Donnerstag, Mai 8

Ein Krieg, wie er derzeit in der Ukraine stattfindet, gehört zu den extremsten menschlichen Grenzerfahrungen. Der polnische Romancier Szczepan Twardoch meistert die unmögliche Aufgabe, ihn in seiner Brutalität und Sinnlosigkeit zu beschreiben, mit Bravour.

Alle Romane des erfolgreichen polnischen Schriftstellers Szczepan Twardoch haben dramatische Sujets, spielen in brisanten historischen Epochen und umkreisen den Krieg. Zuletzt «Kälte», darin ein russischer Revolutionär im Gulag landet und auf abenteuerlichen Wegen durch den hohen Norden entflieht.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Mit seinem neusten Werk «Die Nulllinie» begibt sich Twardoch mitten in die Hölle des Kriegs in der Ukraine. Seit dem Überfall der Russen auf das Nachbarland ist er selber mit Hilfsgütern mehrmals an die Front im Donbass gefahren, hat sich unter Lebensgefahr in Schützengräben versteckt und mit ukrainischen Soldaten gesprochen, ein Reporter der besonderen Art.

Ohne Augenschein und Fakten hätte er das Buch wohl nicht schreiben können, wobei er der Fiktion mehr «Wahrheit» zutraut, da sie «synthetisch» sei, so Twardoch in einem Interview. Bei einem Thema wie dem Krieg, einer «ungeheuren Grenzsituation, in der die conditio humana auf ihre Essenz reduziert wird» und Charakter und Menschlichkeit sich auf dem Prüfstand befinden, sei eine vielseitige Sicht besonders wichtig.

In der zweiten Person erzählt

«Die Nulllinie» erfüllt dieses Postulat auf eindrückliche Weise. Detailwissen über Waffensysteme, insbesondere Drohnen, über Stellungskrieg, das grausame Ausharren in Unterständen, Erdlöchern und nassen Gräben unterfüttert den Text, doch geht dieser mit seiner psychologischen Durchdringung der beteiligten Kämpfer weit über jede Reportage hinaus.

Das liegt an der Machart des Romans. Twardoch lässt seinen Protagonisten in der zweiten Person erzählen, in einem inneren Dialog, der Vergangenheit, Gegenwart und imaginierte Zukunft vereint und gleichzeitig eine Vogel- oder Drohnenperspektive simuliert.

Wer ist dieser Mann? Ein Pole mit ukrainischen Wurzeln, dessen Grossvater in der Waffen-SS-Division Galizien und bei der Ukrainischen Aufstandsarmee diente, ein studierter Historiker mit gründlichen «Ilias»-Kenntnissen, ein Familienvater, der seine Ehe nicht retten konnte und als Legionär in die Ukraine ging, dann in drei Brigaden kämpfte, bis er einem Sonderkommando am «falschen» Ufer des Dnipro, in unmittelbarer Frontnähe, zugeteilt wurde. Sein Rufname: Pferd (polnisch Kon).

Was hinter ihm liegt, bezeichnet er als Brandreste, sich selbst als einen, «der den Tod sucht und jetzt plötzlich festgestellt hat, dass er doch leben will». Nur ist die Aussicht, diesen Krieg zu überleben, gering. Das bestätigt sich am Ende, als «Pferd» nur noch Worte lallt, die ihm im Mund zerfallen. Finita la storia.

Was der Leser auf 255 Seiten erfährt, wühlt die Eingeweide auf. Nahkampf-Optik in der Nachfolge von Remarque und Hemingway. Brutales Töten und Getötetwerden, freilich mit Drohnen und Starlink. Und in den Gefechtspausen das Hereinbrechen von Erinnerungen und die Sehnsucht nach einer weiblichen Umarmung. Denn trotz der Rohheit des Krieges sind Menschen am Werk, mit ihren urmenschlichen Bedürfnissen.

Durch seinen Erzähler charakterisiert Twardoch ein ganzes «Figurenkabinett» von Kämpfern: Da ist der stumpfe «Leopard», einst schwerer Alkoholiker, vom «Alte-Männer-Sadismus» in der Armee traumatisiert, jetzt Aussitzer, der das Warten als einzigen Widerstand gegen die Welt begreift; «Jagoda», immer nüchtern, gebildet und belesen, mit siebenhundert Büchern auf dem Kindle, die er in ruhigen Momenten zu lesen versucht; «Schabla», Säbel, der mutige Scharfschütze, «Ratte», «Arier» und «Malpa», die kein Risiko scheuen, um die «Russacken» zu erledigen.

Verheerende Bilanz

Sie alle kommunizieren in vulgärer Soldatensprache, fluchen, was das Zeug hält. Tauschen sich über Foltermethoden der «Päderussen» aus, wobei auch eine Geliebte des Erzählers ins Spiel kommt, die Vergewaltigung und Folter am eigenen Leib erfahren hat. Notrufe werden chiffriert, «zweihundert» bedeutet «tot», «dreihundert» «verwundet», diese Zahlen kursieren ständig, in Bezug auf die eigenen Leute und den Feind.

Kurzum, der Krieg ist ein Horror, ein Schlachthaus. Über dessen Sinn sich bei weitem nicht alle Beteiligten einig sind. Vaterländischer Verteidigungswille hebt die Moral, für die Desperados, die nichts zu verlieren haben aber, spielt das keine Rolle. Der Erzähler selbst traut den «gut gelaunten Allmachtsfantasien der Sondereinsatzkräfte» nicht. Er weiss um den Munitionsmangel, das Fehlen von Soldaten, kann sich nicht vorstellen, verlorene Gebiete zurückzuerobern. Während andere nicht bereit sind, die Grenzen von 2014 aufzugeben, «für die sie einen so hohen Preis gezahlt haben». Eine «Erkenntnisdissonanz», die die Wirklichkeit in unvereinbare Versionen zerfallen lässt.

Auch unsereins weiss nicht, wie dieser unselige Krieg enden wird, dessen Opferbilanz nach drei Jahren verheerend ist. Twardoch untersucht ihn sozusagen viszeral, indem er tief in die Kampfhandlungen eindringt, vor allem aber in die Köpfe und Körper jener, die sie ausführen. Das gilt es in seiner Drastik auszuhalten. Keine Frage, Krieg gehört zu den extremsten Grenzerfahrungen. Ob daraus zu lernen ist, mag Twardoch nicht entscheiden. Aber was er uns in seinem Roman aufzeigt und wie er es tut, bleibt geradezu physisch haften. Das schafft nur starke Literatur.

Szczepan Twardoch: Die Nulllinie. Roman aus dem Krieg. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt-Berlin-Verlag, Berlin 2025. 255 S., Fr. 34.90.

Exit mobile version