Donnerstag, Januar 30

Am 8. Mai 1945 war der Krieg zu Ende. Offiziell. In einzelnen Teilen Deutschlands war er schon viel früher fertig. Und in Japan stand das Schlimmste noch bevor.

Das ist das Ende! Unzählige Male wurde dieser Satz ausgesprochen im Zweiten Weltkrieg, als Stossseufzer, Erlösungshoffnung oder bange Gewissheit. In Stalingrad, als im Februar 1943 die Reste der 6. Armee der Wehrmacht kapitulierten. In Tunesien, wo drei Monate später die deutsch-italienische Armee von Rommel aufgab und 270 000 Soldaten in Gefangenschaft gingen.

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An der Küste von Salerno in Süditalien, wo Briten und Amerikaner im September 1943 trotz massiver Gegenwehr das Land erreichten. Am Strand der Normandie, wo am 6. Juni 1944 über 150 000 Soldaten aus vierzehn Staaten landeten und gegen das deutsche Abwehrfeuer anrannten. Mit dem Erfolg dieser Operation war der Krieg für das NS-Regime endgültig verloren, doch zu Ende war er noch lange nicht. Das Morden, Kämpfen und Bombardieren ging noch acht entsetzliche Monate weiter.

Die ersten Deutschen, die das Ende des Kriegs erlebten, waren die Einwohner Aachens. 199 Tage bevor der Krieg offiziell beendet wurde, hatte die 1. US-Infanteriedivision im Oktober 1944 die Stadt eingenommen und bald darauf den konservativen Juristen Franz Oppenhoff zum vorläufigen Bürgermeister ernannt.

Während im übrigen Deutschland noch erbittert gekämpft wurde, machten die Amerikaner Aachen zum Experimentierfeld für die geplanten Entnazifizierungsmassnahmen. Sorgfältig beobachteten sie, wie die Zivilverwaltung unter dem neuen Bürgermeister arbeitete, ob die konservativen mit den linken Hitler-Gegnern koalierten, wie die Deutschen mit den Besatzern kooperierten, wie sie über Hitler und die Juden sprachen.

Der Tag des Sieges

In Duisburg, 110 Kilometer nordöstlich, war der Krieg in den linksrheinischen Stadtteilen sechzehn Tage früher vorbei als in den rechtsrheinischen. Quälend langsam, unter hohen Verlusten, arbeiteten sich die Alliierten von Westen und Osten gegen Berlin vor. Als der Berliner Stadtkommandant General Weidling nach Hitlers Selbstmord am 2. Mai 1945 endlich kapitulieren konnte, dauerte es noch einen Tag, bis die letzten Kampfgruppen davon Kenntnis erhielten und aufgaben.

Nicht einmal das offizielle Kriegsende ist eindeutig. Am 7. Mai unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl die bedingungslose Kapitulation in Reims im Hauptquartier von Eisenhower. Obwohl das Dokument ausdrücklich die Westalliierten wie die Rote Armee als Sieger anerkannte, bestand Stalin auf der Wiederholung der Zeremonie im sowjetischen Hauptquartier in Karlshorst am folgenden Tag.

Da die Unterzeichnung nach Mitternacht erfolgte, gilt, zumal wegen der Zeitverschiebung nach Moskauer Zeit, in Russland der 9. Mai als Tag des Sieges. Den Japanern aber stand mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August das Schlimmste noch bevor. Japan kapitulierte am 2. September.

Dass nach dem offiziellen Kriegsende in Deutschland Ruhe und Frieden einkehren würden, hatten die Alliierten für unmöglich gehalten. Die Deutschen hatten bis zum letzten Augenblick fanatisch gekämpft, warum sollten sie jetzt damit aufhören, bloss weil ein paar Generäle ein Dokument unterzeichnet hatten?

«Hass ist unser Gebet»

Amerikaner und Briten rechneten mit unzähligen Partisanenaktionen. Vor allem die Hitlerjugend, die sie für rettungslos aufgehetzt und fanatisiert hielten, bereitete ihnen Sorgen. Sie stellten sich die Jugendlichen als verlassene Raubtiere vor, denen man sich nur mit Pistolen und Eisenstangen nähern könne, um sie hernach in einem langen Prozess zähmen zu müssen.

Hatte nicht Goebbels zwei Monate vor Kriegsende die Jugend aufgefordert, «Werwölfe» zu werden, die ohne Rücksicht auf das eigene Leben das der Feinde auszulöschen trachteten? «Hass ist unser Gebet und Rache unser Feldgeschrei», hatte Goebbels ins Mikrofon gebellt: «Der Werwolf selbst hält Gericht und entscheidet über Leben und Tod.»

Nichts dergleichen geschah. Bis auf wenige, vereinzelte Attacken aus dem Hinterhalt in den letzten Kriegstagen zeigten sich die vermeintlichen Wölfe lammfromm. Die wenigen Werwolf-Aktionen wurden von regulären SS- und SA-Einheiten begangen und richteten sich fast ausschliesslich gegen die eigenen Landsleute. Die grausame Ermordung bayrischer Bürger in Penzberg wegen Verrates und Wehrmüdigkeit geht auf das Konto des SA-Brigadeführers und Kulturamtsleiters Hans Zöberlein und seiner Spiessgesellen.

Auch die Ermordung des Aachener Bürgermeisters Franz Oppenhoff am 25. März 1945 wurde nicht von Partisanen begangen, sondern von einem SS-Kommando, das sich per Fallschirm hinter den feindlichen Linien hatte absetzen lassen. Nach der offiziellen Kapitulation hörten auch solche Terror- und Racheakte gegen die eigene Bevölkerung fast vollständig auf.

Das wahre Gesicht der Nazis

Es schien, als hätte sich der Faschismus in den Seelen der Deutschen fast vollständig in Luft aufgelöst. Statt wilder Bestien standen winkende Leute am Strassenrand, die die Besatzer freudig begrüssten und ihnen die Schokolade aus der Hand assen. Schon in Aachen hatten die Amerikaner erstaunt registriert, wie artig die Deutschen parierten, ganz im Gegensatz zu den befreiten Belgiern, die sich häufig beschwerten und selbstbewusst Forderungen stellten.

Für die verblüffend willige Unterordnung ins alliierte Regime gibt es vor allem drei Gründe. Die echten Nazis hatten in der Endphase des Krieges ihr wahres Gesicht gezeigt. Im Hass auf das schwache Volk, das sich ihrer nicht würdig zeigte, als es ihm nicht gelang, das Kriegsgeschick noch einmal zu drehen, nahm die SS möglichst viele Landsleute noch mit in den Tod. Sie zwangen Alte und Kinder an die Front, die nun nicht mehr durch Frankreich oder die Ukraine verlief, sondern ein paar Strassen weiter begann.

Wer sich widersetzte, wurde an Ort und Stelle mit dem Tode bestraft. Man sah Leichen an Laternen hängen, die Schilder um den Hals trugen wie: «Ich, Unteroffizier Heinrich Luhmann, war zu feige, Frauen und Kinder zu verteidigen. Darum hänge ich hier.» Einfache SS-Angehörige hatten das Recht, sogenannte Heimtückeverbrechen, zu denen schon das Hören von Feindsendern gehörte, mit dem Tod zu bestrafen.

Wenn es ihresgleichen nicht selbst betraf, störten viele Leute solche «Endphaseverbrechen» allerdings weniger. Abertausende von Zwangsarbeitern bezahlten das nahende Kriegsende in letzter Minute mit dem Tode. Sie wurden in die Wälder am Rand der Städte getrieben und dort erschossen, weil man ihre Rache fürchtete.

«Bis zur letzten Patrone»

Im März 1945 ordnete Hitler an, die Infrastruktur der zu räumenden Gebiete zu zerstören. Bergwerke sollten geflutet, Industrieanlagen gesprengt werden. Es sei nicht einmal nötig, auf die Dinge Rücksicht zu nehmen, die das Volk zum primitivsten Weiterleben brauche. Was nach dem Kampf übrigbliebe, seien ohnehin nur die Minderwertigen unter den Deutschen. Die Guten seien längst gefallen.

Auf diese Weise besorgte Hitler mit seinen Getreuen die erste Welle der Entnazifizierung selbst, indem er sich offen gegen das eigene Volk stellte und es in den «Kampf bis zur letzten Patrone» presste. Nun bereuten selbst Parteigenossen, dass sie ihm zur Macht verholfen und jahrelang zugejubelt hatten.

Der zweite Grund für die Kooperationsbereitschaft der Deutschen vom Tag der Kapitulation an lag in ihrem traditionellen Verständnis von Autorität und Gehorsam. Ein gutes Beispiel bieten die Angestellten und Beamten der Enttrümmerungsämter. Sie hatten in den Jahren der verheerenden Bombenangriffe die täglich anstehenden Aufräumeinsätze geleitet. Dazu forderten sie in der Regel bei der SS Zwangsarbeiter an, die unter unsäglichen Bedingungen Trümmer sortieren, säubern und so gut es ging wegräumen mussten. Zumindest sollten die Strassen passierbar gemacht und provisorische Wege durch den Schutt angelegt werden.

Diese durch die Kapitulation nur kurz unterbrochenen Arbeiten wurden durch die Ämter umgehend wieder aufgenommen mit dem Unterschied, dass sie nun nicht mehr bei der SS, sondern bei den Alliierten die Arbeiter anforderten, und dass es keine «Fremdarbeiter», sondern ihre gefangenen Landsleute waren, die sie in die Ruinenfelder abkommandierten. Dabei zeigten die Beamten keine Skrupel. Die Routinen blieben die gleichen, nur die Art der Arbeiter wechselte.

Das Ethos der Beamten

Das Ethos des deutschen Berufsbeamtentums, das sich nach dem jeweils geltenden Gesetz, nicht nach individuell zu verantwortenden Werten richtete, kam durch den Regimewechsel in keinen Konflikt. Nach diesem Muster funktionierte ein Grossteil der deutschen Gesellschaft, die sich um eine möglichst reibungslose Wiederaufnahme der Versorgung bemühte. Im Streben nach einer Wiederherstellung von Recht und Ordnung, der Eindämmung der überall drohenden Anarchie, war die Bereitschaft der Kooperation mit den Besatzungsmächten hoch.

Der dritte Grund für die verblüffende Friedfertigkeit der besetzten Deutschen lag in der Absolutheit ihrer Niederlage. Kein Winkel des verwüsteten Landes blieb unbesetzt. Anders als im Ersten Weltkrieg, bei dem, ausser im Osten, kein deutsches Dach von einer Bombe getroffen worden war und kein Besatzungssoldat die Grenzen überschritten hatte, war die Niederlage 1945 nicht zu leugnen.

Im Ersten Weltkrieg war sie abstrakt geblieben, eine Nachricht aus der Zeitung und mit der Dolchstosslegende als Lüge anfechtbar. Jedenfalls reichte das Erlebnis der Niederlage nicht tief genug, um den Militarismus aus Deutschland zu tilgen und Revanchegelüste zunichtezumachen. Dass die deutschen Soldaten «im Felde unbesiegt» geblieben seien, wie es 1918 geheissen hatte, konnte einen Krieg später niemand mehr behaupten.

Im Gegenteil: Mit dem Begriff Niederlage war das Ausmass des Desasters 1945 nur notdürftig bezeichnet. Der Zusammenbruch war so augenfällig, dass die meisten Deutschen sich nicht vorstellen konnten, jemals wieder einen souveränen Staat zu bilden. Was immer sie von sich gehalten hatten, lag noch deutlicher vernichtet in Trümmern als das, was sie gebaut hatten.

Krieg ohne Vernunft

Gründlicher und verlustreicher als dieser ist nie ein Krieg beendet worden. Deshalb ist es auch so schwer, aus ihm zu lernen. Verallgemeinern kann man seinen Verlauf nicht. Für die Frage, wann und wie Kriege beendet werden, bietet der Zweite Weltkrieg wenig hilfreiche Hinweise ausser den düstersten, weil er von deutscher Seite mit einem selbstzerstörerischen Fanatismus geführt wurde, der ihn aus den denkbaren Kriegslogiken heraushebt.

Noch am 27. März 1945, mitten im Endkampf, bereiteten die Nazis die Deportation von 42 Juden von Berlin nach Theresienstadt vor, unter ihnen ein sechs Wochen altes Baby und eine achtzigjährige Frau. Durch die Verknüpfung des Kriegsverlaufs mit der millionenfachen Ermordung der Juden und der rassistischen Konstruktion von «Untermenschen» entbehrte die deutsche Kriegsführung spätestens seit 1942 jeglicher militärischer Vernunft, wie sie von den Widerständlern um Graf von Stauffenberg, Admiral Wilhelm Canaris oder Oberst Henning von Tresckow verkörpert wurde.

Mit der Niederschlagung ihres Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944 war die letzte Möglichkeit gescheitert, einen Verhandlungsfrieden zu erreichen. Durch die begangenen Kriegs- und Menschheitsverbrechen hatte sich die weitverzweigte NS-Elite keine Chancen ausrechnen können, einen Friedensschluss lebend zu überstehen. Ihnen war bewusst, dass sie nach den Massstäben des international geltenden Rechtsempfindens jedes Recht auf Weiterleben verwirkt hatten. Insofern war der Kampf bis zum Untergang nur konsequent.

Harald Jähner war bis 2015 Feuilletonchef der «Berliner Zeitung» und Professor für Kulturjournalismus an der Universität der Künste Berlin. 2019 erschien sein Buch «Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955».

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