Italien habe seine Kolonialgeschichte nie aufgearbeitet, sagt die italienisch-somalische Schriftstellerin Igiaba Scego. Ihr Grossvater war Dolmetscher eines italienischen Kriegsverbrechers. Im Gespräch sagt sie, was das für ihr eigenes Schreiben bedeutet.
Sie spricht fast pausenlos, als stünde sie unter Hochdruck. Ein Stichwort genügt, schon beginnt Igiaba Scego zu antworten. Dabei modelliert und formt sie ihre langen Sätze zusätzlich mit ihren Händen. Igiaba Scego gehört zu der in Italien wachsenden Zahl von Schriftstellern afrikanischer Herkunft. 1974 in Rom als Kind von somalischen Flüchtlingen geboren, hat sie sich in Italien einen Namen als Publizistin und Autorin gemacht. Gerade ist ihr Roman «Kassandra in Mogadischu» im S.-Fischer-Verlag erschienen, in dem sie aus ihrer bewegten Familiengeschichte erzählt.
Frau Scego, Italien war dieses Jahr Gastland an der Frankfurter Buchmesse. Bereits die Auswahl der Autorendelegation führte zum Streit. Was ist in Italien los, dass selbst solche Nebenschauplätze eine kleine Staatskrise provozieren?
Italien ist ein Land mit vielen inneren Widersprüchen. Dazu gehört die Ignoranz der Politik gegenüber der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen. Die Elite hat sich vom Alltag der Bevölkerung abgekoppelt.
Können Sie das etwas konkreter erläutern?
Am Fernsehen sehe ich Moderatoren oder Politiker, die schon da waren, als ich noch ein Kind war. Ähnliches beobachtet man an den Universitäten oder in den Medien. Sesselkleber blockieren in diesem Land den Generationenwechsel oder auch die angemessene Repräsentation von Einwanderern. So sind beispielsweise schwarze Menschen, ob sie Staatsbürger sind oder nicht, kaum in öffentlichen Positionen sichtbar. Ich bin neben Cristina Ali Farah die einzige schwarze Schriftstellerin, die als offizielle Vertreterin an die Buchmesse entsandt wurde. Aber wir müssten sehr viel zahlreicher sein, denn es gibt viele Schriftsteller in Italien mit afrikanischen Wurzeln.
Die heutige Regierungschefin Giorgia Meloni kann dafür aber nicht allein verantwortlich gemacht werden?
In Deutschland werde ich immer gefragt: Wie lebt ihr unter Meloni? Doch Giorgia Meloni als Regierungschefin ist nicht das Problem. Es ist das ganze italienische System, das modernisiert werden müsste. Wir haben eine Opposition, die absurde Positionen vertritt und manchmal, was noch schlimmer ist, einfach von der politischen Bühne verschwindet. Wir befinden uns in Italien in einer repräsentativen Demokratie, in der wichtige Teile der Bevölkerung nicht mehr repräsentiert werden.
Italien erlebt seit Jahren eine starke Zuwanderung aus dem Süden. Kehrt mit der Immigration aus Afrika auch die verdrängte Erinnerung an die Kolonien nach Italien zurück?
Nachdem die Migration in den 1970er Jahren aus den einstigen Kolonien eingesetzt hatte, dauerte es zwanzig Jahre, bis sich Italien zu seiner Kolonialgeschichte allmählich bekannte und Fragen zu stellen begann. Auslöser waren auch die Bücher, die nun von Immigranten geschrieben wurden. Den Anfang machte Gabriella Ghermandi, die in Äthiopien geboren worden war. Das gab den Impuls und ermutigte weitere afrikanischstämmige Autoren, über ihre Erfahrungen zu schreiben und Fragen an die Gesellschaft zu stellen.
Gab es bis dahin in der Öffentlichkeit oder auch in den Schulen keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus?
Bei uns zu Hause war der Kolonialismus natürlich ein Thema. Als ich zur Schule ging, wurde mir bewusst, dass nur ich diese Geschichte kannte, meine Mitschüler waren völlig ahnungslos. Die Geschichtsbücher erzählten nichts davon. In den 1980er Jahren wurde die ganze Kolonialgeschichte im Lehrmittel der Schule auf einer einzigen Seite geschildert. Diese Leerstelle, dieses vollkommene Fehlen unserer eigenen Geschichte, hat uns Migrantenkinder zum Schreiben gebracht.
Hat das dazu geführt, dass Italien sich auf seine kolonialen Verstrickungen zu besinnen beginnt?
Das wäre übertrieben. Allein schon deswegen, weil sich ein Teil der Bevölkerung noch immer ahnungslos gibt. Noch immer sperren sich viele gegen die Aufklärung. Dabei geschehen auch skurrile Dinge. Zum Beispiel wurde in einem italienischen Remake von «Casablanca» der Schauplatz Äthiopien kurzerhand ausgelöscht. So verschwindet die Kolonialgeschichte in einem schwarzen Loch. Sogar ganze Filme wurden zum Verschwinden gebracht. «Il leone del deserto» von 1980 war in Italien verboten und wurde vor ein paar Wochen im Rahmen einer Veranstaltung zum Gedenken an die Opfer des Kolonialismus zum ersten Mal in einem Kino in Pisa gezeigt.
Sie sind in Italien geboren, lebten hier die längste Zeit Ihres Lebens. Und zugleich haben Sie eine starke innere Verbundenheit mit Somalia, wo Sie vor dem Bürgerkrieg auch ein paar Jahre gelebt haben. Sind Sie innerlich gespalten zwischen den zwei Ländern?
Gelegentlich sagt man mir, ich soll doch dahingehen, wo ich herkomme. Aber wo soll das sein, wo soll denn mein Zuhause sein? Wenn nicht dort und hier? Zuhause heisst für mich Rom, und das bedeutet, ich gehe aus dem Haus und stehe den Bauwerken der Römerzeit gegenüber, dem Aquädukt, den Katakomben oder den Thermen des Caracalla, der afrikanischstämmig war wie ich. Man nennt mich Afrikanerin. Ich bin nicht einfach Afrikanerin, ich bin afrikanischstämmig, was etwas anderes ist. Ich bewohne den Raum zwischen den Kontinenten. Ich gehöre zur somalischen Diaspora. Ich bin weder ausschliesslich das eine noch das andere, ich bin beides. Identitäten sind doch etwas Bewegliches. Wir sollten es endlich lernen. Stattdessen versuchen wir immer wieder, die Menschen in einer einzigen Identität einzuschliessen. Aber Menschen haben nicht nur eine einzige Geschichte.
Ist die mehrfache Zugehörigkeit auch eine vielfältige Unbehaustheit?
Ich empfinde es nicht so. Ich bewohne die Literatur. Die Literatur, die Sprache, meine Arbeit haben mir ermöglicht, die Dinge zu verstehen, mich selber zu verstehen. Ich war sehr verloren mit zwanzig, das war ein schwieriges Alter, heute bin ich fünfzig, manches habe ich inzwischen verarbeitet. Jeder von uns macht eine Reise im Leben in diesem einzigen Körper. Und wenn der Körper sich verändert, erst recht der Körper einer Frau, gewinnt man ein neues Bewusstsein, erreicht man, was man in Somalia eine Form von Weisheit nennt.
Ihre Mutter war 1991 unmittelbar vor Ausbruch des Bürgerkriegs nach Somalia gegangen und blieb in den Kriegswirren für längere Zeit verschollen. Sie erzählen von dieser traumatischen Erfahrung auch in Ihrem Buch. Ist das Buch eine Form der Selbsttherapie und der Versuch einer erzählenden Selbstheilung?
Meine Mutter hat bisher nie über den Bürgerkrieg und die Zeit gesprochen, als sie von uns abgeschnitten war. Es sei unaussprechlich, sagte sie immer. Es entstand also eine doppelte Leerstelle: Die zwei Jahre ihrer Abwesenheit, als sie in den Wirren untergegangen war; und ihre Unfähigkeit, darüber zu reden und uns zu berichten. Mein Buch ist daher vor allem auch eine Erzählung darüber, wie ich meine Mutter umkreise und allmählich ihre Geschichte kennenlerne.
Ihre Mutter ist als Kind von Nomaden geboren worden und lebte bis zum Alter von etwa zehn Jahren als Hirtin im Zelt. Sie hat von Ihnen darum den Namen Heidi bekommen.
Ja, ich nenne sie immer Heidi. Sie kommt aus einer anderen Welt: Sie melkte Kühe, sie lebte mit Kamelen, sie musste Wasser suchen und nach Quellen graben, sie war tagelang mit der Herde unterwegs. Einmal bin ich neugierig geworden, wie diese Welt aussieht. Vor neun Jahren bin ich in den Norden Somalias gefahren und habe eine ähnliche Landschaft besucht. Das hat mich sehr betroffen gemacht. Erst da ist mir das Ausmass der Migration meiner Mutter bewusst geworden. Das war nicht nur von Somalia nach Italien, dieser Flucht ging die Verpflanzung aus der Steppe in die Stadt voraus.
Der Vater hingegen hatte eine politische Karriere gemacht.
Nachdem Somalia von Italien unabhängig wurde, war er Bürgermeister von Mogadiscio, Minister und Botschafter. Beim Putsch 1969 wurde er aus dem Amt gejagt und von den Italienern nach Italien evakuiert. Als 50-Jähriger musste er in Rom ein neues Leben als Flüchtling beginnen. Ich bin also die Tochter eines Flüchtlings. Nicht die Tochter eines Ministers. Und weil wir beide urbane Menschen sind, stehen wir uns sehr nahe. Wir haben auch zusammen die zwei Jahre des Bangens um meine Mutter durchgestanden.
War das Verschwinden der Mutter im Bürgerkrieg auch der Punkt, an dem Sie als Schriftstellerin geboren wurden?
Ich habe damals – wie alle Heranwachsenden – Tagebuch geschrieben. Es hat mir geholfen, nicht wahnsinnig zu werden. Ich schrieb pausenlos. Und dieser Akt des Schreibens hat mir das Leben gerettet. Es waren die schrecklichsten zwei Jahre meines Lebens. Noch vor der Schriftstellerin ist allerdings die Leserin geboren. Wir reden selten davon, wie wichtig die Bücher der anderen für das eigene Schreiben sind.
Was haben Sie gelesen?
Absurderweise habe ich in Agatha Christies Krimis sehr viel über den Kolonialismus gelernt. Sie war wirklich imperialistisch bis auf die Knochen. Einige ihrer Figuren sind auch heftige Rassisten. Ich lernte daraus Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte.
Ihre Mutter war Hirtin, Ihr Vater Politiker, Ihr Grossvater hingegen war Dolmetscher für italienische Kriegsverbrecher während der Feldzüge in Afrika. Auch davon erzählen Sie in Ihrem Buch als einem Teil Ihrer Geschichte.
Mein Buch ist eine linguistische Autobiografie. Neben den Persönlichkeiten des Buches gibt es einen weiteren wichtigen Protagonisten: Das ist die italienische Sprache, die mir so wichtig geworden ist und die mein Leben auf so viele Weisen geprägt hat. Mein Arbeitsinstrument ist das Italienische – wie bei meinem Grossvater, der Dolmetscher für die Italiener in Somalia war. Er jedoch musste für die Faschisten übersetzen. Er lieh seine Sprache einem Kriegsverbrecher, dem faschistischen General Rodolfo Graziani. Manchmal habe ich das Bild vor Augen, wie Graziani spricht und wie sich mein Grossvater von den Wörtern der Gewalt durchdringen lässt. Dann frage ich mich, wie wir beide das gleiche Instrument verwenden können, jeder auf seine Art. Ich liebe das Italienische, es hat eine grosse Musikalität und eine lange literarische Tradition. Von Dante bis Elsa Morante. Beim Schreiben darf ich nicht vergessen, dass es in mir auch jenes andere Italienisch gibt, das gewaltsame, dem sich mein Grossvater ausliefern musste.