Samstag, Oktober 5

Nach seinem Amtsantritt lockerte Joe Biden die Einwanderungspolitik seines Vorgängers. Die Asylzahlen stiegen auf Rekordniveau. Kürzlich verschärfte der US-Präsident die Regeln, und die illegale Zuwanderung halbierte sich. Jetzt profitiert Kamala Harris im Wahlkampf davon.

Die amerikanische Südgrenze zu Mexiko sei für Kamala Harris die grösste politische Hypothek, schrieb der «Economist» kürzlich. Als Senatorin kritisierte die Demokratin die scharfe Einwanderungspolitik der Trump-Regierung. «Ein papierloser Immigrant ist kein Krimineller», sagte Harris 2017. Später nannte sie den milliardenteuren Bau einer Grenzmauer «unamerikanisch» und ein «mittelalterliches Prestigeprojekt».

Um Migranten abzuschrecken, liess Trump an der Grenze zeitweise auch Kinder von ihren Eltern trennen. Gleichzeitig wies der republikanische Präsident die Behörde zur Durchsetzung der Einwanderungsgesetze (ICE) an, verstärkt papierlose Migranten, die sich bereits im Land befanden, aufzuspüren, festzunehmen und auszuschaffen. «Wir müssen das ICE kritisch hinterfragen», meinte Harris 2019. Viele Demokraten forderten gar die Abschaffung der Behörde. Auch Harris sagte: «Wir müssen vermutlich über einen Neubeginn nachdenken.»

Lockerungen nährten Migrationsströme

Im Wahlkampf 2020 versprach Joe Biden, die verschärfte Einwanderungspolitik seines republikanischen Kontrahenten sofort rückgängig zu machen. «Wir werden unsere historische Rolle als sicherer Hafen für Flüchtlinge und Asylsuchende wiederherstellen», erklärte der Demokrat. Bidens Vision war eine «faire, geregelte und humane» Zuwanderung. Als Vizepräsidentin trug Kamala Harris diese Vision mit.

Kurz nach seinem Amtsantritt unterzeichnete Biden mit Harris an seiner Seite eine Reihe von Verordnungen, um seine Versprechen einzulösen. Als Seitenhieb gegen Trump meinte der Präsident: «Ich schaffe keine neuen Gesetze, ich beseitige eine schlechte Politik.» In den ersten Monaten und Jahren seiner Regierungszeit stellte Biden unter anderem den Bau der Grenzmauer ein, hob die historisch tiefen Flüchtlingskontingente an, beschränkte beschleunigte Ausschaffungen und gewährte den Opfern von Bandenkriminalität erneut ein Asylrecht.

Die Biden-Regierung setzte zudem Trumps umstrittene «Remain in Mexico»-Politik aus. Die Massnahme zwang Schutzsuchende, nach einem Asylantrag in den USA in Mexiko während Monaten oder Jahren auf ihren Entscheid zu warten. Im Mai 2023 hob Washington auch den «Title 42» auf. Trump hatte die gesetzliche Bestimmung genutzt, um Migranten während der Covid-Pandemie aus Gründen des Seuchenschutzes ohne Verfahren umgehend nach Mexiko zurückzuschicken.

Biden konnte nicht alle Verschärfungen seines Amtsvorgängers sofort aushebeln. Unter anderem sorgten gerichtliche Einsprachen für beträchtliche Verzögerungen. Doch allein das im Wahlkampf gemachte Versprechen einer humaneren Politik schien neue Migrationsströme in Bewegung zu setzen. Unter Trump griff der Grenzschutz im Fiskaljahr 2019 im Süden rund 850 000 Migranten auf. Diese Zahl stieg bis 2023 unter Biden kontinuierlich auf über 2 Millionen an. Im Gegensatz zu früher kommen die Schutzsuchenden heute nicht mehr vorwiegend aus Mexiko und zentralamerikanischen Ländern. Rund die Hälfte stammt nun aus Südamerika oder von anderen Kontinenten.

Eine späte, aber scharfe Kehrtwende

In dieser Situation nützte es auch nichts, dass Harris bei einer Reise nach Guatemala im Juni 2021 den Menschen empfahl: «Kommt nicht in die USA.» Biden hatte seine Vizepräsidentin damit beauftragt, die Ursachen der Migrationskrise in den Herkunftsländern zu bekämpfen. Doch an den Wurzeln lässt sich das Problem nur langfristig lösen. Harris konnte mit dieser Mission auf kurze Sicht kaum Erfolge erzielen. Trump und die Republikaner bezeichnen Harris seither als Bidens unfähige «Grenz-Zarin».

In den vergangenen Monaten vollzogen Biden und die Demokraten jedoch einen Kurswechsel in der Migrationspolitik. Bei den Verhandlungen um neue Hilfsgelder für die Ukraine stimmte die Linke im Senat zunächst weitreichenden Verschärfungen des Asylrechts zu. Aus Angst um sein wichtigstes Wahlkampfthema übte Trump jedoch Druck auf die Republikaner aus, damit diese die bereits erzielte Kompromisslösung wieder verwarfen. Trotzdem verschärfte Biden seine Einwanderungspolitik im Juni mit unilateralen Verordnungen.

Gemäss einem Bericht der «New York Times» werden Migranten von Beamten an der Grenze nun nicht mehr proaktiv danach gefragt, ob sie in ihren Herkunftsländern um ihr Leben fürchten müssten. Wer von sich aus keine solche Angst äussere, werde schnell ausgeschafft. Gleichzeitig ist der Anteil der an der Südgrenze aufgegriffenen Migranten, die ins Land gelassen werden, um auf ihren Asylentscheid zu warten, deutlich zurückgegangen.

Weil auch Mexiko und Panama nun aktiv helfen, durchreisende Migranten zurückzuschicken, ist die Zahl der illegalen Grenzübertritte im Süden der USA stark gesunken. Im Dezember lag dieser Wert noch bei knapp 250 000 Personen. Im Juli waren es nur noch 56 000.

Harris hilft dies nun im Wahlkampf. Trump versucht die Demokratin zwar als Bidens «Architektin» der Migrationskrise zu brandmarken. Doch Harris verspricht jetzt, die im Senat mit den Republikanern ausgehandelte Verschärfung des Asylrechts unterzeichnen zu wollen, sollte sie die Präsidentschaftswahl gewinnen. Bei Wahlkampfauftritten betont Harris zudem, wie sie als Staatsanwältin und Justizministerin in Kalifornien mit harter Hand gegen mexikanische Kartelle und Menschenschmuggler vorging.

Durch die sinkenden Migrationszahlen ist das Thema Einwanderung zumindest etwas in den Hintergrund gerückt. Am meisten beschäftigen die Wähler die Wirtschaft und die Inflation. Gemäss Erhebungen der «New York Times» kümmert mittlerweile auch das Recht auf Abtreibung die Amerikaner mehr als die Zuwanderung – besonders die Frauen unter ihnen.

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