Das einstige Arbeiterquartier wandelt sich zum angesagten Stadtviertel. Doch im Neubau der Stararchitekten sind mitten in der Wohnkrise noch Wohnungen frei – warum?

Beim Namen Herzog & de Meuron denkt man in Zürich an grosse Würfe wie das neue Kinderspital, den UBS-Campus am Paradeplatz oder das Forum UZH – den Neubau der Universität Zürich. Wohngebäude des berühmten Architektenduos gibt es zwar auch, etwa den Meret-Oppenheim-Turm in Basel oder den Zellwegerpark in Uster.

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Doch die Stadt Zürich war diesbezüglich bisher ein weisser Fleck.

Mit der Überbauung Tilia in Altstetten hat sich das geändert. Früher standen hier drei in die Jahre gekommene Gebäude, dazwischen ein alter Schuppen, vor dem ein Autohändler einige Fahrzeuge abgestellt hatte.

Jetzt ragen unweit des Lindenplatzes sechs moderne, unterschiedlich hohe Gebäude in die Höhe, entworfen von den beiden Basler Architekten im Auftrag der Senn Development AG. 2021 verkaufte Letztere das Grundstück mitsamt baureifem Projekt an Swiss Life.

Die zwei höchsten Gebäude – ein sechsstöckiger Bau und ein 30 Meter hohes Hochhaus mit neun Stockwerken – stehen direkt an der Badenerstrasse. Die übrigen vier sind jeweils zu zweit dahinter angeordnet und haben vier bis fünf Stockwerke.

Je nach Licht wirken die Tilia-Häuser hellgrau oder beige. Zwischen den mehrheitlich eckigen Fenstern sind runde angeordnet. Die Kreisform wiederholt sich auch auf den eckigen Fensterläden – näheres Hinsehen zeigt: Die Punkte sind Löcher, durch die das Licht in die Räume dringen kann. Ästhetisch, aber nicht unbedingt praktisch.

Links: Die rückwärtig zur Badenerstrasse erstellten Häuser sind mit Treppen und Laubengängen miteinander verbunden. Rechts: Die Treppenhäuser wirken noch unbelebt.

Laubengänge und Treppen verbinden die hinteren Häuser miteinander. Laternen, die aussehen wie zu Eis erstarrte Seifenblasen, erleuchten nachts die Wege zwischen den Häusern.

Die moderne Überbauung unweit des Lindenplatzes fällt einerseits aus dem Rahmen, andererseits kann man sie stellvertretend für den Entwicklungsprozess sehen, der das Quartier in den letzten Jahren erfasst hat.

Altstetten ist jener Stadtteil von Zürich, in dem am meisten gebaut wird. Bis zu 20 Prozent des seit 2019 pro Jahr in der Stadt Zürich entstandenen Wohnraums befinden sich hier. Das einstige Arbeiterquartier mit rauem Ruf mausert sich zum hippen Stadtviertel, nächstes Jahr schliesst der Schlachthof beim Letzigrund nach über hundert Jahren. Die Stadt will das Areal umnutzen, damit es den Bedürfnissen der Bevölkerung besser entspricht.

Wo man hinsieht, ragen Baukräne in die Höhe. Momentan befinden sich drei grosse Überbauungen in Entstehung: Die Wohnsiedlung Letzi, deren Bau fast abgeschlossen ist, wird 265 Wohnungen umfassen. Mit dem Ersatz für die Siedlung Salzweg – über den die Stimmbevölkerung am 18. Mai an der Urne befindet – sollen 230 Wohnungen entstehen. Hinzu kommt das Koch-Quartier mit 365 Wohnungen.

Urbanität trifft auf Ländlichkeit

Jenseits der Badenerstrasse, hin zum Bahnhof Altstetten und zu den Bahngleisen, dominiert Urbanität.

Gemäss den aktualisierten Hochhausrichtlinien der Stadt könnte fast überall im Quartier 40 Meter in die Höhe gebaut werden. Im Bereich der Gleise sind auch 60 bis 80 Meter hohe Gebäude denkbar. Am Vulkanplatz zwischen Bahnlinie und Autobahn ragen moderne Bürokomplexe in die Höhe. Bald kommt mit dem UBS-Turm das höchste Holzhochhaus der Welt hinzu.

Dass in Altstetten kaum ein Stein auf dem anderen bleibt, ist gewollt. Sowohl der kantonale wie auch der kommunale Richtplan haben den Stadtteil als Gebiet für die Siedlungsentwicklung – sprich für verdichtetes Bauen – definiert.

Der Lindenplatz war einst das Zentrum der Gemeinde Altstetten – quasi der Dorfplatz. Die Gebäude, die ihn heute einrahmen, stammen aus den späten 1950er Jahren, dahinter erhebt sich ein kleiner Hügel, auf dem zwei Kirchen thronen. Bis heute mutet der Ort ländlich an. Direkt hinter der Kirche liegt ein Blumenfeld, daneben eine Wiese mit alten Obstbäumen – die Altstetter Allmend.

«Ein tolles Quartier»

In der Tilia-Siedlung geht es geschäftig zu und her. Ein Umzugswagen wird gerade entladen, die Lifte sind noch mit Spanholzplatten ausgekleidet, damit sie nicht durch Kisten und Möbel beschädigt werden.

Letzten Winter waren die ersten Wohnungen bezugsbereit. Im März war es auch bei den Häusern direkt an der Badenerstrasse so weit.

Einer der Neuzuzüger wohnt seither in einer 2½-Zimmer-Wohnung im Hochhaus an der Badenerstrasse. Seinen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen.

Der 51-Jährige lebt seit zwanzig Jahren in der Stadt Zürich. Vor seinem Umzug nach Altstetten wohnte er in Albisrieden. «Dort war es so ruhig, ich hörte nicht einmal meine Nachbarn», sagt er.

Von Altstetten ist der Zuzüger begeistert. «Ein tolles Quartier, sehr vielseitig, urban und lebendig, mit kleinen Läden und Restaurants.» Der Stadtteil sei der entscheidende Faktor gewesen bei seiner Bewerbung um die Wohnung am Lindenplatz. «Ich weiss, ich gehöre zur Gentrifizierung.» Doch hier sei sie noch nicht so weit fortgeschritten. «Die Gesellschaft ist sehr durchmischt, nicht so wie zum Beispiel im Seefeld.»

Besonders angetan haben es ihm Details wie die Betondecke – «gefällt nicht jedem», sagt er – oder die runden Fenster. Durch eines davon blickt man direkt nach dem Betreten der Wohnung. Bei schönem Wetter kann man den Blick stadteinwärts bis zu den Alpen schweifen lassen. An diesem Tag ist es dunstig, die Sicht reicht immerhin bis zu den Hardau-Türmen.

Links: Baukräne, Hochhäuser und – bei schönem Wetter – Fernsicht bis zu den Alpen. Rechts: Der Balkon verbindet das Wohnzimmer mit Küche und Esszimmer.

Die Einrichtung ist schon fast komplett – vorwiegend Möbel im sogenannten Mid-Century-Style –, auf dem ausladenden Fensterbrett eines der runden Fenster ist ein Flugzeugmodell platziert, im Badezimmer sorgen zwei Servierwagen der Swissair für Stauraum. Nur der Bürotisch fehle noch.

Auf den gedeckten Balkon gelangt man von zwei Seiten her: vom Wohnzimmer und von der Küche mit Esszimmer. Er sei froh, habe er einen solchen sehr privaten Balkon, sagt der Neo-Altstetter. Bei den Wohnungen der unteren Geschosse sind die meisten Balkone von den Laubengängen aus einsehbar.

Der 51-Jährige nennt auch bei der eigenen Wohnung den einen oder anderen Kritikpunkt. Beispielsweise fehle es in der Küche an Abstellfläche, und die runden Fenster liessen sich mangels Läden oder Vorhangstangen nicht abdunkeln. Und die Läden der eckigen Fenster seien zwar schön, aber die Morgensonne habe er damit trotzdem direkt im Schlafzimmer, sagt der Mieter.

16 von 72 Wohnungen sind unvermietet

Noch immer sind 16 von insgesamt 72 Wohnungen zu haben. Das merkt man den Treppenhäusern an. Sie wirken noch unbelebt, erst vor wenigen Türen deuten Fussmatten, Schuhe oder Regenschirme auf Bewohner hin.

Woran liegt’s?

Mit einem Mix aus 1½-, 2½-, 3½- und 4½-Zimmer-Wohnungen richtet sich das Angebot an Einzelpersonen, Paare und kleine Familien. Die Grundrisse sind grosszügig: Die 3½-Zimmer-Wohnungen sind zwischen 85 und 100 Quadratmeter gross. Flächen, die auch für vier oder fünf Zimmer reichen würden.

Links: Die Einrichtung ist schon fast komplett. Es fehlt noch ein Arbeitstisch. Rechts: Abstellfläche oder Sitzgelegenheit: Einige der runden Fenster haben ausladende Simse.

Die Preise sind entsprechend. Eine grosse 3½-Zimmer-Wohnung im vierten Stock kostet fast 4000 Franken im Monat. Die 167 Quadratmeter grosse 4½-Zimmer-Wohnung im neunten Stock mit Panoramaterrasse schlägt mit knapp 6000 Franken zu Buche. Keller oder Estriche gibt es nicht – dafür verfügt jede Wohnung über ein Reduit.

Arion Tsourekis ist Eigentümervertreter von Swiss Life, ist in Altstetten aufgewachsen und steuert die Vermarktung der Wohnungen. «Die Mieten bewegen sich im 70- bis 80-Prozent-Quantil», sagt er. Will heissen, 70 bis 80 Prozent der Angebotsmieten an vergleichbarer Lage sind günstiger.

Sind diese Preise selbst im nach Wohnraum ächzenden Zürich zu hoch?

«Nein», sagt Tsourekis. «Uns war von Anfang an klar, dass wir etwas Zeit brauchen werden, um alle Wohnungen zu vermieten», sagt er. «Es sind Wohnungen, die man besichtigen und erleben können muss.» Dann sei auch verständlich, warum man für 3½ Zimmer gleich viel zahle wie für eine durchschnittliche 4½-Zimmer-Wohnung. Es sei im gesamten Portfolio von Swiss Life eine aussergewöhnliche Liegenschaft.

Seit Abschluss der Bauarbeiten gehe es voran mit der Vermietung, sagt Tsourekis. Die Bewohnerschaft sei sehr gemischt – «von Gen-Z-Studenten bis zu Babyboomern». Er sei gespannt, wie sich das Zusammenleben entwickle. Die grosse Dachterrasse auf dem Riegelbau an der Badenerstrasse stehe allen Mietern zur Verfügung.

Pizza zum Mitnehmen – auf dem eigenen Teller

Die Tilia-Überbauung bietet nicht nur Neo-Altstettern ein zu Hause, sondern auch Alteingesessenen. Im Erdgeschoss an der Badenerstrasse hat ein Restaurant der Bindella-Gastronomie Santa Lucia seine Türen geöffnet. Seit 1979 ist der Betrieb im Quartier heimisch, bis vor einem Jahr im Migros-Gebäude, wenige Strassen weiter. Dort musste das Restaurant aber ausziehen, die Migros brachte stattdessen ein Molino-Lokal unter.

Verschiedene Bindella-Lokale befinden sich in Liegenschaften von Swiss Life. «Uns war es wichtig, einen erfahrenen Gastronomiebetrieb als Partner in diesem Projekt zu haben», sagt Arion Tsourekis. Diese wüssten genau, was sie brauchten, damit der Innenausbau im ersten Anlauf stimme.

So verfügt das Gebäude von Herzog & de Meuron nun auch über einen runden Pizzaofen, in dem pro Woche etwa 24 Kubikmeter Holz verbrannt werden. Am neuen Standort arbeitet das gleiche Team wie am alten. Die langjährigen Stammkunden seien ebenfalls mitgezogen, sagt der Patron Rudi Bindella stolz.

Das Lokal sei auch bei den Tilia-Bewohnern beliebt, sagt Bindella. Manche brächten gar ihre eigenen Teller mit, wenn sie ihre Pizzen abholten. Ein bisschen dörflich ist es eben auch in der Designerüberbauung.

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