Die Vergangenheit wirkte im toten Winkel der Welt wohl schon schrullig, als sie noch nicht vergangen war. In der Gegenwart gibt sie schönsten Stoff für die Literatur.
Das alles gab es hier einmal: zwei Gasthöfe, in denen sich die Männer allabendlich anschwiegen, eine Schule, einen Schuster und einen, der so gut wie alles reparieren konnte, Lebensmittel gleich nebenan. Die öffentliche Busverbindung richtete sich nach dem Bedarfsfall. Das Dorf mit seinen an ein paar Händen abzählbaren Bewohnern war intakt und autark. Rund um die Kirche wandten die Bauernhäuser, «die wie mit den Ellenbogen zueinanderstanden», ihre Fassaden der Mitte zu und schotteten sich ab gegen das Fremde, das kaum kommen mochte. Eine «Wagenburg», wie im Wilden Westen, der hier im bayrischen hohen Osten liegt.
«Weisst du», sagt Max einmal, «wir sind hier auf einem Dorf. Und in einem Dorf hat es Regeln.» Ungeschriebene natürlich. Die kannte man seit der Geburt, die konnte keiner, der von aussen kommt, lernen und verstehen. Mit und nach denen existierte und starb man hier auch. Längst aber ist alles nicht mehr so wie früher in Tommie Goerz’ Roman «Im Schnee». Das fiktive Austhal, irgendwo im gottverlassenen Fichtelgebirge, ist noch tiefer in die Provinz gerutscht. Die Alten sterben zuverlässig weg, wer jung ist, flieht.
In der Mitte des Nirgendwo
Tommie Goerz’ schmaler Roman, nach der starken Erzählung «Im Tal» um zwei geheimnisvoll entlegene Gehöfte mit dunkler Geschichte, ist der zweite ohne kriminalistischen Handlungsstrang. Goerz hatte sich bereits einen Namen mit vielfach ausgezeichneten Regionalkrimis gemacht. «Im Schnee» ist eine ungemein fein gesponnene Momentaufnahme vom Ende der vormodernen Zeiten.
Der in Erlangen lebende 71-jährige Schriftsteller begibt sich wie ein stummer, staunender Beobachter in die Mitte des Nirgendwo und berichtet, ohne je ins falsche Pathos zu geraten, von Menschen, die sich eingerichtet haben zwischen Geburt und Tod, weil es Gott eben so gewollt hat: «Man muss auch Schweigen lernen. Und auch, nicht zu fragen», ist die Antwort auf die Verwunderung darüber, warum hier alles so anders ist als im Rest der Welt, warum man nicht eingreift ins Rad der Geschichte.
Ein paar Tage nur sind es, von denen Goerz in einer unaufgeregten Sprache erzählt. Dem Max stirbt sein alter Freund Schorsch weg, einfach so, aber es musste nun einmal sein – die Zeit war reif, Gott hat gewürfelt –, oder was weiss man denn schon. Was geht in dem Hinterbliebenen vor, was fehlt da auf einmal, und wie wird der Verlust in den eintönigen Alltag hineingreifen?
Es wehrt sich in Austhal niemand gegen das Schicksal, es revoltiert keiner gegen den Lauf der Welt: Der Tod ist kein weltstürzendes Ereignis, nur eine dumme Tatsache, die man hinnimmt. Und da sind eben diese Dorfregeln, längst in Fleisch und Blut übergegangen, die wie im Schlaf eingehalten werden. Die Trauer ist ein Ritual, das Sterben wie eine Nebensache: «Schön ist er gestorben», sagt man im Wirtshaus. «Ja, hat sich einfach so hingelegt.» Und nach endlosen Schweigemomenten fügt einer nur noch hinzu: «So wünsche ich mir das auch.» Vor den Fenstern der Gaststube fallen beständig die Flocken, aber «der Schnee ist wie das Schweigen (. . .) er macht die Welt leise, schluckt den Schall. Und macht sie schön.»
Die Toten kommen unter die Erde
Es ist eine hermetische Welt, die Tommie Goerz in «Im Schnee» zeichnet. Der Aberglaube ist noch mehr wert als ein Christus am Kreuz: Schwarze Kerzen helfen gegen Gewitter. Doch der Autor ist kein Voyeur, kein aufdringlicher Entdecker, der in der hintersten Provinz auf etwas unwiederbringlich Verblassendes oder Erschreckendes trifft. Wenn erst die Männer, dann die ganze Nacht hindurch die Frauen die Totenwache halten, dann reden sie nicht viel: ein bisschen aus der Vergangenheit, von den Eigenarten und Schrullen des Toten, der da vor ihnen liegt, «beschwert» von zwei Äpfeln, die er so gemocht hat.
Max hat ihm einen Martini und einen Krummstiel auf den leblosen Leib gelegt, wie einen stillen, besorgten Gruss, wie eine Wegzehrung für die lange Reise. Ob er wohl in den Himmel komme, fragt einer. Hier ist man realistisch: «Der kommt unter die Erde, sonst nichts.»
«Im Schnee» ist ein grossartiges, fast schüchternes Stück Prosa, ein melancholischer Augenblick, in dem Leben nur aufblitzt, bevor es sich wieder zurückzieht in die Winkel und verstaubten Ecken einer unbedeutenden Gegenwart. Kein Heimatroman, weil Heimat auch hier ein auslaufendes Lebensmodell ist. Goerz’ Liebe zu den Menschen, deren letzte Geheimnisse er nie aufstöbert, die er diskret verschweigt, ist zart und in einem poetischen Sinn aufrichtig. Das Buch endet, wie es begann: mit einem stillen Tod. Der Himmel ist längst ohne Licht, doch der Kreislauf bleibt intakt.
Tommie Goerz: Im Schnee. Piper-Verlag, München 2024. 170 S., Fr. 21.–.