Donnerstag, Januar 9

Europäische Gerichte haben das Asylrecht in den letzten dreissig Jahren ausgebaut und so den Handlungsspielraum der Politik eingeschränkt. Der Jurist und Migrationsfachmann Daniel Thym erklärt, weshalb das riskant ist.

Herr Thym, die Syrer sollen nach Hause zurückkehren, jetzt, da der Diktator Asad gestürzt ist. Das fordern Rechtspolitiker in vielen Ländern Europas. Was halten Sie davon?

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Politik muss in die Zukunft planen. Asyl bedeutet Schutz vor Verfolgung und schweren Gefahren. Wenn diese wegfallen, besteht der Anspruch auf Asyl nicht mehr. Das setzt allerdings voraus, dass sich die Lage in Syrien nachhaltig verbessert. Im Moment sind wir noch nicht so weit, die Situation ist unübersichtlich und volatil. Deshalb war es richtig, dass die Asylbehörden die Verfahren aussetzten. Wir wissen nicht, wie die Lage in einer Woche aussieht. Aber sollte sie sich zum Guten wenden, dann kann der Schutz aufgehoben werden. Das müssen dann die Behörden in jedem Fall einzeln feststellen.

Wie muss die Lage im Land sein, damit die Syrer heimkehren können?

Das ist dann der Fall, wenn keine Verfolgung, schwere Menschenrechtsverletzung oder ernste Bürgerkriegsgefahren drohen. Das heisst nicht, dass in Syrien eine Musterdemokratie bestehen muss. Aber dass zumindest eine Regierung existiert, die Minderheiten nicht verfolgt werden und kein Bürgerkrieg herrscht. Auch dann muss aber jeder Fall einzeln beurteilt werden. Es könnte durchaus sein, wie jetzt im Fall der Iraker, dass die Mehrheit zurückgeschickt werden kann, eine Minderheit aber nicht, weil ihr weiterhin Gefahr droht.

Die Flüchtlingskonvention von 1951 besagt: Ein Widerruf des Schutzes ist möglich, wenn positive Veränderungen im Herkunftsland eintreten, «die dauerhaft und nicht bloss vorübergehend sind». Wie definiert man dauerhaft?

Das bedeutet – juristisch formuliert –, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Verfolgung oder andere schwere Gefahr droht. Man muss also annehmen können, dass in den kommenden Monaten keine Verschlechterung eintritt. Das wäre dann, juristisch betrachtet, dauerhaft.

Es muss aber nicht das ganze Land befriedet sein?

Nein, es gibt ja die Einzelfallprüfung, die feststellt, ob der Wohnort einer Person für diese sicher ist oder nicht.

Wie beurteilt man das von hier aus? Es sind ja verschiedene Rebellengruppen in verschiedenen Regionen aktiv, und auch die Vertreter des Regimes sind nicht einfach verschwunden.

Ja, das ist ein grosses Problem. Die Beamten der Asylbehörde und im Streitfall Richterinnen und Richter müssen das entscheiden. Sie konsultieren eine Vielzahl von Quellen, die Lageberichte ihrer Aussenministerien und der Europäischen Asylagentur, aber auch Dokumente mit Bezug auf Einzelpersonen. Bisher waren die Verfahren bei Syrern nicht besonders kompliziert. Deutschland hat – wahrscheinlich sogar zu grosszügig – praktisch allen Syrern zumindest den subsidiären Schutz für Bürgerkriegsflüchtlinge gegeben, auch wenn die Voraussetzung nicht in allen Landesteilen gegeben war. Wenn es nun aufwendige Einzelfallprüfungen gibt, dann müssen die Behörden und Gerichte bald sehr viel mehr Ressourcen dafür bereitstellen.

Die Politik sucht nach neuen Lösungen. Italien schickte männliche Asylbewerber, die es auf hoher See aufgriff, nach Albanien. Dort sollten sie in einem geschlossenen Lager das Asylverfahren durchlaufen. Die Gerichte haben das gestoppt. Weshalb?

Die dafür notwendige Reform des europäischen Rechts tritt erst 2026 in Kraft. Dann kann Italien alle Personen einem Verfahren in Albanien zuleiten, die aus einem Land kommen, dessen Bürger höchstens in zwanzig Prozent der Fälle schutzbedürftig sind. Aber auch dann nur, wenn sie auf hoher See angehalten werden. Haben sie einmal italienisches Gewässer erreicht, muss das Verfahren in Italien stattfinden. Wenn die Gesuchsteller einen Schutzbedarf haben, dürfen sie legal nach Italien kommen. Wenn nicht, sollen sie abgeschoben werden. Die praktische Hürde bleibt also auch hier die Rückübernahme von abgelehnten Asylbewerbern. Denn alle Personen, bei denen die Abschiebung scheitert, kommen ebenfalls nach Italien.

Vor Melonis Albanien-Projekt haben die Europäer an Lösungen herumgetüftelt, die dem gescheiterten britischen Rwanda-Modell gleichen.

Dabei geht es darum, dass die Verfahren in einem Drittstaat nach dessen Recht durchgeführt werden. Sie müssen aber europäischen Standards genügen, was in Rwanda nicht der Fall war. Darüber wird auch weiterhin diskutiert. Die Idee ist also nicht tot. So oder so müssen die Verfahren effizienter werden. Wenn eine Person drei Jahre in der Schweiz oder in Deutschland ist, bevor sie in ein Drittland überstellt werden kann, dann funktioniert das System nicht. Es ist auf dieser Ebene der Verwaltung und des Vollzugs, wo die Asylsysteme in europäischen Ländern allzu oft scheitern.

Was halten Sie denn grundsätzlich von Drittstaatenmodellen, die die Menschen abschrecken sollen, sich auf den langen und gefährlichen Weg nach Europa zu machen?

Ich bin hin- und hergerissen. Der Reiz liegt für die Regierungen zunächst darin, dass sie signalisieren: Wir unternehmen etwas, wir steuern um! Gleichzeitig ist der gewünschte Abschreckungseffekt nicht leicht zu erreichen. Grossbritannien hatte vor, maximal tausend Menschen nach Rwanda zu schicken. Aber es kamen 2023 und 2024 über 30 000 Personen irregulär über den Ärmelkanal ins Land. Von denen wäre nur ein kleiner Teil nach Rwanda gebracht worden. Die Zahl der Anreisenden nimmt aber nur ab, wenn das Risiko gross ist, am Schluss auch wirklich in Rwanda zu landen.

Australien hatte durchschlagenden Erfolg: Es liess Asylsuchende auf die Insel Nauru bringen – und prompt kamen keine Flüchtlingsboote mehr.

Für Europa ist das nicht machbar. Erstens sind die rechtlichen Vorgaben deutlich strenger als in Australien, vor allem in Bezug auf die Menschenrechte. Und zweitens kamen in Australien pro Jahr nie mehr als tausend Personen an. Das sind für europäische Verhältnisse geradezu Peanuts. Deshalb hat es Australien auch geschafft, die Migrantinnen und Migranten konsequent in ein Zentrum auf Nauru oder zurück in ihr Heimatland zu bringen. Die daraus resultierende Abschreckungswirkung war enorm gross.

Wieso kann das Prinzip der Abschreckung bei grösseren Asylzahlen nicht ebenfalls funktionieren?

Weil es unmöglich ist, so viele Asylsuchende in Zentren in andere Länder zu bringen. Abschreckung hängt aber stark von der Wahrnehmung ab: Solange der Eindruck besteht, dass man es irgendwie doch nach Europa schaffen kann, verpufft der Effekt.

Trotzdem verspricht sich die Politik sehr viel von solchen Modellen. Sind diese Hoffnungen gar nicht berechtigt?

Sie sind berechtigt, wenn man sich bewusst ist, dass verschiedene Migrationsbewegungen gleichzeitig stattfinden. Sie unterscheiden sich in Bezug auf die Routen, die Herkunftsländer und die Fluchtgründe. Mit einem Drittstaatenmodell können Sie eine Teilgruppe erreichen. Ein Zaubermittel, mit dem man alle Herausforderungen gleichzeitig lösen kann, gibt es aber nicht. Das bedeutet auch, dass man die Attraktivität der Zielländer gleichzeitig mit anderen Massnahmen senken muss, etwa mit niedrigeren Sozialleistungen oder mit schnelleren Verfahren. Die Politik sollte nicht auf ihre eigenen Anpreisungen hereinfallen und glauben, dass man die Probleme mit einer einzigen Massnahme lösen kann.

Welches Drittstaatenmodell hat mehr Vorteile? Das italienische, bei dem Rom die Asylverfahren in Albanien selber durchführt und Personen mit Bleiberecht einreisen lässt? Oder das britische, bei dem Rwanda die Asylverfahren durchführt und die schutzbedürftigen Personen auch aufnimmt?

Das kommt darauf an: Das Albanien-Modell ist vor allem für Personengruppen interessant, bei denen in der Regel kein Schutzbedarf besteht. Das ist bei den meisten Flüchtlingen der Fall, die über Nordafrika einreisen. Sie erhalten fast nie ein Bleiberecht. Hier ist die Hoffnung berechtigt, dass es gewisse Ausreisewillige gar nicht erst versuchen werden, weil sie nicht in Albanien landen wollen. Auch die freiwillige Ausreise und die Rückführung in die Heimat dürften von Albanien aus besser funktionieren. In anderen Konstellationen bringt das italienische Modell aber nicht viel.

In welchen Fällen?

Bei Asylbewegungen, bei denen die Schutzquote hoch ist. Denn alle Personen, die schliesslich ein Bleiberecht erhielten, würden einfach über einen Umweg via Albanien ins Land gebracht. Das macht die Verfahren nur komplizierter und führt zu höheren Kosten. Hier eignen sich Konzepte besser, bei denen die Schutzbedürftigen im Drittstaat selber bleiben – also so, wie es England mit dem Rwanda-Modell vorgesehen hatte. Es gibt aber ein weiteres Modell, das gerade viele elektrisiert.

Erzählen Sie!

Die Niederlande forcieren sogenannte Rückkehrzentren oder Return-Hubs. Dabei wird zwar das Asylverfahren in den Niederlanden durchgeführt. Jene Personen, die ausreisen müssen und bei denen die Abschiebung ins Heimatland nicht gelingt, werden jedoch in ein Drittland gebracht. Dort dürfen sie bleiben – oder reisen freiwillig in ihre Heimat zurück. Darüber verhandeln die Niederlande gerade mit Uganda.

Und worin besteht der Vorteil dieses Modells?

Es funktioniert auch bei Personen, bei denen die Rückschaffung in die Heimat nicht gelingt. Das ist ja eines der Hauptprobleme im Asylbereich: Die Abschiebung ist aufwendig, nimmt viel Zeit in Anspruch und scheitert oft. Das niederländische Modell hat weitere Vorteile: Für Personen, die nicht schutzbedürftig sind, sind die rechtlichen Standards, die das Aufnahmeland erfüllen muss, geringer. Es ist also einfacher, geeignete Länder für solche Return-Hubs zu finden. Und schliesslich dürfte das Modell auch in Europa auf grössere Akzeptanz stossen: Denn es lässt sich kaum etwas dagegen einwenden, Leute ins Ausland zu bringen, die gar keinen Schutz benötigen.

Sie plädieren dafür, Modellprojekte zu entwickeln und zu testen. Was wollen Sie damit erreichen?

Wir führen seit über zwanzig Jahren eine abstrakte Debatte über Drittstaatenmodelle. Umgesetzt wurde bis jetzt kein einziges. Man kann natürlich noch jahrelang weiter diskutieren. Besser wäre es, Dinge im kleinen Rahmen auszuprobieren, um zu sehen, was funktioniert und was nicht. Wo die Gerichte mitziehen und was es an Unterstützung für die Partnerländer braucht. Und wenn es gelingt, kleine Projekte erfolgreich zu realisieren, kann man skalieren.

Viele Politikerinnen und Politiker kritisieren, dass die Rechtsprechung die Handlungsspielräume in der Migrationspolitik zu stark einschränke. Die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention würden zum engen Korsett. Stimmt das?

Bei der Genfer Flüchtlingskonvention sehe ich kaum Probleme, weil sie sehr vage ist. Es handelt sich um einen internationalen Vertrag, den kein Gericht verbindlich auslegen kann. Australien oder die USA machen eine sehr viel strengere Asylpolitik als Europa, obwohl beide an die Genfer Flüchtlingskonvention gebunden sind. Die strengen Vorgaben leiten sich vielmehr aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der europäischen Gesetzgebung ab. Und das Erstaunliche ist, dass sich das meiste davon auf die Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte zurückführen lässt.

Inwiefern?

Vor dreissig Jahren wurden die Menschenrechte noch ganz anders ausgelegt als heute. Viele der juristischen Einschränkungen sind eine vergleichsweise junge Entwicklung. Das heisst im Umkehrschluss aber auch, dass Europa nicht in eine Unrechtsherrschaft zurückfiele, wenn es einen Teil seiner Rechtsprechung auf den Stand der 1990er Jahre zurückdrehte.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Die deutschen Gerichte verfügen inzwischen auch ein Abschiebeverbot im Fall von drohender krasser Armut. Das führt dazu, dass junge afghanische Männer, die nach Ansicht von Behörden und Gerichten von den Taliban nicht verfolgt werden, nicht in ihr Heimatland zurückgebracht werden dürfen. Einfach deshalb, weil die Gerichte argumentieren, die ökonomische Lage sei so schlecht, dass eine Verelendung drohe. Solche Vorgaben werden nicht zuletzt aus der EMRK abgeleitet.

Das betrifft deutsche Gerichte. Hat sich auch die Rechtsprechung auf europäischer Ebene in diese Richtung entwickelt?

Ja, und auch dafür gibt es Beispiele: Noch vor zwanzig Jahren hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Haft bei der Einreise, beispielsweise in einer Transitzone, pauschal für mehrere Monate akzeptiert. Inzwischen sind wir auch in diesem Bereich bei einer sehr strengen Einzelfallprüfung angelangt. Mit der Folge, dass man Leute heute sehr viel öfter ins Land einreisen lassen muss. Ähnlich ist es bei Pushbacks auf hoher See, die rechtlich noch vor zwanzig Jahren erlaubt waren. Das sind Entwicklungen, die den Handlungsspielraum einschränken.

Lässt sich diese Rechtsprechung nicht einfach rückgängig machen?

Wenn die Politik Freiheiten zurückgewinnen will, die sie in den 1990er Jahren noch hatte, muss sie die Gerichte davon überzeugen, gewisse Standards zurückzunehmen. Es ist für Gerichte allerdings viel einfacher, neue Standards zu etablieren, als sie zurückzunehmen. Ein anderer Weg wäre, in internationalen Verträgen festzuschreiben, wie gewisse Dinge von den Gerichten ausgelegt werden müssen. Ich halte dies für eine legitime Debatte.

Das Asylsystem ist heute extrem komplex und schwer zu reformieren. Was geschieht, falls es nicht gelingt, wieder mehr Handlungsspielraum zu erlangen?

Wir haben in der Asylpolitik einen Punkt erreicht, an dem die Politik ein letztes Mal versuchen kann, das Problem innerhalb des geltenden Systems in den Griff zu bekommen: mit sicheren Drittstaatenmodellen, mit Return-Hubs, mit dem Widerruf des Asyls für Syrer als Folge des Sturzes von Asad und mit weiteren Massnahmen. In den nächsten fünf Jahren entscheidet sich, ob dies gelingt und ob unser heutiges Asylsystem überlebt. Falls das nicht klappt, kommt bald eine Grundsatzdebatte über die Abschaffung des heutigen Asylwesens mit seinen komplizierten Einzelfallprüfungen auf uns zu.

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