädchen, das es schliesslich an internationale Wettkämpfe schafft, verliert, doch noch siegt, sich für die Olympischen Spiele qualifiziert und schliesslich eine Medaille gewinnt und in seinem Land zur Heldin, zum Vorbild für andere Mädchen wird.

Die Geschichte von Imane Khelif wäre eigentlich ein Märchen. Keines aus Tausendundeiner Nacht und auch keines der Brüder Grimm. Eher eine griechische Sage mit einer Heldin, die einen Traum hat, der ihr Auftrag wird, und die auf ihrem Weg immer neue Widerstände überwinden muss, manche davon so absurd, dass nur höhere Mächte sie ersonnen haben können – womit auch schon klar ist, dass mit übermenschlichen Kräften ausgestattet sein muss, wer diese Prüfungen bewältigen will.

Das Problem ist: Es gibt im Sport zwar viele Heldengeschichten. Aber im Frauensport ist übermenschliche Kraft ein Problem.

Imane Khelif wurde in Algerien in eine Familie geboren, die, so erzählte sie es in Interviews jeweils in knappen Worten, «sehr klassisch» war: «arm und konservativ». Khelifs Vater arbeitete als Schweisser in der Wüste; dass sich seine Tochter für Sport begeisterte, störte ihn. Dabei spielte Khelif einfach leidenschaftlich Fussball. Aber auch Fussball, dieser Durchschnittssport, gehört sich für Mädchen auf dem algerischen Land nicht. Khelif erinnert sich, dass es mit den Buben im Dorf deswegen oft zu Schlägereien gekommen sei. Geschickt sei sie den Schlägen ausgewichen. Ein erster Hinweis, dass sie auch für andere Sportarten geeignet sein könnte.

In der Schule fiel den Lehrern die überschüssige Energie des Mädchens auf. Wie sie schliesslich zur Boxerin wurde, hat sie unterschiedlich erzählt. Was bei jeder Erzählung gleich bleibt: dass ein Boxer ihr Talent erkannt hat, sie zum Training einlud, ihr Vater aber dagegen war. «Wir lebten auf dem Land, die Leute redeten, meine Familie war dagegen. Wenn ich boxte, fühlte es sich an, als ob ich etwas Falsches täte.»

Khelif ging trotzdem. Sie mochte das Geräusch, das erklang, wenn sie den Boxhandschuh auf den Boxsack klatschte. Boxen ist auch ein sinnlicher Sport, eine Art gewaltvoller Tanz.

Doch der Boxklub war in der Stadt, und Khelif und ihre fünf Geschwister lebten im Dorf, zehn Kilometer entfernt. Geld für die Busfahrt hatte die Familie nicht.

Vor zwei Jahren sass Khelif im Fernsehstudio des Senders El Bilad auf einem pink Sofa und erzählte, wie sie Brot und Couscous verkaufte, Eisen und Plastik sammelte und weiterverkaufte und so das Geld für die Fahrten zum Training verdiente.

Der Moderator schaute Khelif kurz an, dann sagte er: «90 Prozent der Leute hätten aufgegeben, wenn sie in deiner Situation gewesen wären. Aber du hast Brot verkauft, Eisen verkauft! Dinge getan, die nicht typisch sind für dein Alter, ja für dein Geschlecht. Ein Mädchen, das Eisen, Plastik verkauft, das verdient Respekt.»

Als Khelif auf dem pink Sofa sass, hatte sie die ersten Hindernisse, eine konservative Familie, das falsche Geschlecht für ihren Sport und fehlende Ressourcen, bereits überwunden. Sie hatte an Weltmeisterschaften teilgenommen, die Afrikameisterschaften gewonnen, sogar an die Olympischen Spiele in Tokio hatte sie es geschafft. Sie wirkte entspannt. Sie erklärte dem Moderator, dass sie zwar viele Hürden zu überspringen hatte, aber jede Hürde sei auch Antrieb geworden. «Und der Erfolg kam», sagte der Moderator. Sie nickte. Sie ahnte da nicht, dass ihr Weg noch lange nicht zu Ende sein würde.

Ein Jahr später sass Khelif in einem anderen Fernsehstudio vor einem anderen Moderator, der seine Fragen ausschweifend formulierte, vorsichtig um Verständnis bat, erklärte, dass er so fragen müsse, er frage auch für das algerische Volk, das verstehen wolle, was geschehen sei.

Khelif nickte, gab Antwort, aber ob sie selbst verstand, was ihr widerfahren war, wurde nicht wirklich klar. Sie redete vom schlimmsten Tag ihres Lebens. Als sie an den Weltmeisterschaften in Indien den Titel hätte erringen sollen und kurz vor dem Final disqualifiziert wurde. Sie erklärte dem Moderator, dass es an bestimmten Werten gelegen habe, die zu hoch gewesen seien, jedenfalls sei befunden worden, dass sie nicht gegen andere Frauen antreten dürfe. Der Moderator fragte nach, Khelif redete von einer Verschwörung, die Medaille sei bereitgelegen, sie hatte ja zuvor die ungeschlagene Russin besiegt, und war nicht der Präsident des Boxverbandes ebenfalls ein Russe?

Gerüchte machten die Runde. Welchen Test hatte Khelif nicht bestanden? Bis heute weiss das niemand wirklich. Wies sie zu hohe Testosteronwerte auf, um sich für die Frauenkategorie zu qualifizieren? Oder ist Khelif tatsächlich gar keine Frau, sondern eine intergeschlechtliche Person mit einem männlichen Chromosomensatz? Khelif war nach ihrer Geburt als Mädchen identifiziert worden, war als Mädchen aufgewachsen, hatte als Frau Sport betrieben – nun sollte sie plötzlich nicht mehr als Frau antreten dürfen.

In den Sagen der Griechen platzieren die Götter Hindernisse auf dem Weg des Helden, um ihn zu testen. In aussichtslosen Situationen hilft ein Kniff oder Beharrlichkeit und Geduld. Khelif tat, was sie tun konnte, was sie immer getan hatte. Sie kämpfte einfach weiter. Sie nahm an den arabischen Meisterschaften teil, gewann, und als der Weltboxverband vom olympischen Komitee wegen Korruptionsvorwürfen entmachtet wurde, schien der Weg plötzlich wieder frei.

Vor dem ersten Kampf in Paris kannte kaum jemand ausserhalb der Boxwelt Imane Khelif. Nur Sportnerds erinnerten sich an die Boxerin, die gar keine Frau sein soll. Dann betrat Khelif den Ring, schlug nach wenigen Sekunden hart zu, worauf die italienische Gegnerin plötzlich aufgab. Danach erklärte diese den Medien, dass sie um ihr Leben gefürchtet habe. Noch nie sei sie so hart geschlagen worden. «Es ist nicht fair.»

Es war der Moment, in dem aus dem Märchen der Imane Khelif eine Farce wurde. J. K. Rowling, die keine Gelegenheit auslässt, online die Transgender-Bewegung als krank zu diffamieren, meldete sich als Erste zu Wort, Elon Musk folgte wenig später, Italiens Regierungschefin Meloni beklagte grosse Ungerechtigkeit, und Donald Trump sagte zu seinen Anhängern: «Es ist eine Person, die ihr Geschlecht wechselte, es ist eine Person, die einmal ein guter männlicher Boxer war.»

Dass Khelif sich nie als Mann identifizierte – egal. Die Empörungswelle rollte: Wie das IOK einen Mann zum Frauenboxen zulassen könne! Dass Imane Khelif keine Frau sein könne, sehe man ja mit blossem Auge!

Die Frage, wer als Frau zu Sportanlässen zugelassen wird, treibt den Spitzensport seit Jahrzehnten um. Lange hat man die Kategorisierung anhand der äusserlichen Geschlechtsmerkmale vorgenommen. Seit wenigen Jahren versucht man Grenzwerte beim Testosteron festzulegen, weil man weiss, dass Testosteron in manchen Sportarten leistungssteigernd wirkt.

In Interviews spekulieren Mediziner nun darüber, ob Khelif womöglich intergeschlechtlich sei: zwar äusserlich eine Frau, aber mit einem Y-Chromosom ausgestattet. Ob da womöglich Hoden versteckt in ihrem Körper lagerten, ob sie menstruiere, eine Gebärmutter habe – oder ob sie schlichtweg höhere Testosteronwerte aufweise als andere Frauen.

Das IOK verweist auf seine einfache Regel: «Imane Khelif ist als Mädchen zur Welt gekommen, ist als Frau eingetragen, hat als Frau gelebt und als Frau geboxt.» Ein Fernsehsender interviewte derweil Imane Khelifs Vater, der die Geburtsurkunde in die Kamera streckte. Aber eigentlich ist das längst egal. Um Imane Khelifs Geschlecht wird stellvertretend ein Kulturkampf ausgetragen, in dem sich nicht nur Woke und Konservative gegenüberstehen, sondern auch in einer seltsamen Verdrehung Westler und Algerier, die sich nun als Frauenrechtler inszenieren.

Auch deshalb war Imane Khelif für Algerien wichtig. Weil sie als Frau alle Hindernisse überwunden hat. Die Algerierinnen und Algerier haben das Gefühl, dass die Welt ihnen diese Frau, die heute Abend für sie im Final um Gold kämpft, nun wegnehmen will. Dass es sie nicht geben darf – weil sie Algerierin ist.

Vor kurzem hat ein algerischer Fernsehsender das alte Boxgym von Khelif besucht. Interviewt wurden dabei auch zahlreiche Mädchen, die boxen. Khelif, sagen sie, sei ihr Vorbild.

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