Freitag, September 20

Encieh Erfani wollte ihr Heimatland voranbringen und wurde Professorin für Physik in Iran. Während der Aufstände vor zwei Jahren kündigte sie ihre Stelle, aus Protest. Danach verlor sie die Kontrolle über ihr Leben.

Als sie klein war, wollte Encieh Erfani bei ihren Grosseltern immer auf dem Balkon schlafen. Nachts konnte es ziemlich kalt werden, aber sie beharrte darauf. Denn sie liebte es, all die Sterne am Firmament zu sehen. Der Nachthimmel in ihrer Heimatstadt Tabriz im Norden Irans war damals noch dunkel. Es waren diese Nächte, die ihr Staunen über das Weltall begründeten.

Dieses Staunen brachte sie weit: Sie studierte Physik, wurde Professorin und die erste Frau in der iranischen Gesellschaft für Astronomie. Aber Encieh Erfani ist auch ein besonders mutiger Mensch. Als vor zwei Jahren in Iran die Proteste für Frauen- und Freiheitsrechte losgingen, stand sie für ihre Prinzipien ein und kündigte ihre Stelle. Was ihr damals noch nicht klar war, ist, dass sie damit auch ihre Familie und ihr Zuhause verlieren würde, vielleicht für immer.

Erfani ist eine kleingewachsene, aber kerzengerade Frau. Ihre braunen Locken sind achtlos zusammengebunden. Sie erzählt ihre Geschichte eindringlich, eine Anekdote jagt die nächste, und man spürt ihre Gefühle bei jeder Episode ihres wechselhaften Lebens.

Einen Lebenslauf wie ihren kann man sich fast nur in Iran vorstellen, einem Land, in dem Frauen etwa gleich oft zur Schule gehen wie Männer, aber viel seltener arbeiten. In dem verheiratete Frauen nicht ohne die Erlaubnis des Ehemanns reisen dürfen, aber mehr Frauen naturwissenschaftliche Fächer studieren als Männer. Und in dem es Frauen das Leben kosten kann, ohne Kopftuch aus dem Haus zu gehen.

In Deutschland legte Erfani das Kopftuch ab

Wenn Erfani heute in den Himmel schaut, sieht sie mehr als die Sterne. Sie weiss, was dort oben passiert. Darin liegt für sie die Magie der Wissenschaft: wenn man etwas, das man kennt, zum ersten Mal mit neuen Augen sieht.

Dieses Gefühl gab ihr als junges Mädchen der Physikunterricht. Deshalb verfolgte sie dieses Fach weiter, auch wenn sie sagt, in Chemie sei sie besser gewesen. Sie fand Atome spannend, aber ihr war klar, als Iranerin der Nuklearphysik nachzugehen, wäre irrsinnig: Im Inland würde man im geheimen Atomprogramm der Regierung arbeiten, im Ausland stünde man auf einer schwarzen Liste – der Westen will die nuklearen Fähigkeiten Irans auf keinen Fall stärken.

Stattdessen spezialisierte sie sich auf physikalische Teilchen im Weltraum. Sie studierte erst in Iran und Aserbaidschan, dann an einem Institut in Triest, Italien. In Bonn promovierte sie.

Erfani ist in einer traditionellen iranischen Familie aufgewachsen, der Vater hat einen Betrieb, die Mutter ist Hausfrau. Religion und Kopftuch gehören dazu. Doch im Ausland begann sie zu hinterfragen, welche Regeln nun wirklich der Islam vorschreibt und was nur Interpretationen sind. Sie las Bücher, tauschte sich per E-Mail mit Freundinnen aus, die dieselben Zweifel hatten. «Ich hatte einen eigenen Gmail-Ordner mit dem Namen ‹Hijab›.»

Am Tag nach dem Abschluss ihres Doktorats legte sie das Kopftuch ab und lief durch die Strassen von Bonn. «Ich wollte sehen, was passiert. Aber es kümmerte natürlich niemanden.» Erfani versprach sich, den Hijab nie mehr anzuziehen.

Dem blieb sie treu, auch, als sie später nach Iran zurückkehrte.

Sie unterschätzte, was es heisst, in einer Diktatur zu leben

Sie wollte ihrem Land etwas zurückgeben, Forschung und Bildung voranbringen. Sie wollte in der Nähe ihrer Eltern und ihres Bruders leben. Deshalb zog Erfani zurück nach Iran und nahm erst eine Postdoc-Stelle und dann eine Assistenzprofessur in der Stadt Zanjan an.

Heute sagt sie, sie habe unterschätzt, was es bedeute, in einer Diktatur zu leben. «Ich dachte, ich kann einfach meine Arbeit machen. Aber das ist nicht der Fall.»

Erfani kann viele Geschichten darüber erzählen, wie sich das Regime subtil in den Alltag einmischt. Da war das eine Mal, als ein Kollege befördert werden wollte und ein Vertreter des Wissenschaftsministeriums an die Universität kam, um zu erfragen, ob er denn faste und bete und ob er Studierende mit Vornamen anspreche. Sie lernte, dass bereits das Ansprechen von Kollegen oder Studierenden mit Vornamen für das Regime ein Problem ist.

Da ist ihre Erfahrung im Vorstand der astronomischen Gesellschaft von Iran. 2021 wurde sie als erste Frau überhaupt hineingewählt. Ihr Traum war, darin eine Frauensektion zu gründen. Doch als sie in einem Workshop für Astro-Fotografie die Hälfte der Plätze für weibliche Teilnehmer reservieren wollte, bremste man sie aus. Dass sie einen jährlichen Astronominnen-Tag einführen wollte, zu Ehren einer bekannten iranischen Astronomin, war «zu feministisch». Nach elf Monaten trat Erfani zurück.

Eine mutige E-Mail verändert ihr Leben für immer

Am 16. September 2022 wurde die junge Frau Mahsa Amini von der iranischen Sittenpolizei verhaftet, weil sie ihr Kopftuch nicht richtig trug, und auf der Polizeiwache so brutal zusammengeschlagen, dass sie starb. Erfani war gerade auf einer Konferenz in Mexiko, als die Nachricht sie erreichte. Sie war im Schock. Tagelang habe sie nur einen Gedanken im Kopf wiederholt: «Die haben dich getötet, nur wegen des Hijabs. Das hätte ich sein können.»

In Iran brachen die Proteste los, die Regierung unterdrückte sie brutal. Die Studenten klagten darüber, dass die Professoren still blieben. Als sie das hörte, schickte Erfani frühmorgens eine Mail mit ihrer Kündigung an die ganze Physikabteilung. Sie liest sich wie ein Gedicht:

Ich grüsse Sie
Die Studenten schreien

Die Strassen sind mit Blut bedeckt
Unsere Professoren sind still
Unsere Professoren sind gedemütigt
Sie akzeptieren die Demütigung

Ich verkünde es laut; ich werde weder still sein noch mit der Bürde der Demütigung leben.
Und solange diese ins Blut meiner Mitbürger getränkte Regierung besteht, trete ich von meinem Amt als Dozentin zurück.
In der Hoffnung auf Freiheit
Encieh Erfani
23. September 2022

Danach verlor sie die Kontrolle über die Ereignisse.

Ein Koffer Sommerkleidung für den Winter in Italien

Am Abend desselben Tages schrieben ihr Freunde auf Whatsapp, dass ihre Kündigung auf Twitter viral gehe. Ein Student hatte den Text veröffentlicht, ein oppositioneller Journalist teilte ihn auf X, damals Twitter, Tausende likten und teilten ihn. «Ich bin keine Social-Media-Person, ich wusste gar nicht, was das bedeutete.» Aber noch bevor Erfani ihre Familie über Whatsapp erreichen und sie über ihre Kündigung informieren konnte, hatte der Geheimdienst bei ihren Eltern angerufen. «Es war ein klarer Hinweis, dass ich nicht heimkommen sollte.»

Daraufhin kritisierte Erfani in mehreren Interviews das Regime direkt. Damit war klar, dass sie ihre Freiheit oder sogar ihr Leben riskieren würde, wenn sie zurückkehrte. Erfani aktivierte alte Kontakte. In Triest organisierte man ein Stipendium, um sie ein paar Monate lang aufzunehmen. Mit nur einem Koffer Sommerkleidung und, wegen der Sanktionen, ohne Zugriff auf ihr Bankkonto flog sie von Mexiko nach Italien, verbrachte den Winter und Frühling dort.

Weil das Institut sie nicht längerfristig beschäftigen konnte, musste sie bald die nächste Stelle suchen – und durfte dabei Italien nicht verlassen, weil die Behörden so lang brauchten, ihren Aufenthaltstitel auszustellen.

Eine iranische Physikerin, das stimmt die Behörden skeptisch

Per Videogespräch bekam sie eine Stelle als Forscherin an der Universität in Mainz und zog um. Doch auch diese jetzige Stelle ist befristet. Mit vierzig Jahren steht Erfani da wie am Anfang ihrer Karriere. Sogar noch schlechter. Das iranische Regime hat ihren Zugang zu den Daten der Universität gesperrt. Auf ihre Diplome, Arbeitszeugnisse oder die Bögen mit Feedback ihrer Studenten kann sie nicht mehr zugreifen.

Dazu kommen die Hürden, die ihr Einwanderungsbehörden in den Weg stellen. Zweimal musste sie wegen Verspätungen der Behörden fast Asyl beantragen, weil ihr Aufenthaltstitel ablief. Mehrere Konferenzen konnte sie trotz Einladung als Sprecherin nicht besuchen, weil ihr Visum nicht schnell genug bearbeitet wurde. Eine iranische Physikerin, das stimmt die Behörden skeptisch. Nicht immer schauen sie genau genug hin, um zu sehen, dass sie keine sicherheitsrelevanten Themen erforscht und als eine von ganz wenigen Professoren offen gegen das Regime eingetreten ist.

Erfani steckt fest, von der Wissenschaft kommt wenig Hilfe

Das bekommt Erfani zu spüren. Sie ist müde davon, mit vierzig zu leben wie eine Studentin, aber ohne die Energie, die sie damals hatte. Traurig, weil sie ihre Familie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hat. Ihr fehlt das Geld, um ihre Eltern nach Europa einzuladen. Abgesehen davon, dass sie wohl kein Ausreisevisum bekämen.

«Ich zahle einen hohen Preis für das, was ich getan habe», sagt sie. Aber bereuen tut sie ihre Entscheidung nicht. «Nein, nie. Solche Entscheidungen trifft man nicht spontan. Ich wusste schon vorher tief in mir, dass ich so nicht weiterarbeiten kann.»

In letzter Zeit lese sie viele Bücher über die Nazizeit und den Faschismus. Sie sagt: «In Italien mussten sich alle Dozenten der Universität mit Unterschrift zum Faschismus bekennen. Weisst du, wie viele sich geweigert haben? Nur 12 von 1200.»

Es wirkt nicht so, als erzähle das Erfani, um ihre Entscheidung zu verherrlichen. Es spricht eher Staunen aus ihr, darüber, wie selten es ist, dass Menschen für ihre Prinzipien einstehen.

Sie macht sich Sorgen um eine Welt, in der Wissenschaft unfreier wird und immer weniger über Ländergrenzen hinweg zusammenarbeitet. Sie versucht, prominente Unterstützer für das Anliegen zu gewinnen, dass man es geflohenen Wissenschaftern wie ihr leichter macht, in einem sicheren Land Arbeit zu finden. Doch vielen sei das «zu politisch». Das verbittert Erfani: «Das ist kein Thema abseits der Wissenschaft. Wie würde die Physik aussehen, wenn Einstein nicht unterstützt worden wäre?»

«Keine unmenschliche Ideologie überlebt. Schau dir die Nazis an»

Christian Hülshörster arbeitet im Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Er relativiert Erfanis Darstellung etwas, wonach Programme für geflohene und vertriebene Akademiker fehlten. In Deutschland und anderen EU-Ländern gebe es ziemlich viele davon, sie seien aber oft wenig bekannt. Und immer wieder werden sie durch zu langsame Bürokratie untergraben.

Genau damit kämpft Erfani gerade. Ein führendes Forschungsinstitut in Kanada würde sie mit einem Stipendium als Forscherin anstellen. Doch seit Monaten wartet sie auf Rückmeldungen zu ihrem Talentevisum. Offenbar hängt es fest, weil ein Besuchervisum, das sie vor einem Jahr für eine Konferenz beantragt hat, noch nicht bearbeitet wurde. Ironischerweise hätte sie bei der Konferenz über «Wissenschaft in Zeiten des Konflikts» sprechen sollen.

Wenn der Entscheid nicht bis Dezember fällt, verliert sie das Anrecht auf das Stipendium. Erfani hat alles richtig gemacht und ist doch, wie in einer Geschichte von Kafka, einer unerbittlichen und sinnlosen Bürokratie ausgesetzt. Sie ist frustriert und entmutigt.

Jeden Tag hofft sie, dass das Regime morgen fällt. Die Hoffnung kommt aus historischen Büchern: «Keine unmenschliche Ideologie überlebt. Schau dir die Nazis an. Sie wollten die ganze Welt besetzen. Jetzt glaubt kaum jemand mehr daran.»

Und sie fügt an: «Es sind die Menschen, die am falschen Ort zur falschen Zeit leben, die leiden.» Sie weiss, dass manche ihr ganzes Leben lang nicht mehr aus dem Exil in ihre Heimat zurückkehren.

An den Eingängen der Universitäten in Iran stehen jetzt KI-Kameras, die erkennen, wer den Hijab nicht trägt.

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