Donnerstag, Dezember 26

Die Schweiz gewährt Roma zunehmend den S-Status, auch wenn sie weder Ukrainisch noch Russisch sprechen. Verlassen sie die Schweiz, bleiben ihre Wohnungen oft in schlechtem Zustand zurück. Das lässt die Akzeptanz der Schutzsuchenden bröckeln.

Der Krieg in der Ukraine zwingt noch immer Hunderttausende zur Flucht, unter ihnen auch Roma-Gruppen. Sie können in der Schweiz den Schutzstatus S beantragen. Wie das «St. Galler Tagblatt» kürzlich berichtete, erhalten in den Kantonen St. Gallen und Thurgau jedoch immer mehr Roma den Ausweis S, obwohl sie dazu nicht berechtigt sind. Sie stehen im Verdacht, das System auszunutzen. Auch andere Kantone beobachten inzwischen Ähnliches.

Keine anerkannte Minderheit

Im vergangenen Oktober lebten 66 143 Personen mit dem Schutzstatus S in der Schweiz. Damit erhalten Geflüchtete aus der Ukraine sofort Schutz, ohne ein reguläres Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Sie werden den Kantonen zugeteilt und in den Gemeinden untergebracht, finanziell unterstützt und medizinisch versorgt. Demgegenüber stehen schätzungsweise 50 000 bis 80 000 Roma und Romnja, also Männer und Frauen, die der ethnischen Gemeinschaft der Roma angehören und Romanes sprechen.

Die Roma werden in der Schweiz zwar toleriert und sind laut Bundesrat Teil der Gesellschaft, sind aber im Gegensatz zu Jenischen oder Sinti nicht als nationale Minderheit anerkannt. Ein entsprechendes Gesuch von zwei Schweizer Roma-Organisationen lehnte der Bundesrat 2018 ab, entgegen dem Europarat-Abkommen zum Schutz nationaler Minderheiten.

Nun scheinen einige Roma das 2022 aktivierte System des Schutzstatus S auszunutzen. Und dies nahezu in der ganzen Schweiz. Gaby Szöllösy, Generalsekretärin der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK), sagt auf Anfrage: «Die Roma mit Schutzstatus S sind fast schweizweit ein Thema.» Seit letztem Sommer würden zunehmend mehr Roma-Gruppen in der Schweiz den Status S erhalten, ohne ein ordentliches Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Dies, obwohl sie eigentlich in eine andere Asylkategorie fallen.

Ähnlich verhalte es sich im Kanton Graubünden, sagt Georg Carl, Leiter Asyl und Rückkehr beim Amt für Migration und Zivilrecht des Kantons Graubünden. Carl spricht von einem klaren Trend. Genaue Zahlen fehlen jedoch, da die ethnische Zugehörigkeit der Schutzsuchenden nicht einzeln erfasst wird. Er vermute jedoch, dass mindestens die Hälfte der rund 470 Personen mit Schutzstatus S, die dem Kanton Graubünden seit Juli zugewiesen worden seien, Roma seien. Denn obwohl sie bei der Einreise in die Schweiz ukrainische Pässe vorweisen oder die Ukraine als früheren Wohnort angeben würden, verständen viele von ihnen weder Ukrainisch noch Russisch. Dies werfe Fragen auf.

Im Kanton St. Gallen habe die Zahl der Roma-Familien bereits im April ihren Höhepunkt erreicht, sagt Claudia Nef, Geschäftsführerin des Vereins St. Galler Integrationsprojekte, der im Auftrag der 77 Gemeinden im Kanton St. Gallen die Integration und Unterbringung von Geflüchteten koordiniert. Davon seien 175 Roma, von denen etwa die Hälfte weder Ukrainisch noch Russisch spreche und nach eigenen Angaben zuvor in anderen Ländern gelebt habe, obwohl sie einen ukrainischen Pass besässen. «Die Frage ist, ob die Papiere in der Ukraine gekauft werden können», sagt Nef. Laut Gerüchten seien auffällig viele Pässe von der gleichen Behörde ausgestellt worden. Systematisch überprüft worden ist dies jedoch nicht.

Die Akzeptanz des Schutzstatus S bröckelt

Das gleiche Muster zeige sich im Kanton Thurgau, sagt Jürg Bruggmann, Präsident der Thurgauer Konferenz für öffentliche Sozialhilfe. Die Unterbringung der Roma-Familien gestalte sich im Kanton schwierig, sagt Bruggmann. Manche verschwänden plötzlich. Ein halbes Jahr später kämen sie zurück und würden wieder von der Gemeinde aufgenommen. So will es der Schutzstatus S. Nef bestätigt die Vorwürfe für den Kanton St. Gallen: «Vermieter lehnen es oft schon im Vorfeld ab, Roma-Familien unterzubringen, da sie die Wohnungen in schlechtem Zustand hinterlassen.»

Die Integration der Roma ist mancherorts eine Herausforderung. Viele Roma haben keine Schule besucht, verfügen über keine formale Ausbildung oder gehen keiner regelmässigen Beschäftigung nach. Da die meisten Familien zuvor in Gruppen gelebt hätten, sei es für sie oft schwierig, als Kernfamilie untergebracht zu werden, sagt Nef. Es fehle an Unterstützungsstrukturen. «Der hohe Anteil von Roma-Familien lässt die Akzeptanz des Schutzstatus S bröckeln.» Oft höre man, dass es sich nicht um Personen handle, die vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet seien.

Entspanntere Lage im Aargau und im Wallis

Im Kanton Luzern sind derzeit gemäss der Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen 47 Personen offiziell als Roma mit Schutzstatus S registriert. Man gehe aber davon aus, dass insgesamt 200 Personen ethnische Roma mit einem Schutzstatus S seien.

Deutlich entspannter ist die Lage in den Kantonen Aargau, Solothurn, Schwyz, Zürich sowie im Wallis und im Tessin. Nach Angaben der Kantone sind bisher keine Fälle von Roma mit ungerechtfertigtem Schutzstatus S bekannt, der Bund und andere Kantone hätten jedoch darüber informiert. Die Verantwortlichen schreiben zudem, dass die soziale Zugehörigkeit zu einer Gruppe innerhalb einer Staatsbürgerschaft nicht systematisch erfasst werde. Der Kanton Zürich und alle kontaktierten Stellen verweisen dazu auf das Staatssekretariat für Migration (SEM).

Schwierig zu überprüfen

Das SEM ist für die Identitätskontrolle der einreisenden Schutzsuchenden zuständig. Sie findet in den Asylzentren des Bundes statt. Laut Szöllösy hat die SODK das SEM bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die Dokumente zur Einreise sorgfältig geprüft werden müssen. Doch noch immer bestehen laut Georg Carl, Leiter Asyl und Rückkehr Graubünden, «Zweifel, ob die Voraussetzungen für den Schutzstatus S seriös genug geprüft werden oder ob einige Dokumente oder Angaben den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen».

Samuel Wyss vom SEM schreibt auf Anfrage: «Jedes Gesuch um S-Status wird im Einzelfall geprüft, auch die Echtheit der Reisepässe.» Bestünden in einem konkreten Einzelfall Hinweise, dass die Voraussetzungen für die Schutzgewährung in der Schweiz nicht erfüllt seien, zum Beispiel, weil es Zweifel an der Identität oder am Wohnsitz in der Ukraine bei Kriegsausbruch gebe, nehme das SEM zusätzliche Abklärungen vor. Gegebenenfalls werde der Schutzstatus S verweigert. Wie viele Roma tatsächlich unter den Schutzstatus S fallen, dazu kann Wyss keine Auskunft geben. Denn wie die einzelnen Kantone nehme auch das SEM «keine statistische Erfassung der Ethnie von schutzsuchenden Personen vor». Für Roma gälten dieselben Prüfkriterien wie für alle anderen schutzsuchenden Personen.

Jürg Bruggmann, der Präsident der Thurgauer Konferenz für öffentliche Sozialhilfe, resümiert: «Es ist ein schwieriges Thema, über das niemand gerne spricht.» Dabei gibt es offensichtlich Diskussionsbedarf. Denn: «Die Solidarität mit den Schutzbedürftigen in der Ukraine wird dadurch infrage gestellt.»

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