Donnerstag, September 4

Der Russe Sergei Lebedew hat seinen neuen Roman da angesiedelt, wo russische Freischärler 2014 über der Ostukraine den Malaysia-Airlines-Flug MH17 abschossen. Ein stillgelegter Grubenschacht wird zum Inbild von Russlands gewalttätiger Geschichte und Gegenwart.

Der in Potsdam lebende russische Schriftsteller Sergei Lebedew versteht sich auf spannende Stoffe, die tief in die Historie hineinreichen. Als Geologe mit Interesse für Paläontologie und Archäologie hat er vor allem die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts erforscht, indem er sein Augenmerk auf jene verborgenen Schichten richtete, die unter der Erdoberfläche liegen: Massengräber, Lagerreste, zugeschüttete Schächte.

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Sein jüngster Roman, «Die Beschützerin», spielt 2014 in einer Bergbausiedlung im Donbass, in den Tagen, als eine russische Boden-Luft-Rakete ein Passagierflugzeug der Malaysia Airlines abschoss. Aus Fakten, Archivdokumenten und Fiktion konstruiert Lebedew ein beängstigendes Tableau der Gewalt, die Jahrzehnte zurückreicht. Denn just da, wo die Rakete stationiert wird, befindet sich der Eingang zum stillgelegten Schacht 3/4, in dem Opfer der Revolution von 1905 und des Bürgerkriegs, von Deutschen erschossene Soldaten der Roten Armee und zahllose Juden liegen. Ein Verbrechen folgte aufs andere, und alles wurde mit Schweigen zugedeckt.

Geschichte des Grauens

Als Erzähler dieser Geschichte des Grauens fungiert der «Ingenieur», ein zeitloser «Geist», der mehr als ein Jahrhundert überblickt. Als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens mit abgeschlossenem Bergbaustudium war er massgeblich am Bau des Schachts beteiligt, erlebte die Revolution ebenso wie die entsetzliche Hungersnot des Jahres 1933, bis er zu fünf Jahren Straflager verurteilt wurde.

Er wurde zur Kohlemine zurückbeordert, wo ihn der Tod ereilte: Zusammen mit Tausenden weiteren Juden wurde er 1942 von einem deutschen Sonderkommando erschossen und in die Grube geworfen. «Die einen, die ‹Braunen›, haben uns hingerichtet, und die anderen, die ‹Roten›, haben uns für immer eingesperrt, wie einen Dschinn in der Flasche. (. . .) Geheime Verwandtschaft der Ideologien? Solidarität unter Kriminellen?»

Aus der Versteinerung löst ihn ein Knall – und er erwacht. Wird zum Zeugen nicht nur vergangener, sondern auch gegenwärtiger Geschehnisse. Durch ihn, der von einem Ort aus spricht, «wo die metaphysischen Wurzeln der Ereignisse sichtbar sind», lässt Lebedew den Leser an der Hölle der Gegenwart teilhaben.

Die Erzählung fokussiert sich auf fünf Tage und vier Personen: den «Ingenieur», den «General», Shanna und Valet. Wobei Rückblenden und alternierende Perspektiven den Handlungsablauf durchbrechen, Leitmotive ihn festigen. Die Zeche, die schwarzen Haldenberge, der allgegenwärtige Kohlestaub. «Kohle ist der Leib der Vorgeschichte (. . .), ist der Treibstoff des Todes, ein integraler Bestandteil der Gewalt.»

Im Bergbau häufen sich Unglücksfälle und Gasexplosionen, kaum eine Familie, die nicht Opfer zu beklagen hätte. So hat auch die junge Shanna ihren verschütteten Vater nie gekannt, wuchs mit ihrer Mutter Marianna, einer begnadeten Wäscherin, auf, deren Reinheitsethos (und Beschützerinstinkt) so unheimlich wirkte, dass der Geheimdienst dem «Schneewittchen» auf den Fersen war. Das Schicksal beschert ihr einen qualvollen Krebstod. Die Tochter hadert, verzweifelt, kann sich vom Bann der Toten aber nicht befreien. Was Valet, der Nachbar, genau beobachtet. Schon als Junge hat er Shanna heimlich begehrt, sollte jetzt seine Stunde gekommen sein?

Ohne Himmel und Hoffnung

Als Jugendlicher hat Valet einen Zufallsmord begangen, war in Moskau, ist zurückgekehrt, kämpft auf der Seite der Freischärler-Separatisten, dieser «Zombies», die nur auf Rache sinnen. «Ihr Krieg ist ein Krieg der auferstandenen Toten, ein Krieg gegen den Fluss der Zeit und des Lebens.» Valet ist es, der das FlaRak-System in die richtige Position bringt. Und als Wrackteile des abgeschossenen Flugzeugs, Gepäckstücke und zerfetzte Körper die Felder bedecken, betreibt er Leichenfledderei: klaut für Shanna einen goldenen Lippenstift. Zwar wirkt die Verführung, doch nicht im erhofften Sinn. Shanna sucht die Befreiung ohne ihn.

Ausgerechnet in der aufgemöbelten Kneipe «Paradies», wo er sich Shanna gefügig machen will, wird Valet gefasst und abgeführt. Während der «General», der nun seine Chance wittert, in seinem protzigen Wagen von betrunkenen Freischärlern erschossen wird. Shanna aber rennt um ihr Leben. Zu Hause angekommen, putzt sie das Haus, packt ihre wichtigsten Sachen und verschwindet in die Nacht. Sucht sie Zuflucht im Schacht – oder weit weg davon?

Zum «General» mit Spitznamen «Korol», König, ist zu sagen: ein Geheimdienstler und «erfahrener Dramaturg der operativen Kunst», in zwei Tschetschenien-Kriegen zum General befördert, Augenzeuge der Erstürmung der Schule von Beslan mit Hunderten toten Schülern; er bespitzelt die Zechenwäscherin Marianna und weiss um die Geheimnisse des ominösen Schachtes 3/4. Das Studium von 49 Bänden Geheimakten zeigt ihm: summierte Verbrechen, summierte Vertuschungen. Nun hat er sich ausgeflunkert, «ist bankrott». Der Abschuss des ausländischen Passagierflugzeugs gibt ihm den Rest: «Diese übereilt erfundenen Republiken sind Schrott, peinlich, Marke Eigenbau. Aber wer interessiert sich schon für sie. Da wurden ja Götter getötet. Die höchste Kaste. ‹Juhropäer›.» Wenig später schlägt auch dem «General» sein letztes Stündchen.

Sergei Lebedews Roman, zentriert um einen Grubenschacht, gleicht einer bildmächtigen Parabel von Russlands gewalttätiger Geschichte – und Gegenwart. Nichts, was Hoffnung andeutet, nicht einmal der Himmel. Auch er ist zum Kampfschauplatz mutiert. Nur die schuldlose Shanna imaginiert sich eine Zukunft: «Dort, im Untergrundland, wo die Verbände der Verwundeten und die Windeln der Neugeborenen zu waschen sind.»

Sergej Lebedew: Die Beschützerin. Roman. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2025. 255 S., Fr. 36.90.

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