Viele Paare feiern heute lieber ein «Fest der Liebe»: eine Hochzeit ohne Gott und ohne Staat. Warum wir nicht aufhören, zu heiraten – und warum die traditionelle Ehe trotzdem attraktiv bleibt.

Dina schreitet an der Seite ihres Vaters zwischen den Bäumen eines Burggartens ihrem Bräutigam entgegen. Sie trägt ein Kleid in Weiss, in den Händen hält sie einen Blumenstrauss. Seit acht Jahren sind Fabio, 39, und Dina, 31, ein Paar. Ein Jahr zuvor fragte er Dina, ob sie seine Frau werden wolle. Der Heiratsantrag war damals nur noch eine Formsache: Das Hochzeitsdatum stand bereits fest, die Location war längst gebucht.

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Und nun, an einem heissen Sommertag im August, ist es so weit: Vor über hundert Gästen verspricht Fabio seiner Dina, sie bis zum Schluss ihres Lebens zu lieben. Dina schliesst ihr Gelübde mit dem Satz: «Ich freue mich auf das ganze Leben mit dir.» Dina und Fabio küssen sich, die Gäste jubeln. Sie werden mit dem Brautpaar noch bis in alle Nacht feiern. So erzählt es das Ehepaar ein paar Wochen später via Skype. Doch Dina und Fabio waren nie auf dem Standesamt. Vor dem Gesetz sind sie nicht verheiratet.

Vor nicht allzu langer Zeit gingen jene, die das Leben miteinander verbringen wollten, zuerst aufs Standesamt und liessen sich dann kirchlich trauen. In den vergangenen Jahren wählten immer mehr Brautpaare eine freie Zeremonie, oder sie verzichteten ganz darauf. Was aber stets gegolten hat: Wer heiratet, geht mindestens aufs Standesamt. Inzwischen braucht es nicht einmal mehr das: Hochzeit feiern kann man auch ohne Staat, ohne Unterschrift und ohne rechtliche Bindung.

Davon sind Paare wie Dina und Fabio überzeugt. Und sie sind kein Einzelfall. Es gibt immer mehr Paare, die es ihnen gleichtun. Manche bezeichnen das Fest trotzdem als Hochzeit, andere sprechen lieber von einem «Fest der Liebe». Wie viele Paare inzwischen in einer Ehe ohne Trauschein leben, ist nicht bekannt. Sie treten in keiner Statistik auf. Vor dem Gesetz leben sie weiterhin im Konkubinat.

Ist diese neue Art der Ehe Ausdruck einer Generation, die sich nicht mehr fest binden möchte? Und wenn wir doch alle erdenklichen Möglichkeiten haben: Warum sollten wir uns überhaupt noch rechtlich binden?

Freie Trauungen boomen

Tina Uhlmann beobachtet den Trend schon seit einiger Zeit. Als freie Traurednerin verheiratet sie normalerweise Paare, die zwar keine kirchliche Hochzeit wollen, aber sich dennoch eine persönliche Zeremonie wünschen. Unter der Woche arbeitet sie im Qualitätsmanagement einer Firma, die Hochzeiten sind ihr zweites Standbein. Und dieses ist lukrativ: Sich von Uhlmann trauen zu lassen, kostet 2150 Franken. Im Preis inbegriffen sind ein Kennenlern-, ein Vorbereitungsgespräch, eine persönliche Rede sowie die Trauung am grossen Tag.

Traurednerin wurde Tina Uhlmann eher zufällig: Vor sieben Jahren war sie selbst an einer freien Trauung zu Gast – und sie war davon so inspiriert, dass sie kurzerhand entschied, einen entsprechenden Kurs zu absolvieren und eine eigene Website als Traurednerin aufzuschalten. Zunächst traute sie ein Paar aus ihrem Bekanntenkreis, «und dann kamen laufend weitere Anfragen rein». Das Geschäft wurde zum Selbstläufer.

«Ich habe genau zur richtigen Zeit damit angefangen», sagt sie, «es folgte ein regelrechter Boom.» Uhlmann hat den Beginn einer neuen Hochzeitsära erwischt: eine Zeit, in der sich immer mehr Paare für eine trendige Outdoor-Location statt für eine kalte Kirche entscheiden und in der sie sich lieber von einer charismatischen Rednerin trauen lassen als von einem Priester im Talar. Bis heute hat Uhlmann über achtzig Paare getraut.

Doch vor drei Jahren erhielt sie eine Anfrage, die sie stutzen liess: Ein Paar wünschte sich ein «Fest der Liebe» – ohne Trauschein, ohne Standesamt. Sie sagte zu. Es sollte ihre erste Trauung dieser Art sein. «Es war eine riesige Feier, und das, obwohl das Paar ja ausdrücklich nicht ‹richtig› heiraten wollte», erinnert sie sich.

Uhlmann wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass es der Beginn einer neuen Kundschaft sein würde. «Heute sind schon etwa ein Viertel meiner Kunden Paare, die nicht zivil geheiratet haben. Und es werden immer mehr.»

Solche Nicht-Ehepaare lassen sich laut Uhlmann in zwei verschiedene Kategorien einteilen: Da sind jene, die den Begriff «Hochzeit» und alle Rituale, die damit verbunden sind, meiden. Es sind die wenigsten. «Die allermeisten feiern dann doch ein sehr traditionelles Fest, das man kaum von einer gewöhnlichen Hochzeit unterscheiden kann.» Uhlmann spielt damit auf die traditionellen Rituale an: ein weisses Kleid, Eheringe, Gelübde und Hochzeitstanz. Auch die Eheversprechen würden sich kaum von anderen Paaren abheben.

Etwas aber fällt der freien Traurednerin bei solchen Paaren auf: «Das Fest ist oftmals noch pompöser als bei jenen, die auch zivil geheiratet haben.» Sie kann nur mutmassen, weshalb das so ist: «Vielleicht will man eben doch etwas kompensieren und den Leuten zeigen: Es ist uns ernst.»

Tina Uhlmann profitiert zwar vom Boom, sieht die Entwicklung aber selber kritisch. «Für mich persönlich gehört die zivile Hochzeit schon dazu, um verheiratet zu sein», sagt sie. «Zur Ehe gehören Pflichten und Rechte und damit auch die rechtliche Bindung.» Als freie Traurednerin stehe sie Paaren, die nicht zivil heiraten wollen, dennoch neutral gegenüber: «Es ist nicht mein Job, darüber zu urteilen.»

Die meisten nennen Steuern als Grund

Dina und Fabio sagen, für sie habe es schlicht keinen Sinn ergeben, zivil zu heiraten. «Wofür sollten wir mehr Steuern bezahlen, wenn sich für uns ja sonst nichts ändern würde und wir uns auch anderweitig absichern können?», sagt Fabio. Bei der Steuererklärung wird er weiterhin «ledig» ankreuzen. «Für mich ist Dina trotzdem meine Frau.»

Mit ihrer Haltung sind sie nicht alleine. Wenn die Traurednerin Tina Uhlmann jene Paare fragt, weshalb sie sich eine Trauung ohne Standesamt wünschen, geben fast alle die Steuern als Grund an. Manchmal habe der Entscheid auch andere Gründe: Es komme vor, dass sich Paare schon lange auf ein spezifisches Hochzeitsdatum fixiert hätten, zum Beispiel den 24. 4. 24.

Zwar schliesst es sich nicht aus, vor dem grossen Fest doch noch zivil zu heiraten. Doch Ulmann sagt: «Nur weil die Paare ihre Hochzeit an einem bestimmten Tag feiern wollen, bedeutet das nicht, dass eine zivile Trauung vorher auch in ihr Leben passt», erklärt Tina Uhlmann. Etwa, «weil sie an einem Ort mit hohem Steuersatz leben oder weil sie noch keine Kinder haben und es für sie keine Priorität hat, sich gegenseitig abzusichern».

Das Beispiel zeigt: Standesamt und Hochzeitsfest gehören für viele nicht mehr automatisch zusammen, sie haben sich verselbständigt.

Fast nie hört die freie Traurednerin hingegen ideologische Gründe, aufs Standesamt zu verzichten. «Die meisten würden gerne heiraten und hätten nichts gegen die Ehe an sich», sagt Uhlmann.

«‹Für immer› finde ich schwierig»

So war es auch bei Mirjam und Severin. Eigentlich. «Ich wusste immer, dass ich einmal heiraten will», erzählt Mirjam. «Aber es war mir nie wichtig, dass es auf einem Papier steht.» Für sie und Severin sei immer klar gewesen: «Wir heiraten für uns und nicht für jemand anderes.»

Sie waren die Ersten, die sich von Tina Uhlmann ohne Trauschein trauen liessen. Die beiden feierten ein «Liebesfest» auf dem Bio-Bauernhof von Mirjams Eltern. Ein Festival mit Food-Trucks, Musik und vielen Lichtern.

Severin und Mirjam sind beide berufstätig und wohnen in der Stadt Zürich. Auch sie sagen: Für sie hätte es sich steuertechnisch nicht gelohnt, rechtlich verheiratet zu sein. Doch Mirjam nennt noch einen anderen Grund, warum sie keinen Trauschein wollte: «Ich habe Mühe mit dem Besitzgedanken, jemandem zu gehören», sagt sie.

In traditionellen Ehegelübden versprechen sich Brautpaare, sich zu lieben, bis der Tod sie scheidet. «Dieses ‹für immer› zu versprechen, finde ich schwierig», sagt Mirjam. «Natürlich wäre das schön. Aber wer weiss denn das schon?» Das Paar hatte sich romantische Trauversprechen vor den Gästen vorgelesen. «Aber wir haben uns bewusst versprochen, füreinander da zu sein und so lange zusammen zu sein, wie es für beide stimmt.»

Und dann sagt Mirjam etwas, das überrascht: «Es war für uns nie ganz ausgeschlossen, später doch noch aufs Standesamt zu gehen.» Sie machten es davon abhängig, ob es dereinst mit einem Kind klappen sollte. Sich gegenseitig abzusichern, könnte dann nämlich wichtiger werden als die Steuern, die sie mehr bezahlen würden.

Die Ehe ohne Trauschein, wie sie Mirjam und Severin gewählt haben, klingt neu. Rechtlich gesehen, leben sie im Konkubinat. Das ist vor allem für Doppelverdiener attraktiv: Sie entgehen der sogenannten Heiratsstrafe. Das heisst, ihre Einkommen werden nicht zusammengezählt; sie bezahlen also weniger Steuern als Ehepaare. Nach der Pensionierung erhalten sie eine individuelle AHV-Rente; das Paar bekommt also mehr Geld, als wenn es in einer Ehe leben würde.

Wann die Ehe finanziell attraktiv ist

Marc Raschle arbeitet als Finanzplaner bei der Vermögens-Planungs-Zentrum AG (VPZ) und als Autor. Er berät immer wieder Paare wie Mirjam und Severin, die sich zwar gegenseitig absichern wollen, aber sich schwer damit tun, zu heiraten.

In den vergangenen Jahren hätten sich solche Anfragen gehäuft. Wenn Konkubinatspaare zu ihm kämen, höre er oft: «Wir würden zwar gerne heiraten, aber die Steuern hindern uns daran.» Darauf entgegnet Raschle: «Die Ehe finanziell auf höhere Steuern zu reduzieren, greift zu kurz.»

Bei überzeugten Konkubinatspaaren fällt auch gerne der Satz: Alles, was die Ehe regelt, kann man auch vertraglich regeln. «Das stimmt so nicht», sagt Marc Raschle. Was also ändert sich tatsächlich, wenn man heiratet?

Die finanziellen Nachteile sind weitläufig bekannt: Wer heiratet, wird in der Schweiz gemeinsam besteuert. Das führt bei Doppelverdienern zu einer höheren Steuerprogression. Im Alter wird dann auch noch die AHV-Rente geteilt: Ein verheiratetes Paar hat höchstens eineinhalb Renten zugute, nicht verheiratete zwei individuelle.

«Das klingt erst einmal ziemlich negativ», sagt Raschle. «Die geteilte Rente bedeutet aber auch: Wenn ein Ehepartner für eine gewisse Zeit nicht arbeitet, dann deckt der AHV-Beitrag der berufstätigen Person die Vorsorge für beide ab.» Davon profitieren jene Ehepartner, die zum Beispiel die Kinderbetreuung für längere Zeit übernehmen, eine vollzeitliche Weiterbildung antreten oder sich früher pensionieren lassen. Ihnen droht keine Lücke in der AHV. «Im Konkubinat kann man das nicht abfedern», sagt Raschle.

«Steuern sind ein emotionales Thema», sagt Marc Raschle. Doch seinen Kunden sei meistens nicht bewusst, welche Mehrsteuern anfielen, wenn man nicht verheiratet sei. «Wenn zum Beispiel jemand seinem Partner einen grösseren Geldbetrag überweist, dann fällt darauf eine Schenkungssteuer an, die je nach Kanton unterschiedlich hoch ist», erklärt Raschle. Das gilt für Eheleute nicht.

Erbschaften können teuer enden

Gerade junge Paare machen sich laut Raschle nur ungern über das Worst-Case-Szenario Gedanken: Was ist, wenn einer von beiden stirbt? «Genau das ist aber ein sehr entscheidender Punkt», sagt der Finanzplaner. Zwar kann man den Konkubinatspartner im Testament absichern, allerdings fällt darauf in fast allen Kantonen eine Erbschaftssteuer an, «und die kann ziemlich hoch sein».

Im Kanton Zürich zum Beispiel sind begünstigte Konkubinatspartner bis zu einem Betrag von 50 000 Franken steuerbefreit, aber nur dann, wenn sie mindestens fünf Jahre im selben Haushalt gelebt haben. Davon sollten insbesondere jene Personen profitieren, die wenig Ersparnisse haben. Für die Erbschaft, die über diesen Betrag hinausgeht, fällt ein Steuersatz von bis zu 36 Prozent an. Doch nicht alle Regionen kennen einen solchen Freibetrag. In der Stadt Genf zum Beispiel wird die komplette Erbschaft für den Konkubinatspartner besteuert, und zwar zu fast 50 Prozent.

Ehepartner hingegen sind in fast allen Kantonen von einer Erbschaftssteuer befreit. «Man könnte die höheren Steuern, wenn ich verheiratet bin, auch als eine Art Prämie sehen, mit der ich die Erbschaftssteuer später einspare», sagt Marc Raschle, «oder auch als Prämie für eine bessere Absicherung in der Vorsorge.» Im Falle von Invalidität etwa könne das plötzlich früher zum Thema werden.

Mit der letzten Erbrechtsrevision wurde immerhin ein wichtiger Nachteil für Konkubinatspaare behoben: Es gibt keinen Pflichtteil für die Eltern mehr. Wer keine Kinder hat, kann also sein ganzes Vermögen dem Partner vererben. «Das gilt aber nur, wenn man ein Testament gemacht hat. Sonst geht alles automatisch an die Eltern, wenn sie noch leben», sagt Raschle.

Sobald Kinder im Spiel sind, wird es komplizierter: Ihnen kommt ein Pflichtteil von 50 Prozent zu. «Ich kann also einer Konkubinatspartnerin mit einem Testament maximal die andere Hälfte des Vermögens vererben», erklärt Raschle. Das ist vor allem dann entscheidend, wenn das Paar zusammen ein Haus oder eine Wohnung besitzt. «Im schlimmsten Fall kann sich der hinterbliebene Partner das nicht mehr leisten, wenn die Kinder ausbezahlt werden müssen», gibt der Finanzplaner zu bedenken.

Was ohne Ehe möglich ist

Was also muss ein Paar unbedingt regeln, wenn es nicht heiraten, aber trotzdem so nahe wie möglich an den Ehe-Zustand gelangen will?

Marc Raschle rät seinen Kunden zu folgenden Verträgen: einem Testament, um den Partner zu begünstigen; einem Konkubinatsvertrag, der regelt, wie die Kontoführung im Haushalt gestaltet wird, welches Inventar im Falle einer Trennung wem zusteht und wer in der Wohnung bleiben darf; einer Vollmacht für den Haushalt und einer Schweigepflichtsentbindung für medizinische Notfälle. Auch könne man die Konkubinatspartnerin im Todesfall für die eigene Säule 3a sowie die Pensionskasse begünstigen. «Dort hat man nach fünf Jahren Beziehung einen Anspruch auf die Hinterlassenenrente, aber man muss es selber regeln», sagt Raschle.

Die Witwenrenten fallen im Konkubinat komplett weg. «Man kann zwar bei Versicherungen eine Todesfallrente einrichten, die eine Witwenrente imitiert», erklärt Raschle. «Aber das kostet wiederum etwas.» Er hatte auch schon den Fall, dass ein Mann seine Partnerin absichern wollte, solange sie die Care-Arbeit für die Kinder übernimmt. «Auch dafür gibt es Wertschriftenlösungen und Versicherungen.»

Marc Raschle betont hingegen, dass auch die Ehe nicht alles regelt. Er empfiehlt allen Paaren – auch den verheirateten –, einen Vorsorgeauftrag für den Fall, dass jemand urteilsunfähig wird, zu verfassen und ein Testament: «Das kann man ganz einfach selber von Hand schreiben. Man muss es auch nicht unbedingt notariell beglaubigen lassen.»

Der Finanzplaner empfiehlt Paaren, die mit der Heirat hadern, eine Pro-Contra-Liste zu erstellen und nüchtern zu entscheiden. «Viele Kunden sind letztlich überrascht, dass der steuerliche Unterschied doch nicht so gross ist, um die Vorteile, die eine Ehe mit sich bringt, aufzuheben», sagt Marc Raschle. «Tatsächlich entscheiden sich am Ende etwa 70 Prozent dieser Kunden doch zu einer Heirat – weil die Ehe unter dem Strich eben gar nicht so unattraktiv ist.»

«Wir hatten die alten Traditionen bewusst abgestreift»

Ob mit oder ohne Standesamt: Hochzeitsfeiern verschwinden nicht, im Gegenteil. Sie werden immer grösser. Und das, obwohl unsere Gesellschaft so individualistisch wie noch nie ist. Wie kommt das?

Pasqualina Perrig-Chiello ist emeritierte Professorin für Entwicklungspsychologie der Universität Bern und Psychotherapeutin. In ihrer Arbeit hat sie sich intensiv mit Beziehungen zwischen den Generationen auseinandergesetzt. Sie beobachtet den gesellschaftlichen Wandel der Ehe schon seit Jahren. «Die Heirat hat schon immer die gesellschaftlichen Realitäten und die religiösen Vorstellungen widergespiegelt», sagt sie.

«Im Grunde ist die Ehe in jeder Epoche eine Zweckgemeinschaft gewesen mit dem Ziel, eine Familie zu gründen.» Aus Liebe zu heiraten, war zwar wünschenswert, aber keineswegs vorausgesetzt.

In den 1970er Jahren hat sich etwas Grundlegendes geändert: Die gesellschaftlichen Normen, wen und wie man lieben sollte, wurden aufgebrochen. Jeder durfte, ja sollte nun sein eigenes Glück suchen, und die Möglichkeiten, es zu finden, waren plötzlich zahlreich. Doch die vollständige Befreiung vom Zwang, zu heiraten, dauerte noch eine ganze Weile: Erst ab 1995 war es auch im letzten Kanton, dem Wallis, erlaubt, im Konkubinat zu leben. «Diese Zeit war ein Befreiungsschlag», erklärt Perrig-Chiello – sowohl was viele gesellschaftliche Zwänge als auch was kirchliche Rituale angehe. Sie erinnert sich: «Unsere Generation hatte bewusst die alten Traditionen wie Kniefall oder Verlobungen abgestreift und die traditionelle Ehe und Familie infrage gestellt.»

Diese Rituale kehren heute nicht nur zurück, längst haben wir uns auch neue aus dem angelsächsischen Raum zu eigen gemacht: den Verlobungsring mit Diamant beispielsweise. Er geht auf eine amerikanische Marketingkampagne von 1947 zurück, die versprach: «Diamonds are forever» – Diamanten sind für immer. Fortan wurden die Edelsteine zum Symbol für die lebenslange Liebe zweier Menschen. Ebenso, dass die Braut von ihrem Vater zum Altar geführt wird, fand mutmasslich durch Hollywoodfilme den Weg zu uns. Zuvor war es üblich, dass das Brautpaar gemeinsam einzog.

«Wir sehen eine Retraditionalisierung, wenn es um Hochzeiten geht», sagt Pasqualina Perrig-Chiello. Die Leute holen sich alte Bräuche wieder zurück und nehmen neue dazu. «Das ist wohl auch eine Gegenreaktion auf die Babyboomer, die mit vielem davon gebrochen haben.»

Wir sehnen uns nach Verbindlichkeit

Warum aber haben wir selbst in Zeiten, in denen uns eigentlich alle Möglichkeiten offenstehen, immer noch den Drang, zu heiraten? Die Psychologin Perrig-Chiello sieht dafür mehrere Gründe: «Einerseits wollen wir unsere Liebe und unsere Beziehungsform gerne öffentlich zeigen. Wir wollen demonstrieren: Wir gehören zusammen. Jeder soll wissen, dass wir uns gernhaben.»

Andererseits fördere gerade die zunehmende Unverbindlichkeit in der Gesellschaft den Wunsch nach etwas, das bleibt. «Die Menschen haben eine Sehnsucht nach Dauerhaftigkeit, nach Liebe und Fürsorge», sagt Perrig-Chiello. Das stelle sie auch in der Praxis fest. «Gerade in schwierigen Zeiten, wenn nichts mehr sicher ist, sehnen wir uns nach Verbindlichkeit.» Diverse Studien – etwa die Shell-Jugendstudie in Deutschland – legen nahe, dass sich die Mehrheit der jungen Menschen Treue und eine dauernde Beziehung wünscht.

Gleichzeitig sind Frauen heute so gut ausgebildet wie nie. Sie sind nicht mehr auf einen Partner angewiesen, der das Geld nach Hause bringt. Dass Paare heute fast nur noch aus Liebe heiraten, sei eigentlich eine erfreuliche gesellschaftliche Errungenschaft, sagt Pasqualina Perrig-Chiello. Noch nie durften wir unser Leben individueller gestalten.

«Die Kehrseite aber ist: Wenn die Liebe nicht mehr da ist, dann gibt es keinen Grund, in der Ehe auszuharren – dann trennt man sich eben wieder.» Die Scheidungsrate in der Schweiz lag 2022 bei 39,6 Prozent. «Man kann heute zweimal heiraten oder auch dreimal oder gar nicht. Alles ist möglich.»

Hochzeit als konsumistischer Akt

Was sich auch geändert hat: Die Hochzeiten sind heute so pompös wie kaum zuvor. Der Verband unabhängiger Hochzeitsplaner gibt an, dass Schweizerinnen und Schweizer im Schnitt 30 000 bis 40 000 Franken für ihr Fest ausgeben. «Heiraten ist zu einem konsumistischen Akt geworden», sagt Pasqualina Perrig-Chiello. «Für mich, die die damalige Befreiung von all diesen Zwängen mitgetragen hat, ist das schwer nachvollziehbar.»

Die traditionelle Hochzeit ist nicht nur zurückgekommen, sie wurde auch zu einem Geschäft. Das hat auch mit den sozialen Netzwerken zu tun: Noch nie war es so einfach, Einblick in so viele verschiedene Leben zu erhalten. Hat man früher das eigene Fest höchstens im Bekanntenkreis verglichen, wird man heute mit professionellen Bildern von perfekt inszenierten Hochzeiten auf Instagram geflutet.

«Ich bin überzeugt, dass diese pompösen Feiern nicht zuletzt der Selbstdarstellung dienen», sagt Perrig-Chiello. «Die Social Media fördern die Kommerzialisierung der Hochzeit und tragen zu deren Retraditionalisierung bei.» Wer so heiratet, richtet sein Fest also nicht nur für die Gäste aus, sondern auch – und vielleicht noch mehr – für die digitale Gefolgschaft, welche die perfekten Bilder von einem perfekten Fest später im Internet bestaunt.

Ein Phänomen des Zeitgeistes, nicht der Generation

Paare, die nicht aufs Standesamt gehen, sind also bereit, Zehntausende Franken für ein grosses Hochzeitsfest auszugeben, aber verzichten aufs Standesamt, um die höheren Steuern zu umgehen. Wie passt das zusammen? «Ich sehe darin eine Art Kompromiss», sagt Pasqualina Perrig-Chiello. «Man muss nichts mehr, will aber dann doch nicht auf alles verzichten.»

Die freie Traurednerin Tina Uhlmann kommt zu einem ähnlichen Schluss. «Ehe ist in vielen Kreisen eben nicht mehr angesagt. Aber ein Fest finden die meisten Leute dann doch ganz cool.»

Ein Fest mit Pomp also, aber keine rechtliche Verpflichtung. Ist das Phänomen der Ehe ohne Standesamt auch Ausdruck einer Generation, die sich nicht festlegen will? Ja und nein, sagt die emeritierte Psychologieprofessorin Pasqualina Perrig-Chiello: «Natürlich passt diese Entwicklung in unsere heutige Gesellschaft. Aber das Phänomen, immer unverbindlicher zu sein, ist nicht eine Frage der Generation Y oder Z, sondern des Zeitgeistes generell.»

Das zeige sich etwa in der zunehmenden Scheidungsrate im Alter, der sogenannten Grey Divorce. «Es ist nicht so, dass sich die Alten verpflichtet fühlen bis zum bitteren Ende», sagt Perrig-Chiello. «Bei den Jungen wird es bloss sichtbarer, weil sie noch mehr Möglichkeiten haben, etwas zu ändern.»

Frühere Generationen hätten auch in schlechten Ehen ausgeharrt, sagt die Psychotherapeutin: «Die Frauen waren nicht abgesichert. Heute sind sie besser gebildet und finanziell unabhängiger denn je, und sie bekommen so wenige Kinder wie nie. Das führt zu neuen Lebensmodellen.» Die Ehe ohne Trauschein sei eine Folge dieser Diversität.

Viele landen doch auf dem Standesamt

Ob die Ehen ohne Standesamt von Dauer sind oder ob sie sogar länger halten als solche, die auch vor dem Staat geschlossen wurden, kann niemand sagen. Dafür ist einerseits das Phänomen noch zu jung, und andererseits gibt es keine Daten dazu. Aber die freie Traurednerin Tina Uhlmann hat ihre Zweifel daran, dass Ehen ohne Standesamt länger halten.

Nicht etwa, weil sich die Paare in der Zwischenzeit wieder getrennt hätten, im Gegenteil: Bei den meisten ist es nicht bei dieser Hochzeit geblieben. «Viele dieser Paare haben inzwischen doch noch standesamtlich geheiratet», sagt Uhlmann. «Manche von ihnen sagten bereits damals, dass sie eine standesamtliche Trauung nicht ausschliessen, wenn sie später Kinder bekommen.»

Die Psychologin Perrig-Chiello findet das verständlich. «Es ist eine rationale Überlegung, sobald Kinder da sind. Wer verheiratet ist, ist nun einmal besser finanziell und sozial abgesichert.» Und die gegenseitigen Pflichten sind heute für immer mehr Menschen komplett losgelöst vom romantischen Fest, bei dem man die gegenseitige Liebe zelebriert. Wer das Leben feiert, will lieber nicht schon an den Tod denken.

«Ein Fest braucht mehr Verbindlichkeit»

Dina und Fabio, die diesen Sommer geheiratet haben, schliessen nicht ganz aus, vielleicht irgendwann doch noch aufs Standesamt zu gehen. «Wenn es eine Gesetzesänderung gibt oder wenn wir irgendwann Kinder haben sollten, dann überlegen wir uns das noch einmal.» Heute sehen sie noch keinen Grund dazu.

Fabio betont aber: «Für mich war es nicht einfach ein ‹Fest der Liebe›, für mich war es unsere Hochzeit. Auch wenn die das auf der Steuerbehörde nicht so sehen.» Es fühle sich schon nicht ganz richtig an, bei Formularen «ledig» hinzuschreiben.

Vereinzelt hätten sie den Kommentar gehört, dass dies ja «keine richtige Hochzeit» sei und ihre Ehe folglich weniger verbindlich sei. Dieses Argument lassen die beiden nicht gelten. «Das, was wir gemacht haben, braucht viel mehr Verbindlichkeit, als einfach mit zwei Trauzeugen aufs Standesamt zu gehen», sagt Dina. «Wir haben vor all unseren Liebsten Ja zueinander gesagt. Würde man das tun, wenn es einem nicht wirklich ernst wäre?»

Mirjam und Severin, die ihr Liebesfest mit einem Festival auf dem Bauernhof feierten, sind inzwischen Eltern geworden. Vor eineinhalb Jahren gingen die beiden, die sich längst verheiratet fühlten, doch noch aufs Standesamt. «Das war irgendwann im April 2023. Das genaue Datum weiss ich nicht auswendig», sagt Mirjam und lacht. Ihr Sohn war damals vier Monate alt. «Es war schon sehr besonders, aber anders.» Sie hätten sich einen schönen Tag gemacht und grilliert. «Aber für mich ist das nicht unsere Hochzeit.»

Bevor sie sich entschieden, aufs Standesamt zu gehen, liessen sich auch Mirjam und Severin beraten. «Wir kamen zu dem Schluss, dass sich zwar vieles mit irgendwelchen Verträgen regeln liesse, aber es noch immer das Einfachste ist, zu heiraten. Trotz höheren Steuern.»

Das Paar ist nun seit eineinhalb Jahren auch vor dem Gesetz verheiratet. Es sei ihr keineswegs schwergefallen, vor dem Staat «Ja» zu sagen, sagt Mirjam. Es habe sich auch nicht wie eine Niederlage angefühlt, ihre bisherige Lebensform aufzugeben, im Gegenteil: «Für mich war es stimmig.»

Den Namen ihres Mannes hat Mirjam bis heute nicht angenommen. «Ich wollte mit der Heirat nicht meine Identität ablegen», erklärt sie. Hat sich etwas verändert? «Vielleicht ganz wenig», gibt Mirjam zu. «Es fühlt sich schon noch einmal offizieller an.»

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