In vielen Ländern geniessen Politiker Straffreiheit – auch in der Schweiz. Trotzdem geht die vom Obersten Gericht der USA im Fall Trumps erlassene Regelung weit und ritzt an einem fundamentalen Prinzip des Landes.

Der Entscheid des amerikanischen Supreme Court über die Immunität Donald Trumps wird zweifellos als eines der wichtigen Grundsatzurteile in die amerikanische Geschichte eingehen. Zwar hatte sich das Justizministerium schon vor Jahrzehnten die Regel auferlegt, dass ein amtierender Präsident nicht strafrechtlich verfolgt werden kann. Aber die Verfassung enthält dazu keine Bestimmung, und in den 235 Jahren ihrer Geltung war es auch nie nötig gewesen, die Frage gerichtlich zu klären.

Das hat sich mit Trump und der erstmaligen Anklage eines früheren Präsidenten geändert: Das Oberste Gericht gestand ihm am Montag eine weitreichende Immunität vor strafrechtlicher Verfolgung für Amtshandlungen zu. Nur für nicht offizielle, private Taten geniesst er keinen Schutz. Brisant ist aber vor allem, dass der Schutz zeitlich unbeschränkt gelten soll – also auch über die Amtszeit hinaus. Ein früherer Präsident kann also bis an sein Lebensende nicht für mutmassliche Verfehlungen im Amt zur Verantwortung gezogen werden, was für demokratische Systeme höchst ungewöhnlich ist.

Die Immunität ist eine Voraussetzung des Parlamentarismus

Das Verdikt ist deshalb nicht nur in der amerikanischen Öffentlichkeit umstritten, sondern auch am Supreme Court selbst. Sonia Sotomayor schreibt in ihrer von den zwei anderen progressiven Richterinnen unterstützten «dissenting opinion», mit dem Urteil werde das fundamentale Prinzip, dass niemand über dem Gesetz stehe, zum Hohn. Wie ein König habe ein Präsident für keinen offiziellen Akt Strafe zu fürchten: Wenn er etwa die Navy Seals damit beauftrage, einen politischen Rivalen zu töten. Wenn er einen Militärputsch zum Machterhalt anzettle. Oder wenn er Bestechungsgeld für eine Begnadigung annehme. «Immun, immun, immun», schreibt die Richterin. Aus Sorge um die Demokratie weiche sie von der Mehrheitsmeinung ab.

In der Praxis wird oft schwammig sein, was als offizielle Handlung gelten kann und was nicht – auch im Fall Trump. Trotzdem geht die nun vom Supreme Court definierte Regelung im internationalen Vergleich weit. Immerhin gilt es als Errungenschaft von Rechtsstaaten, dass sich auch ehemals hochrangige Politiker für allfällige Straftaten verantworten müssen. «Equal justice under law» heisst es schon als Inschrift auf der klassizistischen Hauptfassade des Supreme Court in Washington. Der gleiche Grundsatz ist in Artikel 3 der deutschen oder Artikel 8 der Schweizer Verfassung verankert.

Alt und durchaus berechtigt ist aber auch das Prinzip, dass Politiker für gewisse Handlungen Immunität geniessen. Es entstand mit dem modernen Parlamentarismus, schon Ende des 15. Jahrhunderts wurde etwa den Mitgliedern des House of Commons in England Redefreiheit und Schutz vor Inhaftierung eingeräumt. Die Idee war, dass Abgeordnete vor allem für ihre politischen Aussagen keine Repression der damals noch monarchistischen Exekutive erfahren sollten.

Das gilt noch heute als Voraussetzung für einen parlamentarischen Betrieb, in dem Volksvertreter ihre Gedanken möglichst frei äussern können sollen. Dafür, was in den Kammern oder Kommissionen gesagt wird, dürfen etwa amerikanische Kongressmitglieder nicht juristisch belangt werden. Die Schweizer Verfassung dehnt diese Immunität auch auf die Bundesräte und den Bundeskanzler aus, wenn sie sich in den Räten äussern. Sie gilt absolut und kann nicht aufgehoben werden.

Auch Handlungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der amtlichen Tätigkeit stehen, können grundsätzlich nicht strafrechtlich verfolgt werden. In solchen Fällen kann der Schutz aber vom Parlament aufgehoben werden. In der Schweiz ist der Fall der früheren Bundesrätin Elisabeth Kopp berühmt, deren Immunität wegen des Verdachts einer Amtsgeheimnisverletzung 1989 entzogen wurde.

Ähnlich wie es nun der Supreme Court verlangt, wird also auch in der Schweiz unterschieden zwischen grundsätzlich geschützten Amtshandlungen und allfälligen privaten Verfehlungen, für die keine Immunität gilt. Deutlich weiter geht die Regelung in Deutschland, denn die Strafverfolgung ist für alle Taten verwehrt, solange der Bundestag den Schutz nicht entzieht. Sie gilt analog auch für den Bundespräsidenten.

Immunität ist in der Regel befristet

Der grosse Unterschied ist aber neben der möglichen Aufhebung durch das Parlament, dass die Immunität befristet ist und sich auf die Amtszeit beschränkt. Sie schützt also die Funktionsfähigkeit der Person und nicht die Person an sich.

Sehr explizit regelt das etwa die französische Verfassung. Der Präsident hat eine mit dem amerikanischen Amt vergleichbare Machtfülle und wird ebenfalls direkt gewählt. Seine Immunität betrifft «in Ausübung seines Amts vorgenommene Handlungen», gilt aber nur während der Amtszeit. Einen Monat nach deren Ende könnten Verfahren wiederaufgenommen oder eingeleitet werden, heisst es weiter. Die beiden ehemaligen Präsidenten Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy wurden wegen Straftaten verurteilt, wobei es bei Chirac nur um Handlungen vor seiner Zeit im Élyséepalast ging.

Auch in Südkorea und Brasilien wurden schon ehemalige Staatschefs wegen Delikten im Zusammenhang mit der Amtsführung verurteilt – es ging jeweils um Korruption. Der Schuldspruch gegen den israelischen Ex-Präsidenten Moshe Katsav betraf dagegen einen Vergewaltigungsfall. Ein solches Delikt könnte auch bei einem früheren amerikanischen Präsidenten nach wie vor verfolgt werden, weil es eine private Handlung betrifft.

Die vom Supreme Court vorgegebene Immunität bei amtlichem Handeln ist also eine übliche Regel in Präsidialsystemen wie den USA, wobei oftmals Hochverrat in den Verfassungen als Ausnahme genannt wird. Inwiefern die Trump vorgeworfenen Straftaten als offizielle Handlungen gelten können, müssen nun wiederum die Gerichte klären.

Aussergewöhnlich ist aber, dass die Immunität auch nach der Amtszeit eines Präsidenten wirksam ist, wenn es nicht mehr um dessen Funktionsfähigkeit geht. Solche Regelungen kennen etwa Russland und die zentralasiatischen Länder Kasachstan, Kirgistan und Turkmenistan – autoritäre Regime, mit denen sich die USA sonst nicht vergleichen.

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