Mittwoch, Januar 15

«Kleines rotes Buch» heisst die App Xiaohongshu übersetzt, die sich als Tiktok-Alternative verbreitet. Nicht nur Amerikaner, auch Deutsche und Schweizer kommen dort mit Chinesen ins Gespräch und witzeln über Geopolitik.

In den USA nutzt etwa die Hälfte der Bevölkerung Tiktok. Nun droht der beliebten App das Aus, und das bereits am Sonntag. Tritt das geplante Gesetz dann in Kraft, werde Tiktok den Zugang zur App in den USA umgehend deaktivieren, berichtete die Nachrichtenagentur Reuters am Mittwoch. Die amerikanische Regierung fürchtet chinesische Einflussnahme oder Spionage über die App.

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Tiktok-Nutzer jedoch vertrauen dem chinesischen Mutterkonzern hinter der App. Um das zu demonstrieren, haben sie in den vergangenen Tagen zu Hunderttausenden Konten auf Rednote eröffnet, einer anderen chinesischen Social-Media-Plattform.

So wie die Nutzerin Star404. Die junge Frau beschreibt sich als «amerikanischen Flüchtling» auf ihrem Profil und hat bereits 44 000 Follower. In einem Video sagt sie, dass sie zwar etwas orientierungslos sei auf Rednote, es aber bereits liebe. Auf Facebook oder Instagram weiche sie bestimmt nicht aus, falls Tiktok verboten werde: «Alles ausser Meta!» Das Video hat 100 000 Aufrufe.

Von der einen China-App zur anderen

Der globale Zuwachs bei Rednote ist ein trotziger Trend. Er wurde befeuert von der Plattform selber, ein PR-Gag unter dem Schlagwort «Tiktok refugees». Mit seinem Erfolg hat wohl kaum jemand gerechnet, Rednote gibt sich auffällig bedeckt, beantwortet keine Medienanfragen. Tatsächlich ist eine Art digitale Flüchtlingsbewegung im Gange. Laut der Nachrichtenagentur Reuters sind bereits eine halbe Million von den 170 Millionen amerikanischen Tiktok-Nutzern präventiv zu Rednote migriert.

Rednote hat es dadurch zeitweise an die Spitze der Download-Charts in den USA geschafft, und das Phänomen reicht über die Staaten hinaus: Auch in der Schweiz und Deutschland stand Xiaohongshu in den Download-Charts von Apple am Mittwoch zuoberst. So heisst die Anwendung auf Chinesisch. Übersetzt heisst das «kleines rotes Buch», so hiess auch die Mao-Bibel, die Sammlung der wichtigsten Lehren des Grossen Vorsitzenden Mao Zedong.

Doch Rednote ist keine politische Propaganda-App, es geht um Lifestyle, um Reisen, um Beauty, Unterhaltung, Produktempfehlungen. Man kann dort Texte, Bilder und Videos teilen, einander anrufen, an Livestreams teilnehmen, einkaufen.

Rednote – oder Xiaohongshu – wurde eigentlich für chinesische Nutzer konzipiert, vor allem bei jungen Chinesinnen ist sie beliebt. Über 300 Millionen Menschen nutzen die App. Es gibt eine einzige Plattform und nicht zwei getrennte, für China und den Rest der Welt, wie es bei Tiktok oder der Social-App WeChat der Fall ist. Man kann zwar die Sprache der App bei Rednote von Chinesisch auf Englisch umstellen, doch die meisten Beiträge sind auf Chinesisch.

Zumindest bis vor kurzem. Jetzt gibt es da den amerikanischen Lehrer Daniel, der anderen «Tiktok-Flüchtlingen» ein paar Brocken Chinesisch beibringt. Eine junge Kasachin namens Yana Kim erklärt in einem Video, wie man Rednote nutzt und mit welchen Inhalten man vorsichtig sein müsse, weil «China ein sehr konservatives Land ist». In den Kommentaren mahnt jemand: Politik, Religion, Pornografie, Drogen, Glücksspiel – diese Themen seien verboten.

«Ich liebe meinen chinesischen Spion»

Das hindert die Chinesen und Amerikaner auf der Plattform aber nicht daran, miteinander ins Gespräch zu kommen. In Posts und Kommentaren stellen sie einander Fragen. Eine Amerikanerin fragt, wie hoch die Studiengebühren in China seien. «Stimmt es, dass man in den USA eine hohe Geldsumme zahlen muss, wenn man einen Krankenwagen ruft?», schreibt ein Nutzer aus China, eine Amerikanerin antwortet: «Das ist richtig, vor fünf Jahren kostete es 900 Dollar, und das Geld schulde ich ihnen immer noch.» Ein Nutzer aus China fragt, ob man in den USA wirklich nur fünf Tage die Woche und acht Stunden pro Tag arbeite.

Es ist ein kultureller Austausch zu beobachten, der wie der Beginn einer Völkerfreundschaft anmutet – und das in Zeiten, in denen die chinesischen Medien voller antiamerikanischer Propaganda stecken und sich ein neuer trumpscher Handelskrieg anbahnt. Aus der Lifestyle-App Rednote ist auf einmal ein Ort geworden, wo soziale Probleme diskutiert werden und über die wahnwitzigen Auswüchse des Grossmächtekonflikts gespottet wird. «Ich liebe meinen chinesischen Spion», witzeln ehemalige Tiktok-Nutzer, Chinesen antworten in den Kommentaren mit: «Rück gefälligst deine Daten raus!»

Doch ob Rednote das neue Tiktok wird oder als kurzlebiger Trend verpufft, ist unsicher. Noch ist erst ein kleiner Prozentteil der amerikanischen Tiktok-Nutzer abgewandert. Will Rednote nachhaltigen globalen Erfolg haben, muss es internationaler werden. Die strikten Zensurregeln in China dürften die neuen amerikanischen Nutzer zudem bald vergraulen. Die Zensoren werden wohl bald einschreiten. Denn der offene Austausch und die kritische Debatte, die jetzt stattfinden, laufen den Interessen des chinesischen Staats zuwider, der stets die Kontrolle behalten will.

Doch selbst wenn Rednote sich als keine echte Alternative zu Tiktok erweisen sollte, demonstriert das Phänomen die Grenzen eines Tiktok-Verbots. Die beliebtesten digitalen Anwendungen kommen nun vermehrt aus China. Das zeigen auch die Shopping-Apps Shein oder Temu. Diese Realität lässt sich mit pauschalen Verboten nicht bekämpfen, aber sie lässt sich regulieren.

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