Mittwoch, Oktober 9

Mittlere Kinder werden gerne übersehen, heisst es. Das hat auch Vorteile. Teil 3 der Serie «Geschwister».

Meine Schwester war mein grosses Vorbild. Sie war drei Jahre älter als ich. Als sie Briefmarken zu sammeln begann, wünschte ich mir nichts sehnlicher als ein Briefmarkenalbum. Als sie nach der Primarschule an die Bezirksschule wechselte, war für mich klar: Dorthin will ich auch. Eifersucht oder Neid verspürte ich ihr gegenüber nie. Sie war schliesslich älter. Mir schien logisch, dass sie mir in vielen Dingen überlegen war und dass sie abends länger aufbleiben durfte. Meine grosse Schwester war nie eine Rivalin, im Gegenteil: Ich schaute zu ihr auf.

Mit meinem jüngeren Bruder war das ganz anders. Als er mich in der
Körpergrösse zu überholen begann, empfand ich das als Affront. Und als er im Tischtennis plötzlich besser spielte und ich gegen ihn
verlor, überkamen mich regelrechte Wutausbrüche. Die Kante unseres
Tischtennistisches war schon bald mit Kerben übersät, weil ich jeweils wutentbrannt den Schläger auf den Tisch schlug. Ich konnte es schlicht
nicht ertragen, von meinem kleinen Bruder in den Schatten gestellt zu werden.

Ich kam als zweites von vier Kindern zur Welt. Man nennt die Position auch Sandwichkind: nicht an der Spitze, aber auch nicht das Schlusslicht. Irgendwo dazwischen halt, unter «ferner liefen».

Irgendwo in der Mitte wird man oft übersehen

Man sagt Sandwichkindern nach, dass sie sich manchmal übersehen fühlen. Ich kann dies durchaus bestätigen. Wenn ich glaubte, zu wenig Aufmerksamkeit zu bekommen, war ich gekränkt und enttäuscht. Unter dem Radar zu laufen, hatte aber nicht nur Nachteile: Ich genoss es zum Beispiel, meist tun und lassen zu können, was ich wollte.

In der Serie «Geschwister» beleuchten wir die Beziehungen zwischen Schwestern und Brüdern und wie sie uns prägen.

Serie

Zum Beispiel, als ich mich in der Primarschule mit zwei Klassenkameradinnen auf einem Schulausflug verlief. Wir hatten getrödelt und den Anschluss an unsere Klasse verloren. Wir mussten eine falsche Abzweigung genommen haben und landeten in einem benachbarten Dorf, als es bereits dunkel wurde. Meine beiden Schulkolleginnen erwartete zu Hause mächtig Ärger. Meine Eltern dagegen hatten noch gar nicht mitbekommen, dass ich nicht rechtzeitig nach Hause gekommen war. Meine Mutter war mit Einkaufen und meinen jüngeren Geschwistern beschäftigt. Es wäre meinen Eltern wohl erst beim Abendessen aufgefallen, dass ich fehlte.

Es war aber nicht so, dass unsere Eltern uns keine Grenzen gesetzt hätten. Einen Hund etwa wollte unser Vater partout nicht erlauben. Und das, obwohl meine ältere Schwester und ich uns sehnlichst einen gewünscht hätten. Mein Vater vertröstete uns immer wieder damit, dass es nicht infrage komme, solange Astrid, unsere jüngste Schwester, noch nicht in die Schule gehe. Der Grund erschloss sich mir nie.

Als Astrid endlich eingeschult war, brachte unsere ältere Schwester eines Tages einen Welpen nach Hause. Ich war begeistert – ganz im Gegensatz zu meinem Vater. Meine Schwester musste den kleinen Hund wieder zurückgeben. Ich fand dies dermassen ungerecht, dass ich zu protestieren begann. Tagelang sprach ich kein Wort mehr mit meinem Vater. Stattdessen kaufte ich Hundefutter und verteilte es demonstrativ im ganzen Haus. Auch dies wird Sandwichkindern nachgesagt: dass sie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hätten. Es stimmt. Meine Protestaktion blieb dennoch erfolglos.

Meine Schwester führte Buch, ich gab das Geld aus

Meine drei Geschwister und ich waren bereits als Kinder sehr unterschiedlich. Jedes fand eine Rolle, in der es sich von den anderen abheben konnte. Meine ältere Schwester war die Vernünftige, sie war strebsam, ordentlich und pflichtbewusst. Ich war das einzige Kind, das die Matura absolvierte, und versuchte mich – wenn auch nur mit mittelmässigem Erfolg – in der Rolle des Intellektuellen. Mein jüngerer Bruder gab den jovialen Kumpel; er engagierte sich im Vereinsleben unseres Dorfes und war nie um einen Spruch verlegen. Unsere jüngste Schwester war die Sportlerin: Sie war eine begabte Handballerin und wurde später sogar Weltmeisterin im Kitesurfen.

Unsere Eltern haben unsere Individualität und unsere verschiedenen Interessen stets akzeptiert und unsere Talente nie gegeneinander ausgespielt. «Nimm dir mal ein Beispiel an . . .», das hörte man bei uns nicht.

Dabei hätte es durchaus Dinge gegeben, die ich bei meiner älteren Schwester hätte abschauen können. Ich war zum Beispiel nie sehr diszipliniert. Wenn wir jeweils sonntags unser Sackgeld erhielten, spielte sich das immergleiche Szenario ab: Ich ging schnurstracks zum Dorfkiosk und kaufte Süssigkeiten, während meine grosse Schwester ihr Sackgeld in eine Schachtel legte und fein säuberlich Buch über ihre Finanzen führte. Auch erledigte sie ihre Hausaufgaben immer gewissenhaft gleich nach der Schule. Bei mir geschah dies oft erst im letzten Moment, manchmal auch erst am Morgen, kurz bevor ich mich auf den Schulweg machte.

Am Sonntagmorgen aber waren wir alle gleich: Dann nämlich durften wir ins Bett unserer Eltern schlüpfen. Ich lag jeweils auf Mutters Seite, meine ältere Schwester auf Vaters Seite. Das ist der Vorteil der älteren Geschwister: Man kann sich den Platz aussuchen, schliesslich war man zuerst da. Das Ritual, wortwörtlich unter einer Decke zu stecken, gab uns Nestwärme und das Gefühl, eine Einheit zu sein.

Das waren wir auch – ausser, wenn es um die Sommerferien ging. Da teilte sich unsere Familie in zwei Lager: Meine Mutter, meine jüngere Schwester und ich bildeten die «Fraktion Meer». Mein Vater, mein Bruder und meine ältere Schwester gehörten zur «Fraktion Berge». Für sie gab es nichts Schöneres, als in den Bergen herumzukraxeln. Meist verbrachten wir die Sommerferien deshalb beim Wandern in den Alpen. Unser Vater bemühte sich, uns die Namen der Berge und Alpenpflanzen beizubringen, und meine grosse Schwester saugte das Wissen auf wie ein Schwamm. Bald konnte sie selbst alle Blumen benennen, für mich hingegen waren sie entweder blau, rot oder gelb.

Im Sommer 1980 aber verbrachten wir die Ferien ausnahmsweise am Meer. Es war der innigste Wunsch meiner Mutter. Wir nahmen in Zürich unser Schlafwagenabteil mit sechs Couchettes in Beschlag und kamen am Morgen im Hotel an der adriatischen Küste an. Ich konnte es kaum fassen, endlich das Meer zu sehen. Es ist eine der schönsten Erinnerungen meiner Kindheit.

Sandwichkind zu sein, ist besser als sein Ruf

Meine Geschwister und ich haben uns lange ein Zimmer geteilt. Was heute für viele Kinder undenkbar wäre, war ein wichtiger Pfeiler unserer Geschwisterbeziehung. Wir liebten es, bis spät in die Nacht miteinander zu schwatzen und heimlich unter der Bettdecke Radio zu hören. Insbesondere die Sendung «Sex nach neun» auf Radio Z hatte es uns angetan. Wir fanden es wahnsinnig aufregend, zu lauschen, wie Menschen offen über Sex sprachen. Es hatte den Reiz des Verbotenen. Unsere Eltern wussten nichts davon. Mutter hatte uns bereits untersagt, das Jugendmagazin «Bravo» zu kaufen – die Aufklärungsseiten von Doktor Sommer behagten ihr gar nicht. Wir nahmen also an, dass ihr auch diese Radiosendung unangemessen erschien.

Überhaupt war es mit drei Geschwistern nie langweilig, man war nie allein, und es war immer jemand zum Spielen da. Wir stellten öfter gemeinsam Unfug an, wobei die Strafe dann meist nur einen von uns vieren traf. Im schlimmsten Fall gab es zum Abendessen nichts als Brot und Wasser. Also schmuggelten wir das Essen unter dem Tisch durch und gaben es jener Person, die den Kopf für uns alle hinhalten musste.

Wenn über die mittleren Kinder gesprochen wird, schwingt oft ein negativer, vielleicht sogar etwas mitleidiger Unterton mit. Der Begriff Sandwichkind ist Ausdruck davon. Dabei spricht kaum jemand über die Vorteile, die nur einem mittleren Kind zukommen. So half mir meine ältere Schwester bei den Hausaufgaben und büffelte Französisch mit mir, während ich mit meinen jüngeren Geschwistern noch herumbalgen und sie zu Streichen überreden konnte. Von meiner älteren Schwester konnte ich lernen, den Jüngeren durfte ich etwas beibringen.

Zugegeben: Ich bin nicht «nur» ein mittleres Kind

Es wäre aber falsch, meine Prägung der Familie darauf zu reduzieren, dass ich ein Sandwichkind bin. Denn ich muss zugeben, dass ich mehr bin als ein mittleres Kind. Ich bin auch ein ältester Sohn. Und als solcher wurde ich in eine Generation geboren, in der diesem Umstand ein gewisser Stellenwert zukam. Die Gleichberechtigung der Geschlechter war zur Zeit meiner Kindheit noch ein entfernter Gedanke. Das Frauenstimmrecht wurde erst eingeführt, als ich schon fast im Kindergarten war.

Meine Geburt soll – im Gegensatz zu jener meiner Schwester – feuchtfröhlich gefeiert worden sein. Mein Vater und seine Turnerfreunde hielten, so erzählte man sich später, in ihrer Stammbeiz ein regelrechtes Saufgelage ab, um den neuen «Stammhalter» zu feiern. Der Boden des Sälis soll am nächsten Morgen komplett mit Bier geflutet gewesen sein.

Dass den Söhnen damals mehr Wert zugeschrieben wurde, zeigte sich auch ganz konkret: Mein Vater schenkte meiner Mutter zur Geburt eines Sohnes jeweils ein Schmuckstück. Zur Geburt meiner Schwestern gab es Blumen.

Unsere Eltern lebten ein klassisches Rollenbild: Meine Mutter war Hausfrau, mein Vater der Ernährer. Dieses Selbstverständnis färbte auch auf uns Kinder ab: Wir Brüder legten in unserer Jugend ein gewisses «Paschaverhalten» an den Tag und halfen im Haushalt weniger mit als unsere Schwestern. Noch heute ertappe ich mich dabei, an einem Familienfest zu glauben, wahnsinnig viel in der Küche geholfen zu haben. Tatsächlich aber haben die weiblichen Familienmitglieder den grössten Teil der Arbeit erledigt.

Kürzlich war ich mit meiner älteren Schwester in den Bergen wandern. Sie entdeckte ständig Blumen, die sie natürlich alle benennen konnte. Da sie ihr Handy nicht bei sich hatte, sollte ich diese und jene Blume für sie fotografieren. Ich war versucht, gelangweilt die Augen zu verdrehen, dann musste ich schmunzeln. Wie wenig sich doch verändert hat.

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