Donnerstag, November 6

Das Asad-Regime macht den Islamischen Staat für die Überfälle verantwortlich, denn die Wüste dient dem IS als Versteck. Doch die Realität ist komplexer.

Wenn in der syrischen Wüste der Frühling anbricht, beginnt die Jagd nach Trüffeln. Die schwarzen, braunen und weissen Pilze, die während der Regenzeit zwischen Februar und April dicht unter der Oberfläche wachsen, sind eine begehrte Delikatesse. Die Knollen haben einen weniger intensiven Geschmack als die Trüffel in Europa, doch dafür sind sie grösser, schwerer und reich an Protein. Auf dem Markt wird ein Kilo schwarzer Trüffel für bis zu 35 Dollar gehandelt – mehr als der Monatslohn vieler Beamter in dem verarmten Bürgerkriegsland.

Doch die Suche nach Trüffeln ist gefährlich. Während der Trüffelsaison zum Beginn des Frühjahrs vergeht fast kein Tag, an dem nicht der Tod von Trüffelsuchern gemeldet wird. In der weitläufigen Badia-Wüste, die sich vom Zentrum Syriens bis an die irakische Grenze im Osten erstreckt, verbergen sich nicht nur Trüffel. Sie dient auch dem Islamischen Staat (IS) als Versteck. Immer wieder verüben die Jihadisten dort blutige Angriffe auf Trüffelsucher.

Sunnitische Aufständische

Erst am 6. März wurden laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mindestens 18 Trüffelsucher und ihre Eskorte bei einem IS-Angriff südwestlich der Stadt Deir al-Zur getötet. Fünfzig weitere Mitglieder der Gruppe würden nach dem Überfall bei der Ortschaft Kobajib noch vermisst, berichtete die Aktivistengruppe in Grossbritannien, die sich auf ein Netzwerk von Informanten in Syrien stützt. Örtliche Medien sprachen gar von 47 Toten.

Für das Regime steht der Schuldige immer rasch fest

Die Jihadisten haben ihre Aktivitäten jüngst ausgeweitet. Das syrische Regime begann schon vor dem tödlichen Überfall bei Kobajib einen grossangelegten Militäreinsatz, um die Wüste nach IS-Zellen zu durchkämmen. Die Jihadistengruppe hatte 2014 grosse Gebiete in Syrien und im Irak erobert. Nach erbitterten Kämpfen verlor sie im März 2019 aber ihre letzte Bastion am Euphrat. Experten schätzen, dass sie heute noch über 5000 bis 6000 Kämpfer in Syrien und im Irak verfügt. Viele von ihnen leben in den Weiten der Wüste.

Neben Beamten, Soldaten und Polizisten nehmen die Jihadisten auch immer wieder Trüffelsucher ins Visier. Die Beobachtungsstelle zählte vergangenes Jahr zwischen Februar und April 240 Tote bei Angriffen auf Trüffelsucher. Bei der blutigsten Attacke im Februar 2023 wurden 68 Menschen erschossen. Auch Landminen fordern immer wieder Opfer. Denn oft fahren Trüffelsucher auf Minen, die während des Bürgerkriegs entlang den Frontlinien gelegt worden waren.

So kamen Ende Februar bei zwei Vorfällen südlich von Rakka und östlich von Hama 19 Trüffelsucher durch die Explosion von Landminen ums Leben. Das Regime von Bashar al-Asad macht den IS nicht nur für die Angriffe, sondern auch für die Minenexplosionen verantwortlich. Obwohl sich der IS meist nicht zu den Angriffen bekennt, geben auch die örtlichen Medien der Jihadistengruppe regelmässig die Schuld. Tatsächlich ist die Lage aber komplizierter.

Wer Trüffel sammeln will, muss Schutzgeld zahlen

Neben den Jihadisten sind auch diverse regimetreue Milizen in der Wüste aktiv. Einige werden von Russland, andere von Iran unterstützt. Beide sind Verbündete Asads, aber auch Rivalen. Jede Miliz hat ihre eigene Einflusszone, in der sie Schmuggel betreibt, Schutzgeld erpresst und an Checkpoints Wegzoll verlangt. Auch die Trüffelsucher müssen laut Medienberichten Geld an die Milizen zahlen, um in ihrem Einflussbereich Pilze sammeln zu dürfen. Zudem bieten die Milizen bewaffnete Eskorten zum Schutz gegen Überfälle an. Im Gegenzug verlangen sie einen Teil der Einnahmen.

«Du musst dich kooperativ verhalten und in der Lage sein, Geld zu zahlen, um im Einflussbereich einer dieser Milizen Trüffel zu sammeln, wenn du bei ihnen nicht Mitglied bist», sagte ein Trüffelsucher dem Online-Magazin «Middle East Eye» vergangenes Jahr. Oft komme es zu Kämpfen mit anderen Milizen, die ihren Rivalen vorwerfen würden, ins eigene Territorium eingedrungen zu sein. Auch würden regelmässig Trüffelsucher entführt, um Lösegeld zu erpressen.

«Natürlich sagen alle, dass es der IS war, weil es das Einfachste ist», sagte ein Aktivist in Hama, der anonym bleiben wollte, dem «Middle East Eye». Niemand mache sich die Mühe, dieses Narrativ infrage zu stellen und die Fälle zu untersuchen. Eine Krankenschwester in der Stadt Salamiya sagte, alle Opfer von Überfällen oder Minenexplosionen würden in den Spitälern als Opfer von IS-Terroranschlägen registriert, um Probleme mit dem syrischen Regime zu vermeiden.

Die Pilze werden inzwischen «Blutfrucht» genannt

Andere Trüffelsucher berichteten der «New York Times», wer ohne den Schutz von Milizen losziehe, riskiere, Opfer ihrer Angriffe zu werden. Damit wollten die Milizen die Trüffelsucher zwingen, ihre Eskorten zu akzeptieren. Ein junger Mann sagte, im Gegenzug verlangten sie die Hälfte der Trüffel. Für den Rest zahlten sie die Hälfte des Marktpreises. Als er dies nicht länger habe akzeptieren wollen und unter dem Schutz einer lokalen Stammesmiliz losgezogen sei, hätten andere Milizionäre prompt seine Gruppe attackiert.

Traditionell sind die Wüstentrüffel in Syrien als «Tochter des Donners» bekannt, weil die Knollen besonders nach Gewitterstürmen wachsen. Inzwischen werden sie aber wegen der vielen Angriffe auch «Blutfrucht» genannt. Die Zeiten, in denen die Syrer im Frühjahr, wenn die Ebenen nach dem Regen für eine kurze Phase grün erblühen, mit ihrer ganzen Familie zum Picknicken und Pilzesuchen in die Wüste fuhren, sind längst vorbei. Heute sammeln sie nur noch aus Not.

Nach dreizehn Jahren Bürgerkrieg steckt Syrien in einer tiefen Wirtschaftskrise. Fast die gesamte Bevölkerung lebt in Armut, es gibt kaum Arbeit, die Inflation ist hoch, und es fehlt an Treibstoff. Trüffel sind da eine lukrative Einkommensquelle. Ein Teil der Knollen wird im Land konsumiert, viele werden aber auch ins Ausland exportiert. Wer im Einzelnen hinter den Angriffen auf die Trüffelsucher steckt, ist kaum zu klären. Klar erscheint hingegen, dass sich die Syrer in ihrer Not auch in Zukunft nicht vom Trüffelsuchen abschrecken lassen werden.

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