Freitag, November 1

Mike Studeman sieht China auf direktem Weg zu einem Krieg mit Taiwan. Doch noch liesse sich die Eskalation des Konflikts verhindern.

Herr Studeman, wie beurteilen Sie die gegenwärtige Lage zwischen China und Taiwan?

Wir befinden uns in einer ernsten geopolitischen Phase. Der Grauzonenkonflikt um Taiwan ist bereits im Gange, wie Cyberangriffe, fast tägliche Ausflüge von Kriegsflugzeugen und -schiffen in der Nähe von Taiwan und Militärübungen zeigen.

Warum greift die chinesische Führung zu solchen Mitteln?

China glaubt, dass es den Druck unterhalb der Kriegsschwelle erhöhen kann, um seine Ziele zu erreichen. Die Führung ist bemerkenswert hartnäckig, obwohl sie einen erheblichen Reputationsschaden erleidet und grosse Besorgnis hervorruft. Dies hat sich in ganz Südostasien in konkreten Massnahmen niedergeschlagen. Wir sehen, wie sich Japan, Taiwan, Südkorea und Indien bewaffnen. China mag einige taktische Siege erringen, aber es zahlt auch strategische Kosten, die sich anhäufen und die Art der Spannungen verändern.

Wie hoch schätzen Sie angesichts dieser zunehmenden Aktivitäten das Risiko versehentlicher Zusammenstösse ein?

Das Risiko eines taktischen Zwischenfalls, der zwischen amerikanischen und chinesischen Streitkräften zum Verlust von Menschenleben führt, ist hoch, vielleicht 85 bis 90 Prozent in den nächsten zehn Jahren. Dabei könnte es zu Zwischenfällen nicht nur zwischen den USA und China, sondern auch zwischen Japan und China, den Philippinen und China oder Taiwan und China kommen. Das aggressive Verhalten der chinesischen Streitkräfte, die sich oft nicht an internationale Einsatzregeln halten, erhöht dieses Risiko erheblich. Es ist jedoch wichtig, zu wissen, dass solche taktischen Vorfälle zwar schwerwiegend sind, aber oft auf diplomatischem Wege gelöst werden können und nicht unbedingt zu einem umfassenden Konflikt eskalieren müssen.

Zur Person

PD

Mike Studeman

Mike Studeman hat Chinesisch studiert und blickt auf eine lange Karriere in der US-Navy zurück. Er war Konteradmiral und Chef des Geheimdienstes der Marine, er hat nachrichtendienstliche Operationen auf allen Ebenen geleitet. Unter anderem unterstützte er Kampfeinsätze auf dem Balkan oder in Afghanistan sowie Operationen in der Terrorismus- und Drogenbekämpfung. Derzeit ist er National Security Fellow bei Mitre, einem Sicherheitsberater in den USA.

Apropos Krieg: Wie hoch ist das Risiko eines offenen Konflikts um Taiwan?

Das Risiko hängt von mehreren Faktoren ab. China würde wahrscheinlich vor 2027 keine grösseren Aktionen wie eine Blockade oder eine vollständige Invasion versuchen, da es sich noch nicht in der Lage dazu sieht. Es würde nur einen Krieg der Notwendigkeit beginnen, das heisst, wenn bedeutende rote Linien überschritten würden, wie die Stationierung ausländischer Truppen auf Taiwan oder eine offizielle Unabhängigkeitserklärung. Nach 2027 treten wir jedoch in eine Phase ein, in der China einen Krieg der Wahl in Betracht ziehen könnte, in dem es den Zeitpunkt und die Umstände auf der Grundlage seiner Bereitschaft und der wahrgenommenen Möglichkeiten wählen kann.

Wie wahrscheinlich ist ein Krieg?

Was diese Wahrscheinlichkeiten betrifft: Wenn bestimmte Bedingungen für China günstig sind – wie ein isolationistisches Staatsoberhaupt in den USA, das signalisiert, dass es wegen Taiwan keinen Krieg mit China vom Zaun brechen wird, und eine gespaltene internationale Gemeinschaft –, dann könnte die Wahrscheinlichkeit für aggressive Massnahmen Chinas bei 60 Prozent liegen. Dies setzt jedoch voraus, dass diese spezifischen Bedingungen erfüllt sind.

Welchen Einfluss könnte das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen auf die Taiwan-Frage haben?

Wer der nächste Präsident wird, ist wirklich die Millionen-Dollar-Frage. Aber es ist auch erwähnenswert, dass die amerikanische Öffentlichkeit nicht gut auf einen möglichen Konflikt um Taiwan vorbereitet ist. Es wurden keine grossen Anstrengungen unternommen, um der amerikanischen Bevölkerung zu erklären, warum Taiwan strategisch oder wirtschaftlich von Bedeutung ist. Dieses mangelnde öffentliche Verständnis könnte die Entscheidungsfindung in einer Krise erschweren.

Welche Ziele und Absichten verfolgt China in Bezug auf Taiwan?

Für die chinesische Führung ist Taiwan Teil der Volksrepublik China. Und sie hat eine militärische Option nie ausgeschlossen. Xi Jinping ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er die Volksbefreiungsarmee auf einen Krieg vorbereitete und ankündigte, Taiwan solle bis 2049, bis zum 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik, Teil Chinas werden. Deshalb müssen wir Xi Jinping ernst nehmen, wenn er sagt, dass Taiwan ein wesentlicher Bestandteil dessen ist, was er Chinas Verjüngung nennt.

Sehen Sie auch tatsächliche Anzeichen für diesen Trend?

In China sind derzeit alle Indikatoren für die Kriegsvorbereitung gegeben. Alle langfristigen Massnahmen, die man zur Vorbereitung auf einen Krieg ergreifen muss, sind im Spiel. China isoliert seine Wirtschaft, hortet Ressourcen und erhöht seine militärischen Fähigkeiten in allen Bereichen der Kriegsführung rapide, sowohl konventionell als auch nuklear. Darüber hinaus beobachten wir Bemühungen, die chinesische Bevölkerung ideologisch vorzubereiten, verstärkte Cyberschutzmassnahmen, Schikanen gegen Ausländer und eine allgemeine Abriegelung Chinas. All diese Massnahmen lassen sich nicht einfach mit einem aufstrebenden China in Friedenszeiten erklären, das nur seinen Lebensstandard erhöhen will.

Welche strategische Bedeutung hat Taiwan über seine dominierende Rolle in der Halbleiterindustrie hinaus?

Im Wesentlichen fungiert Taiwan als Dreh- und Angelpunkt in der ersten Inselkette, die Chinas freien Zugang zum Pazifik blockiert. Ein Verlust Taiwans an China würde das strategische Gleichgewicht im Indopazifik dramatisch verändern und China eventuell die Möglichkeit geben, wichtige Seewege zu kontrollieren und seine Macht weiter in den Pazifik hinein auszudehnen. Das Südchinesische Meer und wichtige Wasserstrassen könnten unter chinesische Herrschaft geraten, was eine erhebliche Bedrohung für Japan, die Philippinen und andere regionale Nationen darstellen würde. Japan ist auch besorgt darüber, wie es mit Taiwan weitergeht, weil man weiss, was als Nächstes kommen könnte: Chinas Versuch, die Senkaku-Inseln und möglicherweise auch die Ryukyu-Inseln zu übernehmen. Es ist wie beim Videospiel Pac-Man, bei dem die Spielfigur immer weiter Punkte frisst – wenn man China einen Zoll gibt, nimmt es eine Meile.

Wie kann angesichts der Bedeutung Taiwans ein Konflikt vermieden werden?

Es ist von entscheidender Bedeutung, eine offene Kommunikation mit China aufrechtzuerhalten, um Missverständnisse zu vermeiden und Krisen zu bewältigen. Während wir uns auf das Schlimmste vorbereiten, sollten wir China weiterhin diplomatisch und wirtschaftlich einbinden, wo dies möglich ist. Der Schlüssel liegt jedoch in einer starken Abschreckung. Wir müssen sicherstellen, dass China nie das Gefühl hat, einen schnellen Sieg über Taiwan erringen zu können. Dazu gehört nicht nur die militärische Bereitschaft, sondern auch der klare politische Wille der USA und ihrer Verbündeten sowie eine einheitliche internationale Haltung gegen Aggressionen.

Wie bereiten sich die USA darauf vor, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken?

Die USA entwickeln neue Fähigkeiten, wie im Replicator-Programm, das darauf abzielt, autonome Systeme mit hoher Tödlichkeit wie Drohnen schnell zu erweitern, sowie Verbesserungen in den Bereichen Kommunikation und Überwachung. Wir wollen die Taiwanstrasse für jede potenzielle Invasionstruppe zu einer «Höllenlandschaft» machen. Dies soll durch eine Vielzahl von Mitteln erreicht werden, von Langstreckenfeuer wie U-Boot-Marschflugkörpern und Torpedos bis hin zu schiffsbasierten Systemen. Das Ziel besteht nicht unbedingt darin, die Oberhand zu gewinnen, damit wir ungestraft in der Taiwanstrasse operieren können, sondern sie zu einem Niemandsland zu machen – ein Feuersturm, der so verheerend ist, dass nichts Wesentliches die Meerenge erfolgreich überqueren kann.

Wie wirkt sich die Situation in Taiwan auf die globale Sicherheit aus, falls die Abschreckung versagt?

Ein Konflikt um Taiwan hätte weitreichende Folgen. Er könnte möglicherweise andere Akteure wie Nordkorea oder Russland einbeziehen und zu Spannungen an mehreren Fronten führen. Es besteht die Gefahr, dass diese revisionistischen Mächte koordiniert versuchen, die von den USA geführte internationale Ordnung infrage zu stellen.

Zum Beispiel?

Wenn beispielsweise ein Konflikt um Taiwan ausbricht, könnte Nordkorea versucht sein, als Störenfried zu agieren, indem es Militäraktionen auf der koreanischen Halbinsel startet. Russland, das China für die Unterstützung während des Ukraine-Krieges dankbar ist, könnte sich revanchieren, indem es Schiffe und U-Boote in den Pazifik schickt und die USA zwingt, Ressourcen für die Verfolgung und Überwachung abzuzweigen. Selbst ohne einen offenen Konflikt könnten Spannungen die US-Streitkräfte in mehreren Regionen binden. Russland könnte beispielsweise Streitkräfte in die Nähe seiner Westgrenzen zu den Nato-Ländern verlegen und die USA so effektiv daran hindern, in einer Krise Streitkräfte von Europa in den Indopazifik zu verlegen.

Warum ist es überhaupt so wichtig, China Grenzen in seinen Machtansprüchen aufzuzeigen?

Asien dürfte der wichtigste Motor für die Weltwirtschaft im 21. Jahrhundert sein. Würde China es schaffen, die Region als Geisel zu halten, wäre das zum Nachteil der übrigen Welt. Das ist keine Kleinigkeit.

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