Seit Tagen protestieren Bewohner der Grenzprovinz Tawusch gegen die Abtretung von Land an Aserbaidschan. Die Regierung in Erewan erhofft sich von den Zugeständnissen Frieden mit Baku. Aber die Bevölkerung fühlt sich bedroht und verraten.
Mit einer Pressemitteilung brach vor zwei Wochen für die Bewohner von vier Dörfern im Norden Armeniens eine Welt zusammen. Armenische und aserbaidschanische Unterhändler hätten sich auf die Delimitation des Grenzverlaufs verständigt, hiess es in der trocken formulierten Mitteilung. Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan lobte die Übereinkunft: Zum ersten Mal seien sich Armenien und Aserbaidschan ohne Anwendung von Gewalt am Verhandlungstisch einig geworden. Die betroffenen Dorfbewohner aber fühlen sich betrogen, verraten und dem Feind ausgeliefert.
Tagelang blockierten die Einwohner der Provinz Tawusch, in welcher der Grenzabschnitt liegt, die für den Güterverkehr wichtige Verbindungsstrasse nach Georgien. Aus Solidarität schlossen sich ihnen Bewohner anderer Landesteile an. Kirchenvertreter und selbst Soldaten stellten sich auf die Seite der Protestierenden. Immer wieder kam es zu Zusammenstössen mit der Polizei. Proteste gibt es auch in der Hauptstadt Erewan. Viele fürchten angesichts der Konzessionen an Aserbaidschan um die Sicherheit und Eigenständigkeit Armeniens.
Sicherheit gegen Konzessionen
Aus Sicht der Regierung und mancher politischer Kommentatoren verhält es sich allerdings genau umgekehrt: Um Armeniens Sicherheit zu gewährleisten und einen neuen Angriff Aserbaidschans abzuwenden, seien die Zugeständnisse an den Nachbarn unabdingbar. Andernfalls werde Aserbaidschans autoritärer Herrscher Ilham Alijew sich das, was er beanspruche, einfach mit Gewalt holen. Und weil Armenien militärisch zu schwach sei, müsse ein neuer Krieg unbedingt verhindert werden.
Armenien hatte im vergangenen September hinnehmen müssen, dass Alijew das bis dahin mehrheitlich armenisch besiedelte Rumpfterritorium von Nagorni Karabach erobert. Alijew hatte seinen Triumph sogleich genutzt, um sich Armenien selbst zuzuwenden. Einen Friedensvertrag zwischen den beiden Staaten könne es nur geben, wenn Armenien weitere territoriale Konzessionen mache, forderte Alijew. Er verlangte auch, dass Armenien in einer Verfassungsreform jedweden Anspruch auf Karabach aufgebe. Mitunter nannte er gar Erewan eine eigentlich aserbaidschanische Stadt.
Für Paschinjans Gegner sind Alijews immer weiter reichende Forderungen der Beleg dafür, dass Konzessionen ins Verderben führen. Schon bei Karabach war Paschinjan bereit, auf das für Armenien kulturgeschichtlich bedeutsame Gebiet zu verzichten, um das Verhältnis zu Aserbaidschan zu regeln. Allerdings hatte er auf eine friedliche Lösung gehofft, die den Verbleib der armenischstämmigen Bevölkerung dort ermöglicht hätte. Den Krieg und die Flucht von über hunderttausend Karabachern hat dies nicht verhindert.
Jetzt befürchten die Gegner Paschinjans und die Dorfbewohner in Tawusch, dass sich Alijew auch an künftige Abmachungen nicht halten wird. Am Ende, so ihre Sorge, wolle er sich mithilfe der Türken und vielleicht auch der Russen ganz Armenien einverleiben. Ein Zeichen dafür erkennen sie darin, dass Armenien zwar bereit ist zur Grenzbereinigung, Aserbaidschan aber armenische Territorien, die es seit 2021 besetzt hält, nicht zurückgeben will.
Aserbaidschan rückt ganz nah an die Dörfer
Konkret sieht die vor zwei Wochen getroffene Vereinbarung die Übergabe von vier ursprünglich aserbaidschanischen Dörfern im Grenzgebiet der Provinz Tawusch vor. Armenien hatte sie während des armenisch-aserbaidschanischen Kriegs in den frühen neunziger Jahren zur Absicherung seiner Siedlungsgebiete und militärischen Stellungen erobert. Sie sind heute unbewohnt. Durch die Grenzbereinigung werden die Aserbaidschaner nun zum Teil bis auf wenige Dutzend Meter an armenische Siedlungen und an eine wichtige Erdgaspipeline und die Verbindungsstrasse nach Georgien heranrücken.
Die Bewohner der armenischen Dörfer Baganis, Woskepar, Kiranz und Berkaber fühlen sich künftig schutzlos und sehen für sich keine Zukunft. In Kiranz wird die Grenze möglicherweise durch die Siedlung hindurchführen; Berkaber wird von aserbaidschanischem Gebiet fast umschlossen sein. Militärische Positionen, die zum Schutz der Dörfer errichtet worden waren, gehen verloren. Zudem sollen die russischen Grenzwächter sowie armenische Soldaten abgezogen und auf beiden Seiten durch reguläre Grenzschützer ersetzt werden.
Alijew erhebt Anspruch nicht nur auf die jetzt in der Vereinbarung genannten Grenzabschnitte in Tawusch. Auch vier sogenannte Enklaven sind betroffen. Dabei handelt es sich um Dörfer, die zu Sowjetzeiten zu heute aserbaidschanischen Territorien gehört hatten, aber vollständig auf armenischem Gebiet liegen und bis zum ersten Karabach-Krieg Anfang der neunziger Jahre von Aseri bewohnt waren.
Paschinjan hat keine Alternativen
Erhielte Aserbaidschan die Kontrolle über diese Gebiete, würden weitere für Armenien strategisch wichtige Verbindungsstrassen durch aserbaidschanisches Territorium führen – nicht nur im Norden Richtung Georgien, sondern auch in Zentralarmenien an der einzigen Strasse, die Erewan mit der Provinz Sjunik im Süden verbindet. Die früher wichtigste Route an die iranische Grenze ist seit Herbst 2021 nicht mehr frei passierbar, weil sie stellenweise auf aserbaidschanischem Boden liegt und die Aseri Grenzposten aufgestellt haben.
Dieser Grenzabschnitt dürfte wohl der nächste für die Delimitation sein; Aserbaidschan hat sich, etwa im Ort Schurnuch, bereits eigenmächtig Dorfteile genommen. Auch hier wollen sich die beiden Parteien auf die sogenannte Alma-Ata-Deklaration berufen, die Ende 1991 beim Zerfall der Sowjetunion die gegenseitige Anerkennung der Teilrepubliken in ihren sowjetischen Grenzen festschrieb.
So gross der innenpolitische Widerstand auch gegen die Grenzbereinigung ist: Eine andere Wahl hat Paschinjan derzeit nicht. Der Westen, bei dem er nach Rückhalt sucht, drängt zum Frieden mit Aserbaidschan, ebenso Russland, das ein für Erewan schmerzhaftes Doppelspiel spielt. Es prangert einerseits Paschinjans Politik als für Armenien schädlich an und bringt anderseits Alijew in Moskau grösste Wertschätzung entgegen. Das schmerzt Armenien als langjährigen engen Verbündeten Russlands sehr. Es zeigt, dass der Kreml sich auch im Südkaukasus neu ausrichtet.

