Sonntag, Oktober 6

Es wird schweres Geschütz aufgefahren gegen die Kulturschaffenden. Doch die Kunstfreiheit darf nicht der Willkür und der Gesinnungsschnüffelei des Staates ausgeliefert werden.

Noch selten waren die Künstler und ihre Werke zwischen Genf und Hamburg so harmlos wie gerade jetzt. Wenn es einem Performance-Künstler und notorischen Bürgerschreck wie Jonathan Meese den Arm zum Hitlergruss heraufreisst, dann ist das längst keine Provokation mehr, sondern einfach nur albern. Er wird noch nicht einmal mehr vor Gericht gezerrt, und auch das Publikum gerät nicht gleich in Aufregung. Man kennt mittlerweile Meeses Spezialgebiet.

Wie anders war das, als 1913 in Paris Igor Strawinskys Ballett «Le Sacre du printemps» uraufgeführt wurde. Kaum waren die ersten Töne gespielt, regte sich im Publikum johlend und pfeifend Protest, und erst recht eskalierte der Aufruhr, als die Tänzer auftraten. Der Saal tobte. Und wann hat zuletzt der «Spiegel» auf seinem Cover-Bild einen Literaturkritiker gezeigt, der grimmig ein Buch zerreisst? Dreissig Jahre ist es her, dass Marcel Reich-Ranicki den Roman «Ein weites Feld» von Günter Grass in Stücke riss. Viele Emotionen, wenn vielleicht auch nur gespielte, für ein Buch, das noch nicht einmal zu Grass’ bedeutendsten Werken zählt.

Die Künstler mögen heutzutage zwar harmlos sein, als ungefährlich gelten sie trotzdem nicht. Gerade wird grösstes Geschütz gegen sie aufgefahren. Wäre es nach Berlins Kultursenator Joe Chialo gegangen, hätten die Kulturschaffenden für Förderanträge eine Antisemitismusklausel unterzeichnen müssen. Der Plan ist fürs Erste gescheitert, und Chialo hat sein Projekt einer Gesinnungsprüfung nach heftigem Protest zurückgezogen, um es zu überdenken. Derweil scheint dafür seine Kollegin, die Berliner Justizsenatorin Felor Badenberg, gleich aufs Ganze gehen zu wollen.

Wer in Berlin in Zukunft Geld will, sei es im Kulturbereich, sei es anderswo, soll vom Verfassungsschutz überprüft werden. Kein Cent der staatlichen Zuwendungen dürfe «an Personen und Gruppen gehen, die unsere Demokratie bekämpfen», kündigte sie in einem Interview mit der «Süddeutschen Zeitung» an. Mit anderen Worten: Nicht die Werke sind besonders gefährlich geworden, sondern die Künstler selber stehen unter Generalverdacht, Feinde des Staates und seiner Verfassung zu sein. Solange der Inlandsgeheimdienst nicht grünes Licht gibt, wird kein Cent ausgehändigt. So stellt es sich Felor Badenberg vor.

Ein untaugliches Vorhaben

Man fragt sich, wovor die Justizsenatorin eigentlich Angst hat. Vermutlich sind es nicht die Künstler, die sie das Grauen lehren. Eher wird sie fürchten, die Behörden könnten blossgestellt werden, weil sie tatsächlich einmal einen Cent oder auch mehr an jemanden auszahlen, der keine lupenreine Gesinnung hat. Wäre dadurch der Staat bereits gefährdet? Nein. Aber die Verantwortlichen müssten hinstehen und erklären, wie es dazu gekommen ist, dass sie einem Feind der Verfassung Geld gegeben haben.

Hätte es der Verfassungsschutz verhindern können? Kaum. Denn wie viele Antragsteller sind dort aktenkundig? Wir wissen es nicht. Aber eine kleine retrospektive Erhebung hätte einen Anhaltspunkt geben können. Die Justizsenatorin wird sich die Mühe erspart haben, sonst hätte sie längst Zahlen genannt. Das Verfahren dürfte also untauglich sein, die damit angeblich verfolgten Zwecke zu erfüllen.

Es geht um etwas anderes. Die Behörden fürchten nicht die Kunst oder die Künstler, sie zittern davor, dass diese von der Freiheit, die ihnen das Gesetz gewährt, zu ausgiebig Gebrauch machen könnten. Einen Gebrauch zumal, bei dem man dann nicht mehr auf den ersten Blick zu sagen weiss, ob er von der Kunstfreiheit noch hinreichend gedeckt ist. Darum möchte die Justizsenatorin, dass der Geheimdienst Antragsteller überprüft.

Die Bürger sind gefordert

Es gab in jüngster Zeit tatsächlich einige Vorfälle, in denen Kulturschaffende Kunst mit Aktivismus verwechselten. Vor zwei Jahren etwa ist an der Documenta in Kassel das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa, das den Anlass kuratiert hat, mit seiner agitatorischen Energie aufgefallen. Wiederholt hat es Werke mit antiisraelischer und antisemitischer Propaganda sowie mit Hakenkreuzen gezeigt.

Hätte Felor Badenbergs Verordnung hier präventiv wirken können? Kann überhaupt eine Verordnung die Öffentlichkeit davor schützen, dass die Kunst Grenzen auslotet oder gar überschreitet? Man kann die Frage auch zu einer Forderung an die Zivilcourage zuspitzen: Die Öffentlichkeit braucht nicht vor den Folgen solcher Agitprop-Kunst geschützt zu werden, vielmehr läge es gerade in der Verantwortung der Zivilgesellschaft und der Individuen, ein solches Kunstverständnis und solchen Aktivismus diskursiv herauszufordern.

Jedenfalls kann es die Gesellschaft nicht zulassen, dass Konflikte, die in ihrer Mitte ausdiskutiert werden müssen, an den Gesetzgeber und an das Recht delegiert werden. Ein robustes Selbstverständnis der Bürger wird es darum nicht hinnehmen, wenn sich der Staat jener Aufgaben bemächtigt, die sie selber übernehmen müssen und ohnehin besser lösen können. Gesetze sind nicht dazu da, die Bequemlichkeit zu befördern und den Bürgern Pflichten und Rechte abzunehmen.

Wenn die Behörde aktiv werden will, dann soll sie nicht neue Gesetze oder Verordnungen erlassen. Denn gerade im Fall der Documenta handelte es sich um ein krasses Versagen der privatrechtlichen Aufsichtsorgane. Statt den Inlandsgeheimdienst zu bemühen, müsste man also dafür sorgen, dass in den Leitungsorganen öffentlicher Kulturinstitute oder der staatlichen Kulturförderung ausreichend Sachverstand vorhanden ist und ebenso das nötige Durchsetzungsvermögen, damit die Verantwortung dort wahrgenommen wird, wo sie tatsächlich liegt.

Inkompetente Jury

Von einem Versagen der verantwortlichen Gremien konnte man auch im vergangenen Jahr sprechen, als in Basel ein Gesuch des Schriftstellers Alain Claude Sulzer für einen Werkbeitrag einen Eklat auslöste. In der Jury war man sich einig, dass dem Autor für sein Buchprojekt ein Zuschuss gewährt werden solle. Da in der eingereichten Leseprobe jedoch von Zigeunern die Rede war und diese überdies in einer mitunter stereotypen Weise geschildert wurden, wird die Kommission ein Unbehagen beschlichen haben.

Statt nach Abwägung literarischer Kriterien mit einem beherzten Ja oder entschiedenen Nein auf den Antrag zu reagieren, was die Aufgabe einer Jury ist und was aufgrund des vorliegenden Auszugs problemlos möglich gewesen wäre, entschied man sich für ein «Ja, aber». Man bat Sulzer, er möge bitte erklären, was es mit den Zigeunern in seinem Text für eine Bewandtnis habe.

So also sieht die neue Furcht vor der Kunst aus: Alles gut und recht, wenn nur diese Zigeuner nicht wären. Wenn der Autor sie doch wenigstens mit einer Fussnote versehen würde! Es würde das Gewissen der Jury beruhigen. Aus nachvollziehbaren Gründen zog Alain Claude Sulzer seinen Antrag unter Protest gegen das Ansinnen des Kulturamtes zurück.

Nach dem Eklat untersuchte die Geschäftsprüfungskommission die Vorgänge. Sie kam zu einem völlig unzureichenden Ergebnis und belanglosen Empfehlungen, wie das Verhältnis zwischen externer Jury und Verwaltung zu regeln sei. Sie hat das wahre Problem nicht erkannt. Sie hätte die Inkompetenz sowohl der Jury wie auch der Leitung der Abteilung Kultur feststellen müssen. Denn beide wissen offenkundig nicht zu unterscheiden zwischen einer fachlichen und einer gesinnungsethischen Prüfung.

Den Staat braucht es erst zuletzt

Die Kunstfreiheit ist ein zu hohes Gut, als dass sie der Willkür und dem Zugriff des Staates ausgeliefert werden dürfte. Es kann diesem oder seinen Behörden nicht gestattet werden, sie im Zweifelsfall oder auf blossen Verdacht hin einzuschränken. Das gilt insbesondere auch für die öffentliche Kulturförderung. Sie darf sich nicht zur Prüfstelle der richtigen Gesinnung degradieren lassen und diese zur Voraussetzung eines Zuschusses machen.

Allerdings stelle man sich einmal vor, der bekennende Antisemit Richard Wagner würde heutzutage einen Antrag auf finanzielle Unterstützung seiner Kompositionen stellen. Wäre es legitim oder sogar zwingend, den biografischen Hintergrund auszublenden und nur auf die Musiknoten zu schauen? Die meisten würden die Frage vermutlich reflexartig mit Nein beantworten. Und trotzdem leistet die öffentliche Hand in Deutschland knapp einen Drittel an das Budget der Bayreuther Festspiele.

Die Dinge liegen also komplizierter, als es das Lehrbuch gern hätte. Und jeder aufgeschlossene Zeitgenosse würde bekräftigen, dass die Kunst anstössig sein soll, dass sie Grenzen überschreiten, provozieren und Tabus brechen dürfe. Die Gesellschaft muss das aushalten. Dem Staat jedoch bleibt es unbenommen, seine Schmerzgrenze zu definieren. Es gibt keinen rechtlichen Anspruch auf Förderung.

Wo die Kunst indessen die Grundrechte anderer antastet, ist die freiheitliche Gesellschaft in der Pflicht. Dann gilt es, entschieden Einspruch und Widerspruch zu erheben. Es mag zuletzt auch die Justiz einschreiten, um in einer rechtlichen Güterabwägung festzustellen, ob ein Missbrauch der Kunstfreiheit vorliegt. Bis dahin jedoch hüte sich der Staat, die Kunstfreiheit einschränken oder bändigen zu wollen.

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