Die Stars lassen sich feiern, während sie das Elend auf der Welt anmahnen. Eindrücke vom moralinsauren Festival.

Ein tragisches Unglück ereignete sich dieser Tage in Cannes, als ein Mann von einer umstürzenden Palme getroffen wurde. Nach einem heftigen Windstoss war die Palme auf dem Boulevard de la Croisette, unweit des Festivalzentrums, eingeknickt. Der offenbar morsche, drei Meter hohe Baum begrub einen Schauspielagenten unter sich.

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Über den Zustand des Verunglückten gibt es unterschiedliche Meldungen. Augenzeugen berichteten zunächst von einer Blutlache unter dem Kopf des Mannes, laut einer offiziellen Stelle soll das Opfer jedoch nur leichte Verletzungen davongetragen haben.

Ein amerikanischer Regisseur, der zur Unglücksstelle geeilt war, erklärte gegenüber Reuters, dass er eine Menschenansammlung gesehen habe, einige Leute auch, die gefilmt hätten: «Ich hielt es für eine Paparazzi-Situation.» Im ersten Moment denkt man an einen Star, das ist der natürliche Reflex in Cannes.

Dichtestress im Hafen

Die Croisette im Mai ist ein unwirklicher Ort. Von der Presseterrasse im Festivalpalast geht der Blick über den Hafen, wo es aussieht, als würden sich die Jachten stapeln, Dichtestress an der Marina. Auf der anderen Seite des Gebäudekomplexes, zum Boulevard hin, befindet sich der rote Teppich.

Keine 150 Meter entfernt steht das Hotel Barrière Le Majestic, wo die grossen Namen einquartiert sind. Selbstredend wird die Strecke im Autokorso zurückgelegt. Zu Fuss geht der Star nur an den Fotografen vorbei und die vierundzwanzig Treppenstufen hoch zum Grand Auditorium Lumière. Vierundzwanzig Stufen bis hinauf in den Kino-Olymp.

Die Ironie des Schicksals: Hier geht es um die Palme, während wenige Meter entfernt ein armer Fussgänger fast von einer ebensolchen erschlagen wird.

Im Leben liegen Glück und Unglück oft näher beieinander, als man denkt. Cannes führt einem vor Augen, wie nah. Nicht allein wegen des Opfers der Palme. Oder wegen des Obdachlosen, der um die Ecke des Festivals seine Kartons ausgelegt hat. Stolpern tut man über anderes. Vor allem über die politischen Einwürfe der Stars.

Stars gegen Israel

Die schönsten und privilegiertesten Leute lassen sich feiern, während sie en passant das Elend der Welt anmahnen: Das ist zwar nicht nur in Cannes so. Aber hier hat es oft einen besonders unangenehmen Beigeschmack. Denn vor der glamourösesten Kulisse der Welt wirken die wohlfeilen Statements der Stars noch aufgesetzter als sonst. In Cannes ist vieles Kosmetik, der politische Anstrich erst recht.

Auch dieses Jahr richtet sich der Fokus wieder auf Gaza. Mit Russland mögen sich die Künstler kaum mehr abmühen, gegen Putin zu protestieren, verspricht zu wenig Aufmerksamkeit. Cannes spiegelt den Zeitgeist. Iran ist nur am Rande Thema. Selbst Depardieu bringt die Leute nicht so recht in Wallung. Wer sich heutzutage als Star mit zivilgesellschaftlichem Engagement profilieren will, unterschreibt einen Anti-Israel-Wisch.

Wenn es gegen den Judenstaat geht, ist Verlass auf Richard Gere, Susan Sarandon und Javier Bardem. Im neusten Schreiben, das pünktlich zu Cannes aufgesetzt wurde, betonen auch Pedro Almodóvar, Joaquin Phoenix, Ruben Östlund, Jonathan Glazer und viele andere ihre Verbundenheit mit Palästina.

In Briefform ist der Protest nicht nur bequem, sondern praktisch risikofrei. Niemand muss sich einer Debatte stellen. Andererseits wäre das auch nicht zwingend ergiebiger. Es gibt begnadete Schauspieler, die erstaunliche Mühe haben, sich neben der Kamera zu artikulieren. Javier Bardem oder Joaquin Phoenix auf einem Panel zum Nahostkonflikt nähmen sich skurril aus.

Doch solche Panels gibt es ohnehin nicht in Cannes. In erster Linie wird hier gestöckelt. Gesprochen wird, wenn, dann übers Business. Ausserhalb des Festivalpalasts sind die Länderpavillons aufgestellt, wo sich etwa Produzenten treffen, um Koproduktionen auszuloten. Auch Palästina hat ein Zelt. Vor dem Eingang ist eine Wäscheleine mit Pro-Palästina-T-Shirts aufgehängt, womöglich will man an ein Flüchtlingslager erinnern.

Bereits stattgefunden hat hier ein Treffen von «auserlesenen Schweizer Produzenten mit den aufstrebenden palästinensischen Filmemachern». Federführend bei der Initiative ist der Genfer Regisseur Nicolas Wadimoff, der sich der palästinensischen Sache schon länger annimmt.

In seinem jüngsten Film würdigt er das Palästinenserhilfswerk UNRWA. Ob er auch dessen Mittäter am Massaker vom 7. Oktober thematisiert, bleibt abzuwarten. Der Film hat es nicht nach Cannes geschafft. Ausser mit Solidarität für Palästina tut sich das hiesige Kino nicht hervor. Auch die 78. Festivalausgabe findet praktisch ohne das Filmland Schweiz statt.

Filme ohne Juden

Deutschland ist erfolgreicher. Dort profitiert man vom Holocaust: Die deutsche Geschichte gibt 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer viel her, was sich kreativ bewirtschaften lässt. Vor allem wenn es darum geht, jüdische Schicksale auszublenden, sind die Filmemacher in ihrem Element. Nicht nur die deutschen, um fair zu sein. Der irritierende Trend begann vor Jahren mit dem «Untergang», Jonathan Glazer trieb ihn mit «The Zone of Interest» auf die Spitze.

Fatih Akin schliesst sich an. «Amrum» erzählt von einem sehr blonden Bengel auf der Nordseeinsel, der der deprimierten Nazimutter helfen will. Die hat ausgerechnet in der Sekunde ein Kind bekommen, als im Radio Hitlers Tod vermeldet wurde. Jetzt hat sie keinen Appetit mehr. Oder allerhöchstens Lust auf ein Weissbrot mit Butter und Honig. Der Bub macht sich auf ins Abenteuer, um ihr in Zeiten der Mangelwirtschaft das Frühstück zu besorgen. Deutsche Kritiker finden das eine grossartige Erzählung, wieso auch immer.

«In die Sonne schauen», der zweite Spielfilm von Mascha Schilinski, hat für die noch grösseren Begeisterungsstürme gesorgt. Der Wettbewerbsbeitrag wabert als assoziatives, streng stilisiertes Drama durch hundert Jahre deutsche Geschichte, wobei mit unvermittelten Zeitsprüngen aus den Leben von vier Mädchen aus vier Generationen auf einem altmärkischen Bauernhof erzählt wird.

Man muss sich einen langgezogenen Film vorstellen. Körnige Bilder, die manchmal im Dunkeln abzusaufen drohen, dann wieder viel Sonne abbekommen. Irgendwas zwischen Ingmar Bergman und Terrence Malick. Wenn man es richtig verstanden hat, geht es um übertragene Schuld und vererbte Traumata, der Holocaust bleibt dabei eine Leerstelle. Sicher hat sich Schilinski etwas dabei gedacht. «In die Sonne schauen» ist ein Film, der seinem Zuschauer zu verstehen gibt, dass er klüger ist als er. Deutschland sieht Chancen auf eine Goldene Palme.

Auschwitz wird gescannt

Kann man noch sinnstiftend von der Shoah erzählen? Wojciech Soczewica ist ein optimistischer Mann. Der CEO der Stiftung Auschwitz-Birkenau ist nach Cannes gekommen, um bessere Holocaust-Filme zu ermöglichen. Oder zumindest wahrheitsgetreuere.

Er sucht nach Geldern. Denn in Auschwitz ist man gegenwärtig dabei, jeden Winkel des Konzentrationslagers zu scannen. «Picture from Auschwitz» nennt sich das Projekt, das Filmproduktionen eine digitale Nachbildung des Lagers zur Verfügung stellen will. Denn das KZ soll in Filmen endlich genau so aussehen, wie es in Wirklichkeit war.

Bedingung ist einzig, dass die Filme auf eine authentische Darstellung abzielen. «Wenn wir überzeugt sind, dass ein Film auf Fakten basiert, vergeben wir die Lizenz», sagt Soczewica im Gespräch mit der NZZ. Nicht jeder Film bekommt sozusagen den Koscher-Stempel.

Einem Tarantino, der die Geschichte des Zweiten Weltkriegs radikal umschreibt wie in «Inglourious Basterds», würde das 3-D-Modell nicht zur Verfügung gestellt: «Unsere Stiftung steht für die Authentizität», betont Soczewica. «Wenn jemand etwas Fiktives erzählen möchte, was nicht den Fakten entspricht, dann ist das unter Umständen auch sehr spannend, aber es wird nicht in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte geschehen.»

Entstanden ist das Projekt, weil Filmaufnahmen in Auschwitz verboten sind. Sie wären schlichtweg nicht durchführbar, wie Soczewica erklärt: «Wir haben jedes Jahr zwei Millionen Besucher, die Zahl wächst. Das sind ungefähr 1000 pro Stunde.» Für Filmteams ist kein Platz. Nicht zu reden vom Schaden, den sie anrichten könnten. Diesen können sie allerdings auch anders verursachen.

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