Samstag, Oktober 5

Mit Raketen beschossen wird die Metropole Charkiw schon während des ganzen Krieges, doch der Schrecken hat eine neue Dimension erhalten. Der Schriftsteller Sergei Gerasimow schildert, wie die Russen gezielt das Leben einfacher Menschen zerstören.

Im südlichen Teil von Charkiw steht ein düsteres Wohnviertel. Sechs oder sieben Hochhäuser drängen sich aneinander, und es umgibt sie eine meist leere Fläche mit Rasen und Parks, Fussballfeldern und Spielplätzen. Vor den Häusern sind Autos parkiert. Alte Leute ruhen sich auf Bänken unter Rosskastanien und Ahornbäumen aus. Drei Kinder vergnügen sich auf Schaukeln.

Es ist der vorletzte Tag im August, gegen drei Uhr nachmittags. Ein Luftalarm ertönt, aber die Menschen in Charkiw haben deren schon so viele über sich ergehen lassen, dass sie aufgehört haben, sie zu beachten. Dann, etwas weiter entfernt, gibt es eine Explosion, oder besser gesagt: Zwei Explosionen folgen so schnell aufeinander, dass der Knall der beiden zu einem verschmilzt.

Die Kinder setzen ihr Schaukeln unverdrossen fort. Die alten Leute sitzen weiter auf den Bänken. Keinen drängt es, Deckung zu suchen. Dann aber zerreisst das Dröhnen eines Düsentriebwerks die Luft. Vierzig oder fünfzig Minuten später wird ein Mann Mitte dreissig namens Jura bestätigen, dass es definitiv das Geräusch von Düsen war.

«Es war keine S-300. Es war ein Düsentriebwerk. Es war ganz sicher keine S-300», sagt er wieder und wieder.

Jura ist gross und rundlich. Er trägt lange Jeans, und der Hosenschlitz steht offen. Seine Hosen sind blutrot, und Blut läuft ihm am Bein hinunter. Es kümmert ihn nicht. Er erzählt, er habe in seiner Wohnung im achten Stock am Computer gesessen und nur überlebt, weil er für einen Augenblick von seinem Schreibtisch weggegangen sei. Da vernahm er das Dröhnen eines Düsentriebwerks, und in der nächsten Sekunde sprengte eine 500 Kilogramm schwere gelenkte Fliegerbombe den elften und den zwölften Stock direkt über seinem Kopf in die Luft.

Brennend aus dem Fenster gesprungen

Später werden die Russen die Lüge auftischen, dass die Bürger von Charkiw ja eigentlich Glück hätten mit dem russischen Präsidenten, denn dieser sei dummerweise in der Lage, «Charkiw jeden Tag vom Antlitz der Erde zu tilgen», was er aber nicht tue, stattdessen konzentriere er sich auf ausschliesslich militärische Ziele.

Diesmal wollen die Russen eine S-300-Überschallrakete auf das Traktorenwerk in Charkiw abgefeuert haben, und die Ukrainer hätten versucht, sie mit einer Flugabwehrrakete abzuschiessen, worauf diese in ein Wohngebäude einschlug. In Tat und Wahrheit explodiert jeweils die S-300 zuerst, und erst dann ist ihr Pfeifton zu vernehmen, der mit nichts anderem zu verwechseln ist. So etwas gab es dieses Mal nicht. Was es stattdessen gab, war eine gelenkte Bombe, die mit voller Intention inmitten einer kompakten Gruppe von Wohnhochhäusern zur Explosion gebracht wurde.

Jura sagt, dass alles um ihn herum sofort in Flammen gestanden habe und dass sich die Menschen brennend aus den Fenstern gestürzt hätten. Er ist sich sicher, dass es sich dabei um Leute handelte, die in den oberen Stockwerken wohnten.

«Mein Vater ist aus dem Fenster gesprungen», sagt er. «Er hat dabei nicht den Tod gefunden, doch es wäre besser gewesen, wenn er umgekommen wäre beim Aufprall auf den Asphalt . . .» Jura zeichnet mit den Händen nach, wie sein Vater nach dem Sprung aus dem achten Stock genau auf dem Boden aufschlug. Er flog mit dem Kopf nach unten, sein Körper blieb indes nicht senkrecht, sondern schlug fast flach auf.

Nach der Art, wie Jura das schildert, scheint er das Geschehen mit eigenen Augen verfolgt zu haben. Es ist erstaunlich, dass sein Vater nach einem solchen Aufprall nicht gleich tot war, dann aber erlag er im Krankenwagen den Verletzungen. Er hat nicht lange überlebt. Als Jura ihn im Krankenwagen sieht, ist er schockiert. Sein Vater ist dermassen entstellt, dass er ihn gar nicht erkennt. Nun wird sein toter Körper nicht in die Leichenhalle übergeführt, sondern in ein Speziallabor gebracht, denn auch die Mediziner können nicht verstehen, wie ein einzelner Mann derart viele Verletzungen haben kann.

Jura erzählt das alles mit einem seltsamen Halblächeln oder besser einem überraschten Viertellächeln. An seinem Blick lässt sich nicht erkennen, dass er trauert. Tatsächlich ist er verwirrt und begreift nicht ganz, was vor sich geht. Er sagt, er höre auf dem linken Ohr gar nichts und auf dem rechten Ohr nur Rauschen. «Ist Ihnen schwindlig?», fragten ihn die Sanitäter. «Nein.» «Dennoch, gehen Sie nachher zum Arzt.» Sie haben sich nicht die Mühe gemacht, ihm weiter zu helfen. Jura ist nicht das, was jetzt zählt.

«Ich hatte alles, und jetzt ist alles weg», sagt Jura mit demselben Halblächeln. «Ich habe alles verloren, einfach so (er schnippt mit den Fingern), meine Wohnung, meinen Vater, zwei Autos, meine persönlichen Dokumente, Geld . . .» Er erzählt mir, dass er, als er auf den Hof gelaufen sei, bemerkt habe, dass eines seiner Autos bereits ausgebrannt gewesen sei, und das zweite sei kurz davor gewesen, in Flammen aufzugehen. Er wollte es in Sicherheit bringen, aber da explodierte der Wagen daneben, und er überlegte es sich anders. Ein gediegenes Haus, wohlhabende Leute, ein glückliches Leben . . . Die Bombe zielte auf nichts anderes als auf Menschen.

Ein schwarzer Skoda Octavia, von der Explosion schwer lädiert, fährt mit heulender Alarmanlage vorbei. Die Scheiben sind zerbrochen, das Dach ist zerdrückt, und in der Motorhaube gibt es ein Schrapnellloch. Und doch fährt der Wagen noch. Hinter dem Lenkrad sitzt bis zur Hüfte nackt ein Mann, der sich eine Art Wachstuchjacke über die Schultern geworfen hat. Es gibt viele Männer, die so herumlaufen. Es ist ein sehr heisser Tag, und sie retteten sich mit dem auf die Strasse, was sie anhatten.

Zurück ins Inferno

Einer der bis zur Taille entblössten Männer läuft aufgeregt zwischen den Feuerwehrleuten hin und her. Ein Feuerwehrmann versperrt ihm den Weg, aber der Mann scheucht ihn weg, als wäre er eine lästige Fliege. Es handelt sich um Juras älteren Bruder. Als die Bombe detonierte und alles in Flammen aufging, rannte seine Mutter aus irgendeinem Grund nicht die Treppe hinab, sondern hinauf. Juras Bruder hat versucht, die Feuerwehrleute zu überreden, ihm ins Haus zu folgen und die Frau herauszuholen, aber sie weigerten sich. Also warf er sich eine nasse Decke über die Schultern und rannte selbst ins Inferno.

Es gelang ihm tatsächlich, seine Mutter zu retten. Jetzt sitzt sie mit bandagiertem Kopf und Arm auf einer Bank. Die Sanitäter haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben und kümmern sich weiter um sie. Ein junger Mann kommt auf die Frau zu. Sie umarmen sich und weinen.

«Erinnerst du dich an den kleinen Borja, der so gerne Domino spielte und sein orangefarbenes Auto so liebte?», fragt ein alter Mann. «Er wurde direkt im Hof von der Druckwelle getötet.» Das zwölfstöckige Gebäude steht noch immer in Flammen. Alle oberen Stockwerke bis zum vierten sind jetzt ausgebrannt. Die Böden sind eingestürzt, aber einige der Aussenwände halten sich noch aufrecht.

Von unten wirkt die Szenerie ein wenig wie das ikonische Foto der «Säulen der Schöpfung» im 7000 Lichtjahre entfernten Adlernebel: etwas Verkohltes und Unförmiges, das in die Höhe ragt, ganz in Rauch gehüllt und von einem seltsamen inneren Feuer erleuchtet. In den benachbarten Häusern stehen reihenweise Fenster zerbrochen, viele Fensterrahmen sind durchgebrannt.

Die Luft glänzt perlmuttartig und ist opak vor Rauch. Es fällt schwer, zu atmen. Aschestücke in Münzengrösse fallen wie schwarzer Regen von oben herab, flattern und drehen sich in der Luft. Frauen fegen Glasscherben von den Fensterbänken, Männer tragen sie in Kübeln hinaus und schütten sie krachend in Mülltonnen. Auf dem Rasen stehen Wasserflaschen herum, und das ist gut so, denn alle sind sehr durstig.

Ein Militärangehöriger kommt mit einem riesigen Hund vorbei, der Menschen unter den Trümmern aufspüren soll. Sanitäter tragen ein Kind auf einer Bahre weg; es bewegt sich nicht. Feuerwehrleute fällen einen Kastanienbaum, um einen Durchgang zu schaffen, und auf dem frei gewordenen Platz bildet sich eine Trauergemeinde von Menschen mit Wasserflaschen in den Händen (das ist alles, was sie noch haben). Zwei achtjährige Mädchen wiegen sich weiter auf den Schaukeln, als ob nichts geschehen wäre. Die mit grossem Aufwand betriebene tägliche Folterung der friedlichen Bevölkerung von Charkiw geht weiter. Täter sind die Russen, aber auch jene tragen Mitschuld, welche die Lieferung der dringend benötigten Abwehrwaffen verzögern.

Zwei Stunden später gelange ich zum Jurjewa-Boulevard, wo heute die ersten beiden Explosionen zu hören waren. Es handelt sich eher um einen Park, und es sind hier jetzt Hunderte von Menschen unterwegs. Um drei Uhr nachmittags explodierten über dem Boulevard zwei russische Gleitbomben, doch glücklicherweise waren zu jener Zeit wegen der Hitze viel weniger Menschen als sonst unterwegs.

Die erste Bombe schlug neben dem Spielplatz ein, da, wo die Hunde Auslauf haben. Die zweite Bombe explodierte über dem zentralen Gehweg. Es sieht so aus, als ob die Bomben in der Luft detonierten, damit die Splitter so viele Menschen wie möglich umbringen. Mehrere Schrapnellsplitter durchschlugen die Gehwegplatten. Einer tötete ein 14-jähriges Mädchen, das auf einer Bank sass.

Das gesamte Gebiet ist überdeckt mit grünen Ahornblättern, die noch keine Zeit hatten zu verwelken. Die Bäume sind kahl, mit abgebrochenen Ästen – wie nach einer Meteoritenexplosion. Gespenstisch ragen im Chaos die Sitzbänke heraus.

Teenager streifen herum und sammeln Bombensplitter ein. Diese Scherben sind anders als alles, was ich bisher gesehen habe. Es sind nicht die bekannten scharfen polygonalen Klingen, sondern schwarze, abgeflachte Klumpen aus geschmolzenem Metall. Sie sind dünn und breit, und nur drei von ihnen passen in die Handfläche des Jungen, der mit seinem Fund prahlt.

Diese Bomben wurden mit Absicht genau über dem geometrischen Zentrum des Parks gezündet, was bedeutet, dass sie gegen Menschen gerichtet waren, auf nichts anderes als auf Menschen. Und jetzt krabbeln wieder Babys auf dem Spielplatz herum, ein Dutzend Meter von der Stelle der Explosion entfernt. Mehr als hundert Menschen wurden heute in Charkiw verletzt. Heute gerät das Bluttransfusionszentrum in Charkiw an den Rand seiner Möglichkeiten: Jede Blutgruppe wird gebraucht. Die Tortur geht weiter.

*

Nachtrag vom 1. September. Ein neuer Angriff hat stattgefunden, ein Dutzend ballistische Raketen auf einmal. Der Sportpalast, der nur zehn Gehminuten von meinem Haus entfernt ist, liegt in Trümmern. Unsere Katzen, die selbst in den ersten Kriegstagen keine Angst hatten, haben sich heute im Flur und unter dem Sofa versteckt. Die Druckwellen töteten die Vögel in der Luft: Tote Tauben lagen auf den Strassen. Die Vögel, die überlebt haben, sind durchgedreht vor Angst, hüpfen auf dem Asphalt herum und picken die Leute gegen die Beine, als ob sie fragen würden: «Was denkt ihr, was ihr da tut, ihr Menschen?»

Sergei Gerasimow ist Schriftsteller und lebt in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.

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