Freitag, November 15

Sportliche Brisanz ist im Boxen nicht mehr der ultimative Faktor fürs Matchmaking. Jake Paul alias «The Problem Child» kommt vor allem deshalb gegen Tyson zum Zug, weil der Influencer auf Instagram gut 27 Millionen Follower hat.

Früher ist er ausgerastet, wenn ihn jemand wegen seiner hohen Stimme oder der vielen Einträge im polizeilichen Strafregister hochnehmen wollte. Heute echauffiert sich Michael Gerard Tyson allenfalls noch, wenn man ihn für einen harmlosen Zeitgenossen hält. So wie jener Sportreporter einer englischen Tageszeitung, der ihn neulich, während eines Video-Interviews, viel netter als früher finden wollte – bis Mike Tyson ihm entschlossen in die Parade fuhr.

«Ich bin ein anständiger Mensch in dem Sinne, dass ich das Richtige zu tun versuche», stellte «Iron Mike» angesäuert fest. «Aber ein netter Mensch bin ich nicht. Wer immer den Eindruck hat, dass ich nett bin, wird enttäuscht werden.»

Die Geschichte seines Cannabiskonsums und seines einträglichen Handels mit Hanfprodukten, den er von Las Vegas aus betreibt, hat dem dreifachen Schwergewichtschampion im Profiboxen ein Stück weit den Ruf des bösesten Buben auf dem Planeten ruiniert. Weil die Episode suggeriert, dass Tyson die Dinge mit 58 Jahren viel gelassener angeht, auch aus Rücksicht auf seine vielköpfige Familie. Es entstand der Eindruck, dass Tyson geläutert und zur Ruhe gekommen sein könnte.

Doch in diesen Tagen ist wieder ein ganz anderes Bild von ihm gefragt. Fast zwanzig Jahre nach seiner Niederlage durch Aufgabe gegen Kevin McBride, die das vorläufige Karriereende markierte, will Tyson sich noch einmal als gnadenloser Kämpfer beweisen. Aber kann er das bei der anstehenden Versuchsanordnung überhaupt?

Denn im Ring einer Grossarena in Arlington, Texas, wird Tyson am Freitagabend Ortszeit kein prominenter Widersacher aus alten Tagen gegenüberstehen, sondern ein 31 Jahre jüngerer Schauspieler und Influencer, der bis jetzt vor allem auf Youtube für Furore gesorgt hat: Jake Paul alias «The Problem Child».

NETFLIX UNCUT: Mike Tyson Final Day Of Training Camp Before Jake Paul Fight

Das Streaming-Unternehmen Netflix wittert seine Chance

Paul hat neben all seinen Aktivitäten Boxen trainiert und immerhin zehn seiner elf Duelle im Cruisergewicht, dem zweithöchsten Limit, gewonnen. Die Bilanz ist jedoch mit Vorsicht zu geniessen: Die positive Serie kam gegen überwiegend namenlose Gegner zustande und sagt wenig über sein Potenzial aus.

Trotzdem fühlt sich der Quereinsteiger Paul berufen, einen der besten Schwergewichtler der Geschichte zu fordern – und seinen Followern (gut 27 Millionen auf Instagram) in gewohnter Unbescheidenheit einen vorzeitigen Sieg zu versprechen. «Ich schlage ihn k. o.», hatte Paul angekündigt, als er schon einmal Luft in der Kampfarena schnuppern durfte, während er Ehrengast an einem Football-Match der Dallas Cowboys war.

Später setzte er mit dem Angebot einer privaten Wette noch einen drauf: Falls Tyson nach vier Runden immer noch stehen sollte, wolle er ihm 5 Millionen Dollar extra zahlen. Andernfalls solle Tyson sich ein Tattoo mit dem Wortlaut «Ich liebe Jake Paul» stechen lassen. Tysons Antwort: «Da muss er mehr bieten.»

So albern, ja respektlos wie Paul hat sich noch kein Widersacher aufgeführt, seit Tyson vor fast vierzig Jahren Profiboxer wurde. Deshalb fragen sich traditionsbewusste Box-Fans, warum der berühmteste lebende Ex-Champion sich diese 57. Schicht (bis dato 50 Siege und 6 Niederlagen) überhaupt antut – und welche Erkenntnis dabei herauskommen soll. Für viele von ihnen ist dieses schräge Duell «eine Farce», genauso wie für den erfolgreichen britischen Boxpromoter Eddie Hearn, der sonst für jeden Zahltag zu haben ist.

Für das Streaming-Unternehmen Netflix gibt es allerdings kaum ein besseres Szenario als diese Veranstaltung, um ins Geschäft der Live-Übertragungen einzusteigen. Das reine Prestigeduell führt zwei Kontrahenten zusammen, die riesige Fan-Gruppen aktivieren: von den Babyboomern, die einst für Tysons Blitzsiege den Wecker stellten, bis hin zu den Youngstern der Generation Z, die den K.-o.-König erst im Nachgang wahrgenommen haben. Darum geht das Medienhaus das Spektakel mit der Partnerfirma Most Valuable Promotions als eine Art smartes Marketing an.

Das passt zum neuen Trend, bei dem im Boxen sportliche Brisanz nicht mehr der ultimative Faktor fürs Matchmaking ist. Er nahm Schwung auf, als sich der über alle Limiten herausragende Floyd Mayweather junior im August 2017 auf ein Boxduell mit dem Mixed-Martial-Arts-Star Conor McGregor einliess (und vorzeitig gewann). Nach dem gleichen Muster stieg der Ausnahmeboxer Mayweather jenseits der 40 gegen Jake Pauls Bruder Logan (2021) und gegen den Youtuber Deji Olatunji (2022) für Millionengagen in den Ring – und blieb ungeschlagen.

Einen ähnlichen Arbeitsgang hat im vergangenen Sommer Regina Halmich absolviert. Mit 47 Jahren rief die deutsche Ex-Weltmeisterin noch einmal ihre Routine ab, um den TV-Entertainer Stefan Raab (Eigenname «Die Killerplauze») auszuboxen. 13 000 Zuschauer zahlten zum Teil erhebliche Summen, um beim dritten Aufguss dieses sinnfreien Gender-Gipfels in einer Düsseldorfer Arena nah dran zu sein; die TV-Quoten kratzten in der Spitzenzeit an der Acht-Millionen-Marke.

Tyson erhält mit kolportierten 20 Millionen US-Dollar wohl nur die Hälfte von Pauls Börse

Im Online-Zeitalter werden alle gewohnten Massstäbe für grosse Kämpfe im Zweifelsfall über den Haufen geworfen. Wer etwas Fame und eine beträchtliche Community mitbringt, braucht keinen imposanten Kampfrekord. Dazu passt, dass Tyson mit kolportierten 20 Millionen US-Dollar wohl nur die Hälfte von Pauls Börse erhält.

Umso mehr gilt der Senior den Puristen als sentimentaler Favorit: Es heisst da und dort, Tyson solle dem blondierten Teilzeithelden im Ring deutlich machen, dass zu einer denkwürdigen Ringkarriere viel mehr gehört als präpotentes Gehabe. Aber kann Tyson diese Aufforderung erfüllen?

Im Juni musste «Iron Mike», der seit längerem unter einem Ischias-Syndrom leidet, wegen eines Magengeschwürs mit dem Training aussetzen. Darum wurde der ursprüngliche Kampftermin (20. Juli) hinfällig. Tyson sagt, seither sei er durch alle Schmerzen und Tränen hindurchgegangen, um sich erstmals nach seinem Showkampf mit Roy Jones junior (2020) wieder in Topform zu bringen. Er habe nun «eine neue Perspektive darauf, wer ich war, wer ich bin, und was ich zu leisten imstande bin», sagte er dem deutschen Portal T-Online.

Video-Schnipsel aus dem Gym zeigen tatsächlich eine erstaunliche Dynamik bei Tyson. Überdies kommt ihm die vereinbarte Kampfdauer von acht Runden à zwei (anstatt drei) Minuten entgegen. So machte der Routinier seine eigene Rechnung zu den Siegchancen auf; Tyson erklärte immer wieder in Richtung des Gegners: «Dieser Typ hat nur etwa zehn Kämpfe. Wenn ich nur mit zehn Prozent kämpfe, kann er dem nichts entgegensetzen. Und das ist seriös geschätzt.»

Ehemalige Widersacher springen Tyson zur Seite. Der britische Ex-Weltmeister Lennox Lewis ist sicher: «Mike hat es noch drauf. Er kann einen Treffer landen und einen Treffer einstecken. Er macht da also etwas, was er gewohnt ist. Wenn einer dieser Schläge Paul erwischt, wird dieser definitiv zu Boden gehen.» Aus ähnlichen Gründen legte sich mit Larry Holmes ein anderer Ex-Weltmeister auf Tyson fest. Er sagte: «Wenn ich Geld setzen würde, wäre es auf Mike.»

Den Veranstaltern des Kampfes kann das Ballyhoo nur recht sein. Sie wollen alle 80 000 Plätze in der Arena mit dem verschliessbaren Dach verkaufen – selbst wenn sie dafür mit den Ticketpreisen so tief hinuntergehen müssen wie in den letzten Tagen. Und die Entscheider von Netflix wollen ihren alten und neu gewonnenen Abonnenten mit dem vollen Haus schliesslich das Gefühl vermitteln, ein sporthistorisches Ereignis live in HD-Qualität zu verfolgen. Dass es das auch wird, darf bezweifelt werden.

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