Die letzte Spielzeit von Pierre Audi beim führenden Musikfestival Frankreichs provoziert Zustimmung und Widerspruch. Aber fünf Premieren an vier Tagen bestätigen: Die Kunstform Oper lebt. Nur Audi selbst erlebt diese Saison nicht mehr.

In seinem Penthouse legt der Komtur ein paar knisternde Vinylplatten auf. Lauter Mozart-Konserven, versüsst durch ein Schlückchen Wein. Plötzlich greift sich der alte Mann an die Brust, er stürzt, sucht Halt, reisst einen Vorhang mit sich im Fallen. Noch bevor Simon Rattle im Grand Théâtre de Provence den Taktstock hebt, ist der erste Bühnentote zu beklagen. Der Schock sitzt tief. Wenige Wochen nach dem realen Herztod seines Intendanten Pierre Audi Anfang Mai eröffnet das Festival d’Aix-en-Provence die Saison mit einem Theater-Herzinfarkt.

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Audi hat diese Spielzeit beim führenden Musikfestival Frankreichs noch geplant und dabei nicht nur Rattle zu seinem ersten Mozart-Dirigat in Aix überredet. Er gewann auch den britischen Theaterregisseur Robert Icke vom Londoner Almeida Theatre, den er mit seiner ersten Opernarbeit betraute. Icke macht aus dem «Don Giovanni» eine Erinnerungsfeier, einen in Szene gesetzten Blick zurück. Während der Ouvertüre zieht vor dem inneren Auge des sterbenden Komturs auf ausgebleichten Videos sein ganzes Leben vorüber. Er ist, wie sich herausstellt, ein Mistkerl gewesen. Ein Frauenheld, Kinderschänder, Zyniker – ähnlich dem Don. Mehr noch: Die beiden sind identisch. Auch Giovanni liegt alsbald tot an der Rampe. Alles, was folgt, ist Reprise.

Die Regie-Idee, nicht ganz neu, geht auch diesmal nicht auf: Ein doppelter Don Giovanni, kraftvoll gesungen von Andrè Schuen, der halb tot, halb lebendig singt – und stirbt und singt und stirbt. Das strapaziert selbst das Abstraktionsvermögen eines so Regietheater-erfahrenen Publikums wie hier in Aix. Zumal es auch die Donna Anna (glänzend: Golda Schultz) doppelt gibt, als missbrauchtes Kind und als traumatisierte Erwachsene. Da fackelt man nicht lange: Bravi für die Sänger, Buhs für die Regie. Immerhin gehören Mozarts Opern in Aix, wie bei der Konkurrenz in Salzburg, zum heiligen Tafelsilber.

Ein roter Faden im Programm

Rundum glücklich macht dagegen die Luxusdarbietung von «La Calisto» im Théâtre de l’Archevêché, unter freiem Nachthimmel. Dieses venezianische Werk von Francesco Cavalli ist eine der frühesten Opern und zum ersten Mal in Aix zu erleben. Wenige Jahre nach Monteverdis «Poppea» entstanden, nimmt das Stück ähnlich tabufrei die losen Sitten der herrschenden Klasse aufs Korn. Vorsichtshalber in mythologischer Verbrämung: Jupiter (Alex Rosen) geht fremd, Juno (Anna Bonitatibus) ertappt ihn. Woraufhin das Objekt seiner Begierde, die Nymphe Calisto (Lauranne Oliva), in eine Bärin verwandelt und als Sternbild ans Himmelszelt verbannt wird.

Der junge Countertenor Paul-Antoine Bénos-Dijan brilliert in der Partie des schüchternen Liebhabers der keuschen Diana. Das Casting ist, auch das ein Markenzeichen von Aix, perfekt bis in die kleinsten Rollen. Der Dirigent Sébastien Daucé hat Cavallis Partitur farbenfroh ausgeschmückt mit den Harfen, Bläsern, Theorben und Trompeten seines Ensembles Correspondances. Jetske Mijnssen verlegt das Venedig von 1651 mitsamt dem Olymp in ihrer Inszenierung schlankweg ins Rokoko der Mozartzeit. Sieht gut aus, hat Tempo, könnte besser nicht passen. Nur der Göttervater hat am Ende nichts zu lachen.

Dem barocken Spektakel wird im Théâtre de l’Archevêché diesen Sommer eine Rarität aus dem Fin de Siècle gegenübergestellt: die Oper «Louise» von Gustave Charpentier. Eine Arie daraus ist ins Repertoire der grossen Primadonnen eingegangen: «Depuis le jour». Elsa Dreisig macht darin der Callas Konkurrenz. Ihr glockenreiner Sopran verströmt sich in langen Melodiebögen, und auch der Figur der kleinen Näherin, die das grosse Glück sucht, haucht Dreisig Leben ein. Im originellen dritten Aufzug spielt die Lichterstadt Paris sozusagen persönlich mit, sie wird als Insel der Freiheit und der Liebe gefeiert. Allein dieses musikalische Wimmelbild lohnt eine so hochkarätige Wiederbelebung. Christof Loy sorgt in seiner Regie für eine psychologische Familienaufstellung – und für einen roten Faden: Schon wieder vergreift sich ein alter weisser Mann (Nicolas Courjal) an der eigenen Tochter.

Wie eine gute Hochzeit

Pierre Audi hat dem Festival in Aix nicht nur mit der diskursiven Dichte der Produktionen ein Profil gegeben. Dazu gehörte immer auch das mutige Vertrauen in die nächste Generation. Peter Sellars, selbst ein ewiger Nachwuchskünstler, spricht das bewegend an beim Gedenken an den Verstorbenen, einem «concert pour Pierre». Sellars selbst hat diesmal die Kammeroper «The Nine Jewelled Deer» von Sivan Eldar inszeniert. Es ist eine Uraufführung mit improvisatorischem Multikulti-Charme.

Neun Solisten umkreisen fünf oder sechs Töne, die von einem Keyboarder elektroakustisch ausgeziert werden. Anrührend wirkt die indisch-amerikanische Sängerin Ganavya. Einige der Mantras darf das Publikum sogar mitsingen. Es geht um das «Kitchen Orchestra» von Ganavyas Grossmutter und um ein buddhistisches Märchen-Rehlein aus dem zweiten Jahrhundert, das, ganz wie die Oma, Gewalt und Verrat mit Liebe und Frieden beantwortet, nach Frauenart.

In dem Arrangement «The Story of Billy Budd, Sailor» von Oliver Leith sind dagegen hauptsächlich junge weisse Männer unterwegs. Homosexuelle Unschuld wird gemordet, die Staatsräson obsiegt. Schliesslich herrscht Krieg in Benjamin Brittens Opernparabel «Billy Budd», die der Bearbeitung zugrunde liegt. Den tragenden Chor hat Leith allerdings gestrichen, manch anderes auch. Ted Huffman, auch häufiger Gast an der Oper Zürich, herrscht geradezu lehrstückhaft über die Ökonomie der Bühnenmittel. Zwar wird intensiv und schön gesungen, vor allem von Christopher Sokolowski in der Sinnsucherrolle des Kapitäns Edward Vere. Und doch: Von Anfang bis Ende fehlen die reichen Orchesterfarben des Originals.

Das Festival in Aix ist wie eine gute Hochzeit organisiert, mit einer reichen Braut: Neben etwas Geborgtem gibt es auch in diesem Jahr etwas Blaues, etwas Neues, etwas Altes und etwas Streitbares, in bestmöglicher Qualität. Neben der Zukunft der Kunstform hatte Pierre Audi, als geborener Bankierssohn, immer die Finanzierung der Institution im Blick. Er wusste aber auch, dass man künstlerische Risiken eingehen muss, wenn etwas aus einer Sache werden soll.

Dieses an sich simple Grundrezept wird nun postum von der Birgit-Nilsson-Stiftung ausgezeichnet, die alle drei Jahre einen mit knapp einer Million Euro dotierten Preis verleiht für «ausserordentliche Erfolge» auf dem Gebiet der Förderung der Gesangskunst. Der Preis wird im Oktober erstmals an ein Festival überreicht, eine letzte Verneigung vor dessen Intendanten. Wer immer Pierre Audi nachfolgt, wird es nicht leicht haben. Noch vor dem Herbst soll darüber entschieden werden.

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