Freitag, Oktober 25

Der Schriftsteller Gerhard Henschel schaut in seinem «Schelmenroman» etwas wehmütig in eine Zeit, als linke Sprachkritik auch linken Betroffenheitskitsch aufgespiesst hat.

Eigentlich könnte man heute abwinken: Wokeness, Gendern, linke Gefühligkeitsposen, alles immer schon da gewesen. «Dickwanst im Dunst», titelt der «Spiegel» im Sommer 1994, als es in der Frage, was man noch sagen darf, hoch hergeht. In England würden Feministinnen gegen das Wort «Manager» Sturm laufen, weil in diesem Begriff nur der Mann stecke, aber nicht die aufstiegskonkurrenzfähige Frau. Aus Amerika kommen wütende Bücher gegen die neue politische Korrektheit und eine zunehmende Tribalisierung, die das höchste Kulturgut der Nation gefährden könnte: die Gemeinschaft aller Bürger.

Auch in Deutschland war man publizistisch nicht untätig. Es gehört allerdings zu den eher unerhörten Zeitzeichen, dass es auch linke Milieus waren, die sich gegen den neuen Betroffenheitskitsch in der Sprache wandten. Gegen das neue «Dummdeutsch», wie ein Buch Eckhard Henscheids hiess. Ein anderer Klassiker lautete: «Wörterbuch des Gutmenschen. Zur Kritik der moralisch korrekten Schaumsprache». Darin wurden die gratismutigen Worte deutscher Säuselheiliger vom Bundespräsidenten abwärts aufs Korn genommen.

Suggestivtandems wie «Wut und Trauer», «Ein Stück weit», «Wir als Deutsche» und «Tschernobyl der Seelen» fanden Eingang ins Nachschlagewerk. Roger Willemsen lieferte für das Buch eine Definition des Begriffs «Dialog»: «Er ist das Sedativ, das sich als Stimulans deklariert.»

Im ausbaufähigen Alter

Wenn Satire ernstzunehmende Bürgerpflicht ist, dann muss sie wie Justitia selbst sein: hellsichtig und zugleich auf gerechte Weise ideologieblind. Wie die linke Sprachkritik nicht nur gegen die «Bild»-Zeitung, Helmut Kohl und Ernst Jünger gekämpft hat, sondern auch gegen das «linksverkitschte Kulturschaffen», kann man im weitläufigen Werk von Gerhard Henschel sehen. Er hat nicht nur das «Wörterbuch des Gutmenschen» mit herausgegeben, sondern schreibt seit zwanzig Jahren an einer Comédie humaine der linken Bohème.

Auf Tausende Seiten ist das mittlerweile zehnbändige autobiografische Romanprojekt angewachsen. Das neueste Buch, der «Schelmenroman», führt in die neunziger Jahre und in einen Kulturkampf, der im Gegensatz zum heutigen auch deshalb produktiv war, weil er sich noch nicht ganz so ernst genommen hat.

Zweiunddreissig ist Henschels romanhafter Doppelgänger namens Martin Schlosser im Jahr 1994. «Ein ausbaufähiges Alter», wie er selbst findet. Die halbe Stelle beim Satiremagazin «Titanic» genügt, um einen Helden über Wasser zu halten, dem es bei den seriösen Dingen des Lebens an Energie gebricht. Abends gerne ein paar Biere in der Frankfurter Kneipe Horizont und sich Streiche gegen die deutschen Ernstbolde in Politik und Kultur ausdenken.

Unermüdlich wird das Sprachmaterial der nach dem Kalten Krieg erst einmal durchatmenden Republik archiviert. Wortschöpfungen wie «Flüsterbrummi», «MultiCashPlus-Programm», «Ergo-Fit-Fussbett» und «Meditationseinleitungshorn» klingen dreissig Jahre später nach einer sorglosen Zeit, aber rundum liegt die Welt durchaus in Scherben. In Jugoslawien herrscht Krieg, Deutschland diskutiert über die Privatisierung seiner Post, und von den Satirekompagnons um Martin Schlosser wird ein Kampf gegen den spiessig-sentimentalen Sprachgebrauch gekämpft.

Kleiner Scherz mit Ernst Jünger

«Ich finde es wirklich beängstigend, dass all die emanzipatorischen Bewegungen genauso auf Lachverbote dringen wie Diktatoren oder Fundamentalisten. Hinter jeder Humorzensur lauert dieser finale Blick», sagt der Lyriker Robert Gernhardt in einem Interview. Auf der anderen Seite beklagt der Humorzensor Günter Grass in einem Gespräch mit dem Soziologen Oskar Negt, dass neuerdings das schöne Wort «Betroffenheit» der Lächerlichkeit preisgegeben werde. Man kommt zur Sache in diesen Tagen. Lesungen der satirischen «Ärgerfeder» Wiglaf Droste werden regelmässig von Gruppen linksautonomer Frauen mit Trillerpfeifen gestürmt.

Im März 1995 ist der Schriftsteller Ernst Jünger dabei, in aller Seelenruhe seinen hundertsten Geburtstag zu feiern. Da möchte die «Titanic»-Redaktion gerne Seelenruhestörer sein. Man inseriert in Zeitungen eine Telefonnummer, unter der der Jubilar angeblich persönlich zu erreichen sei. Mit verstellter Stimme melden sich die Redaktoren und haben ein bisschen Spass.

Es wird an zwei Fronten gekämpft, und am heftigsten ist es dort, wo sich die Linke selbst beharkt: Der Kabarettist Dieter Hildebrandt wirft den Schriftstellern Robert Gernhardt und Eckhard Henscheid vor, sie würden «Menschen verachten». Daran erinnert sich Gerhard Henschel alias Martin Schlosser in seiner Chronik: «Hörte dieses Gesülze denn niemals auf?»

Das Gesülze ist für deutsche Debatten essenziell. Es ist Teil einer Intellektuellen-Nahrungskette, der längst egal ist, dass hinten nur Quatsch herauskommt. Gerhard Henschels «Schelmenroman» beschreibt dieses Phänomen sehr genau, will sich darüber aber nicht erheben. Henschels zehntes autobiografisches Werk erzählt von einer angenehmen Entkräftung: Wofür lohnt es, zu kämpfen? Und kommt nicht der wahre Lohn des Lebens aus dem Zapfhahn der Kneipen?

Die Frankfurter Humortruppe organisiert «Theodor-W.-Adorno-Ähnlichkeitswettbewerbe», die nichts anderes sind als Lesungen. Und wenn einmal wenig los ist oder wenn das Buchprojekt «Drin oder Linie? Alles übers dritte Tor» über einen umstrittenen Treffer bei der Fussball-WM in England stockt, dann widmet sich der Held der Abheftung alter Briefe seiner Eltern.

Fünfzig Leitz-Ordner hat er schon beisammen, aber noch kein gültiges Bild von dieser bürokratischen Amour fou. Als junger Mann schreibt der Vater an seine zukünftige Frau: «Für uns beide ist die Liebe das Schönste und Kostbarste, das es im Leben gibt, und bei dieser Meinung werden wir, denke ich zuversichtlich, immer bleiben. Mutter sagt auch, dass gerade die Liebe das Wichtigste ist und gerade für eine Ehe.»

Bob Dylans Augenbraue

Schlossers eigene, gerade am Kliff des Alterns zerschellende Jugend ist eine Zeit der Bindungsängste. Nach zwei Jahren «Titanic» und in der «bramsigen Stadt» Frankfurt zieht der Schelm nach Göttingen weiter und sieht seine gefühlte Heimatlosigkeit durch die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten Roman Herzog noch einmal gesamtgesellschaftlich aufgedoppelt: «Letzten Endes», sagt der Bundespräsident, «sind wir doch alle unbehaust in den Veränderungen, die neue politische und gesellschaftliche Probleme, neue technische Entwicklungen, Globalisierungsvorgänge und anderes mehr mit sich bringen.»

Da ist sie wieder, die Schaumsprache. Diesen Badezusatz zur moralischen Reinigung und Ermunterung nimmt sich Gerhard Henschels «Schelmenroman» vor. Ausser Schaum nichts gewesen in den neunziger Jahren? Auf der linken Seite hat «die Fatwa aus den Wohnküchen», wie das damals schon hiess, an ideologischer Energie deutlich gewonnen. Auch sonst waren die letzten dreissig Jahre ein Ort fortgesetzter Beschleunigung.

Den friedlicheren Wohnküchen von Gerhard Henschels «Schelmenroman» genügte ein Auftritt Bob Dylans bei MTV. Selig schlug man Bierflaschen gegeneinander, weil der singende Meister seine Bühnenshow auf das einmalige Heben einer Augenbraue beschränkt hatte.

Gerhard Henschel: Schelmenroman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2024. 608 S., Fr. 37.90.

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