Dienstag, Oktober 8

Die Flucht der Regierungschefin hat das Land ins Chaos gestürzt. In der Folge verübten Islamisten gezielte Anschläge gegen religiöse Minderheiten. Hindus wurden ermordet und religiöse Stätten zerstört.

Obwohl die Verfassung der Volksrepublik Bangladesh mit der Anrufung «Im Namen Allahs, des Wohltäters, des Barmherzigen» beginnt und den Islam zur Staatsreligion erklärt, ist das Land eine säkulare Demokratie. Der jüngste Volksaufstand in Bangladesh hatte denn im Grunde auch nie einen explizit islamistischen oder ethnischen Hintergrund. Doch als die Premierministerin Sheikh Hasina Wajed am 5. August – in ihrem fünfzehnten Jahr an der Spitze des Landes – überstürzt zurücktrat und nach Indien flüchtete, begann für viele Hindus in Bangladesh ein Albtraum.

Gewalt und Anarchie begleiteten die Revolte. Bis heute kamen 650 Menschen ums Leben. Unter den Opfern finden sich sowohl Demonstranten wie vor allem auch Mitglieder der bedrängten hinduistischen Minderheit des Landes.

Zu Hasinas Sturz hat eine ganze Reihe von Faktoren beigetragen. Sie entwickelte sich allmählich zu einer autoritären Regierungschefin, die politische Gegner mit ungesetzlichen Mitteln bekämpfte, Dissidenten zum Schweigen brachte und sich im vergangenen Januar eine fünfte Amtszeit sicherte in einer Wahl, die von der wichtigsten Oppositionspartei boykottiert wurde. Parallel dazu ging die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte Bangladeshs abrupt zu Ende.

Noch 1971 hatte Henry Kissinger das Land als «75 Millionen Menschen in einem Sumpf» verspottet. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Land jedoch in vieler Hinsicht gewandelt. Das verdankte Bangladesh vor allem den florierenden Textilexporten sowie einer effizienten Geburtenkontrolle und Familienplanung. Das wiederum ging einher mit einer Stärkung der Rolle der Frau in der Gesellschaft.

Das alles sind ungewöhnliche Fortschritte für ein muslimisches Entwicklungsland. Doch mit dem Rückschlag nach der Covid-Pandemie hat sich das Blatt gewendet, und Bangladesh ist von einer der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt zu einem stagnierenden Land geworden.

Chaos folgte auf den Sturz der Regierung

Inflation, Arbeitslosigkeit, die allgegenwärtige Korruption und vor allem eine Quotenpolitik, die einen grossen Teil der staatlichen Stellen den Nachkommen der Veteranen des Befreiungskrieges von 1971 vorbehielt, schürten Unzufriedenheit, Frustration und Unmut. Als Studenten im ganzen Land auf die Strasse gingen, um gegen die Regierungspolitik und die Quotenregelung zu protestieren, reagierte Hasina mit Repression und Gewalt.

Die Premierministerin beschimpfte die Demonstranten als «Razakars». So hiessen die Milizen, die 1970/71 zahllose Studenten und andere Demonstranten, die eine Befreiung von der Tyrannei Westpakistans forderten, massakrierten. Sie rief die Polizei, paramilitärische Einheiten und bewaffnete Kader ihrer politischen Partei auf den Plan, um den Aufstand niederzuschlagen. In dem Monat seit Beginn der Proteste bis zu Hasinas Sturz und Flucht wurden in dem Chaos etwa 300 Menschen getötet. Als sich die Armee weigerte, weiterhin auf unbewaffnete Demonstranten zu schiessen, floh Hasina nach Indien.

Der Armeechef General Waker-Uz-Zaman, der ein Verwandter von Hasina ist, setzte in Absprache mit den Studentenführern eine Übergangsregierung unter der Führung des 84-jährigen Friedensnobelpreisträgers Muhammad Yunus ein. Der Aktivist, der sich für eine moderne Zivilgesellschaft einsetzt, war lange Zeit Opfer einer von Hasina tatkräftig unterstützten Hexenjagd gewesen.

Zunächst schien diese Regierung gut gerüstet, um eine demokratische Erneuerung Bangladeshs einzuleiten. Doch während Hasina in Indien, das eng mit ihr verbündet war, sofort Asyl erhielt, sahen sich ihre Anhänger in Bangladesh der Vergeltung vonseiten ihrer Gegner ausgesetzt. Die Wut der Demonstranten wurde zusätzlich aufgestachelt von der seit langem schon bestehenden Nähe Indiens zu Hasinas Partei. Diese Verbundenheit geht zurück bis auf die Rolle Indiens bei der Befreiung 1971, die von Hasinas Vater Sheikh Mujibur Rahman angeführt worden war.

Nach Hasinas Flucht zerstörten die Aufständischen ein Symbol nach dem anderen dieser indisch-bangalischen Freundschaft. Das Indira-Gandhi-Kulturzentrum in Bangladeshs Hauptstadt Dhaka wurde verwüstet; die Gedenkstätte für Sheikh Mujibur ging in Flammen auf; und sogar das Denkmal für den Befreiungskrieg von Bangladesh in Mujibnagar, das die Kapitulation der pakistanischen Streitkräfte vor der indischen Armee darstellt und den Beginn der Freiheit Bangladeshs markiert, wurde von anti-indischen Vandalen beschädigt.

Der Mob attackiert Hindus

Was zunächst weltweit als pluralistische und fortschrittliche demokratische Revolution gepriesen wurde, mündete schliesslich in gewalttätige Anarchie und führte zu landesweiten Plünderungen, Brandstiftungen und Angriffen auf Vertreter religiöser Minderheiten Bangladeshs. Betroffen waren in erster Linie Hindus, die nach wie vor eng mit Indien verbunden sind.

Gemäss Angaben einer gemeinnützigen Organisation zum Schutz der Rechte von religiösen Minderheiten gab es in den zwei Wochen seit dem Sturz Hasinas 205 tätliche Attacken auf Hindus sowie andere religiöse Minderheiten im ganzen Land. Die Anschläge richteten sich gegen Leib und Leben von Gläubigen, doch kam es auch zu Vandalismus, indem Gebetshäuser sowie Geschäfte und damit auch die Lebensgrundlagen zahlreicher Menschen zerstört wurden.

Nach Hasinas Absetzung teilte der Generalsekretär der Organisation in einer Erklärung mit, dass allein in den ersten beiden Tagen nach der Flucht Wohnhäuser und Geschäfte von Minderheitenangehörigen an mindestens 97 Orten angegriffen, verwüstet und geplündert worden seien. Bereits am ersten Tag nach dem Sturz wurden zehn Hindutempel von Angreifern zerstört und teilweise in Brand gesteckt. Schon tags zuvor sind zwei Hindu-Ratsmitglieder der Stadtverwaltung von Rangpur getötet worden, während weitere Hindus, die Hasinas Awami-Liga nahestanden, gelyncht wurden. Da Hindus generell als Unterstützer der geflüchteten Präsidentin gelten, ist die gesamte Gemeinschaft von solcher willkürlicher Vergeltung bedroht.

Hindus sind die grösste religiöse Minderheit in Bangladesh, auch wenn ihre Zahl stark zurückgegangen ist. Nach den Angriffen gingen Tausende von ihnen auf die Strasse und protestierten mit Slogans wie «Wer bist du? Wer bin ich? Bengale, Bengale.» Sie setzten damit ein Zeichen dafür, dass ungeachtet der religiösen Unterschiede alle Bengalen dank ihrer gemeinsamen Muttersprache und Kultur zusammenstehen sollten und zusammengehören.

Ausserdem versuchten sie, das Land hinter dem Grundsatz zu einen: «Keiner von uns ist frei, solange wir nicht alle frei sind.» Immerhin sah sich darauf die Übergangsregierung gezwungen, sich schützend vor die Hindus und andere Minderheiten zu stellen. Muhammad Yunus verurteilte die Verfolgung religiöser Minoritäten als «abscheulich» und forderte alle muslimischen Studenten auf, ihre hinduistischen sowie die weniger zahlreichen buddhistischen und christlichen Landsleute vor der Barbarei des Mobs zu verteidigen. Man vermutet, dass die Angreifer aufgewiegelt worden sind von Sympathisanten des IS und von Extremisten der wichtigsten Oppositionspartei, der Bangladesh Nationalist Party von Begum Khaleda Zia.

Zwischen Hoffen und Bangen

«Sind wir nicht alle Menschen dieses Landes, sind das nicht unsere Landsleute?», fragte Yunus seine Anhänger. «Ihr konntet das Land retten. Könnt ihr nicht auch diese Familien retten?» Sein Appell zeigte Wirkung: Hunderte von Studenten meldeten sich freiwillig, um die Tempel und Häuser ihrer hinduistischen Mitbürger zu bewachen. Sie bildeten Menschenketten um heilige Stätten herum wie den Dhakeshwari-Tempel in Dhaka und patrouillierten nächtelang durch hinduistische Ortschaften. Yunus selbst besuchte den von jungen Revolutionären beschützten Tempel, um ein Zeichen der Solidarität und Unterstützung zu setzen gegen die sinistren Absichten der Islamisten.

Als indischer Demokrat stehe ich auf der Seite des Volkes von Bangladesh und seines Rechts, über sein eigenes politisches Schicksal zu bestimmen. Aber die Situation wird durch die Tatsache erschwert, dass die abgesetzte Hasina-Regierung ein unerlässlicher Verbündeter Indiens war. Sie stand als Bollwerk gegen den schleichend erstarkenden Islamismus und hielt zuverlässig die von Bangladesh aus gegen Indien operierenden bewaffneten Milizen in Schach.

Zu den berechtigten Sorgen um die Sicherheit der Hindus in Bangladesh kommen Befürchtungen hinzu, dass Kräfte die Kontrolle über das Land übernehmen könnten, die gegen den indischen Staat feindlich gesinnt sind. Denn solche nationalistischen Gruppierungen könnten empfänglich sein für die Einmischung islamistischer Kreise, die mit Pakistans Rückendeckung operieren und von Pakistans Allzweckverbündetem und Schirmherrn China unterstützt werden.

Da Bangladesh von drei Seiten von Indien umgeben ist, spielt das Land eine prominente Rolle im Bewusstsein der Bevölkerung. Und es trifft zumindest teilweise zu, dass der Angriff auf das Leben, den Lebensunterhalt und die Einrichtungen von Hindus in Bangladesh ein Überschwappen der heftigen politischen Empörung gegen die Awami-Liga darstellt. Diese ist die einzige säkulare Partei in einem mehrheitlich muslimischen Land und überdies eine Partei, die in ihrer Politik als indienfreundlich gilt.

Lange Geschichte der Verfolgung

Während der von Studenten angeführte republikanische Aufruhr erst in diesem Jahr begann und die Vorherrschaft von Hasina und der Awami-Liga hinwegfegte, haben die Hindus in Bangladesh seit Jahren mit enormen Herausforderungen zu kämpfen. Erst vor drei Jahren wurden Hindus nach einer Mob-Attacke auf einen Tempel in Comilla während und nach ihrem grössten religiösen Fest des Jahres brutal angegriffen. Ein gnadenloser Mob setzte Dutzende von Hinduhäusern in Brand und entweihte Tempel und religiöse Einrichtungen im ganzen Land. Vier Menschen wurden bei Schiessereien mit der Polizei getötet und mehr als hundert Menschen schwer verletzt.

In den Jahren 2022 und 2023 war die Situation gemäss Berichten des amerikanischen Aussenministeriums über internationale Religionsfreiheit nicht viel besser. Im Juli 2022 hatte eine muslimische Menschenmenge eine überwiegend hinduistische Gemeinde in Narail wegen eines Facebook-Posts angegriffen. Der Social-Media-Eintrag hatte angeblich den Islam beleidigt. Der Bericht des Aussenministeriums zitierte Vertreter von religiösen Minderheitengruppen, laut denen die Sicherheitskräfte die hinduistischen Opfer nicht geschützt haben.

In ähnlicher Weise beklagten 2023 führende Vertreter der Hindus, dass die Behörden Bangladeshs routinemässig das Gesetz über digitale Sicherheit gegen Angehörige religiöser Minderheiten, «insbesondere Hindus», einsetzen, weil sie angeblich «die religiösen Gefühle» der muslimischen Mehrheit beleidigten. Im September rief der Bangladesh Hindu Buddhist Christian Unity Council einen Hungerstreik aus, um die Erfüllung früherer Wahlversprechen zu fordern.

Zu den Forderungen des Unity Council gehörte die Verabschiedung eines Gesetzes, auf dessen Grundlage Bürger Eigentum zurückfordern könnten, das die Regierung nach der Unabhängigkeit verstaatlicht hatte. Betroffen waren davon mehrheitlich Hindus. Weiterhin forderte der Council die Einsetzung einer nationalen Minderheitenkommission, die Verabschiedung eines Sondergesetzes zum Schutz religiöser Minoritäten und die Wiedereinführung der Beschäftigungsquote für diese Minderheiten bei staatlichen Stellen.

Insgesamt hat die Ain o Salish Kendra, eine bangalische Menschenrechtsgruppe, seit Januar 2013 über 3500 Angriffe auf die hinduistische Religionsgemeinschaft registriert, darunter Vandalismus, Brandstiftung und gezielte Gewalt. In fast allen diesen Fällen versäumten es die Behörden, die Opfer zu schützen und die Angreifer vor Gericht zu stellen.

Ein Erbe der britischen Herrschaft

Die indische Region Bengalen erlebte drei wichtige Ereignisse, die ihre Konturen im 20. Jahrhundert bestimmen. In Verfolgung ihrer Politik des «Divide et impera» teilten die Briten Bengalen zunächst 1905 auf, um eine mehrheitlich muslimische Provinz im Osten zu schaffen. Die öffentlichen Proteste gegen diese Massnahme waren jedoch so gross und heftig, dass die Teilung 1911 wieder rückgängig gemacht wurde. Die Briten setzten indessen ihre imperiale Politik in den folgenden Jahrzehnten fort. Das führte zur Teilung Indiens im Jahr 1947, um einen mehrheitlich muslimischen Staat Pakistan zu schaffen.

Dieser neue Staat bestand aus zwei Gebieten, einem im Westen und Bengalen im Osten, die durch das grosse indische Territorium getrennt waren. Die Religion erwies sich jedoch als unzureichend, um die beiden Hälften zusammenzuhalten, und nach einem blutigen Befreiungskrieg im Jahr 1971, der einen völkermörderischen Angriff der pakistanischen Armee einschloss, bei dem über eine Million Bengalen getötet wurden und über zehn Millionen nach Indien flüchteten, wurde Ostpakistan als Bangladesh wiedergeboren.

Im Jahr 1947, nach der Teilung Bengalens, bestand Ostbengalen aus 71 Prozent Muslimen und 29 Prozent Hindus. Im Jahr 1971 war der Anteil der Hindus in Ostbengalen als Folge der pakistanischen Diskriminierung und Verfolgung auf 13 Prozent gesunken. Heute sind es noch 8 Prozent. Dies ist die düstere Realität, vor deren Hintergrund Yunus das Amt als Chef der Übergangsregierung übernommen hat. Die Zukunft Bangladeshs als säkulare Demokratie hängt nun im Wesentlichen davon ab, wie er und seine Studentenführer die Minderheiten im Land schützen.

Die Zeichen sind vielversprechend. Nach seinem Besuch im Dhakeshwari-Tempel am 13. August versicherte Yunus den religiösen Minderheiten in Bangladesh, dass sie in Sicherheit seien. «Die Rechte», so sagte er, «sind für alle gleich.» Er forderte die bangalischen Hindus auf, sich als Kinder des Landes zu betrachten, und fügte hinzu: «In unseren demokratischen Bestrebungen sollten wir nicht als Muslime, Hindus oder Buddhisten gesehen werden, sondern als Menschen.»

Nach dieser Bekräftigung des Säkularismus in der bangalischen Verfassung fand in Dhakeshwari ein Treffen führender Hindus und Muslime statt, bei dem die beiden Gemeinschaften bekräftigten, nur durch die Förderung des Konsenses und die Stärkung der religiösen Harmonie voranzukommen. Als der indische Premierminister Narendra Modi kurz darauf zum ersten Mal mit Yunus telefonierte, versicherte dieser ihm, dass er sich für den Schutz aller Bangalen, einschliesslich der Angehörigen religiöser Minderheiten, einsetzen werde, und fügte hinzu, dass die Unruhen in Bangladesh «unter Kontrolle gebracht worden seien und sich das Leben im ganzen Land normalisiere».

Die Übergangsregierung von Yunus hat sich verpflichtet, freie und faire Wahlen abzuhalten und die Macht an eine gewählte Regierung zu übergeben, die möglicherweise weniger tolerant gegenüber Hindus ist als seine eigene. Er wies darauf hin, dass vor den Wahlen eine grundlegende Reform der Institutionen Bangladeshs vollzogen werden müsse. Im Moment kann man freilich nur hoffen, dass sich seine humanistische und integrative Vision während des Übergangs im Land durchsetzt und nicht der hasserfüllte Fanatismus einiger von Hasinas Gegnern, die sich jetzt über ihren unerwarteten Triumph freuen.

Der andere bengalische Nobelpreisträger, Rabindranath Tagore, der 1913 den Nobelpreis für Literatur erhielt, wird auf beiden Seiten der Grenze als bengalischer Goethe oder Shakespeare verehrt. Seine Verse dienen als Nationalhymnen beider Länder, sowohl Indiens wie Bangladeshs. Diese kulturelle Einheit, die gemeinsame Geschichte und der sprachliche Stolz könnten den Hindus in Bangladesh die Hoffnung geben, dass sie in ihrem eigenen Land in Sicherheit leben können. Doch die kommenden Monate werden kritisch bleiben. Denn man muss befürchten, dass die Anarchie, die Yunus und seine Regierung einzudämmen versuchen, wieder um sich greifen könnte. Wenn dies der Fall sein sollte, gibt es kaum Zweifel, wer die Hauptopfer sein werden.

Shashi Tharoor ist Schriftsteller und Jurist. Er ist seit 2009 Mitglied des indischen Unterhauses und wurde bei den jüngsten Wahlen als Mitglied der Opposition wiedergewählt. – Aus dem Englischen von rbl.

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