Mittwoch, Januar 15

In den Bündner Bergen mutierte er vom Maler der Kokotten zum Bauernmaler. Dennoch wurde sein expressionistischer Stil in der Schweiz kritisiert. Als Reaktion gründete Kirchner mit ein paar Künstlerfreunden im Tessin die Gruppe «Rot-Blau». Zu deren Hundert-Jahr-Jubiläum zeigt das MASI in Lugano bedeutende Werke der Künstlergruppe.

Vor ziemlich genau hundert Jahren konnte man in der NZZ eine deftige Polemik gegen den expressionistischen Künstler Ernst Ludwig Kirchner lesen. Anlass war eine Ausstellung in der Basler Kunsthalle. Der Kunstkritiker der NZZ fand, Kirchner habe «viel Unheil» unter den jungen Basler Malern angerichtet. «Nach Scherer ist ihm nun auch Werner Neuhaus verfallen . . . Alle diese Kirchner-Epigonen mögen bedenken, dass Kirchner kein ursprünglicher Künstler ist und darum kein Ausgangspunkt für eine fruchtbare Entwicklung sein kann . . .»

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Ernst Ludwig Kirchner sah sich nicht zum ersten Mal im Fegefeuer der Kritik. Dennoch erstaunen die Zeilen in der NZZ zu Kirchners Einfluss auf ein paar Basler Kunstschaffende, die an der traditionellen Kunsthallen-Ausstellung zum Jahresende ausstellten. Kirchner hatte selber nicht einmal daran teilgenommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich aber immerhin bereits einen festen Platz unter renommierten Kunstsammlern erobert. Er war der Protagonist des deutschen Expressionismus schlechthin, Gründungsmitglied der Künstlergruppe «Brücke» und bekannt für seine dynamischen, vibrierenden Grossstadtbilder. Was also war geschehen?

Neuanfang in der Schweiz

Im Jahr 1917 zog sich Kirchner, traumatisiert vom Kriegsgeschehen und gezeichnet von schwerer Krankheit, von Berlin zu einem Kuraufenthalt nach Davos zurück. Allerdings bezog er nicht eines der mondänen Luxussanatorien, die zu dieser Zeit aus dem Boden schossen, sondern die oberhalb von Davos gelegene Stafelalp. Es sollte wohl so etwas wie eine Rosskur werden.

Abseits von Ablenkungen und Ausschweifungen wollte sich Kirchner von Alkohol und Morphium lösen. «Gesunden oder Sterben» war seine Devise. In der Höhenluft und der Abgeschiedenheit stabilisierte sich sein Zustand, und ab 1920 widmete er sich wieder intensiver der Malerei.

Der Bruch allerdings war hinsichtlich seiner bisherigen Motive radikal. Der einstige Maler der Kokotten und Galane mutierte in den Schweizer Bergen zum Landschafts- und Bauernmaler. Seine Farbpalette behielt er bei, sie wurde jetzt sogar noch intensiver, noch leuchtender, noch bunter!

Ein frühes Gemälde aus dieser Zeit ist das Bild «Bauernmittag»: Mit holzschnittartig gezeichneten Gesichtern sitzen drei bärtige Männer und eine ältere Frau gemeinsam am Tisch und löffeln ihre Suppe aus irdenem Geschirr. Über der Szene liegt ein warmes Leuchten. Trotz der lebhaften Farbigkeit haftet dem Bild etwas Gefestigtes, Unaufgeregtes an.

Kirchner wollte den Augenblick, die Stimmung, den psychologischen Kern eines Moments zum Ausdruck bringen. Angesichts der grandiosen Natur taucht der Maler die Alpenlandschaft in ein glühendes Feuerwerk von Farben. So auch im Bild «Davos im Winter», in dem der Weltkurort im Tal zu einer Siedlung schrumpft, umfangen von den hoch in den Himmel ragenden Gebirgsketten.

Im Rahmen einer Gruppenausstellung in der Basler Kunsthalle tritt Kirchner 1923 erstmals mit seinen Werken an die Schweizer Öffentlichkeit. Das Urteil der Kritiker fällt verhalten wohlwollend aus. Geradezu stürmisch begeistert zeigen sich aber drei junge Basler Künstler: Hermann Scherer, Albert Müller und Paul Camenisch. Tief beeindruckt von der so ganz und gar neuen Malweise, die sie dort in Basel zu sehen bekommen, nehmen die Künstler Kontakt zu Kirchner auf und besuchen ihn in Graubünden. Bald gesellt sich auch Werner Neuhaus dazu.

Kirchner, durchaus geschmeichelt von der Begeisterung seiner Anhänger, schart die jungen Künstler um sich, unterstützt sie in ihren Arbeiten und gibt Rat. Eine Einzelausstellung Kirchners 1924 in Winterthur entwickelt sich dann jedoch zum Debakel. Gelbe Kühe, rote Tannen, grüner Mond – Kirchner stellt mit seinen explosiv wirkenden Bildern die Kunstwelt auf den Kopf. Die Ausstellung erntet in der Öffentlichkeit nur Spott und Hohn. In der Kunstszene herrscht allgemeine Krisenstimmung.

Rückzug ins Tessin

In ihrer Bedrängnis schliessen sich die jungen Basler Künstler, die sich dem Werk Kirchners verschrieben haben, zusammen. In der Silvesternacht 1924/25 gründen sie im Tessin – Müller hatte dort seinen Wohnsitz – die Gruppe «Rot-Blau». Man will Flagge zeigen gegen die ältere, etablierte Künstlergeneration in Basel. Als Gruppe erhofft man sich einen erleichterten Zugang zu Ausstellungs- und Verkaufsmöglichkeiten sowie bedeutenden Aufträgen.

Lange kann sich die Gruppe nicht behaupten: Nach dem frühen, krankheitsbedingten Tod von Hermann Scherer und Albert Müller wird die Gruppe bereits 1927 wieder aufgelöst. Der Expressionismus aber hat begonnen, in der Schweiz Fuss zu fassen. Rechtzeitig zum Hundert-Jahr-Jubiläum der Künstlergruppe ist jetzt eine Schau zu diesem Kapitel Kunstgeschichte im MASI in Lugano zu sehen.

Zusammengestellt wurde eine Auswahl von zehn grossen bis mittelgrossen Gemälden Kirchners aus der Zeitspanne von 1918 bis 1926. Diesen Gemälden werden zehn Arbeiten von Kirchners Malerfreunden – den Mitgliedern der Gruppe «Rot-Blau» – gegenübergestellt.

Kirchners «Bauernmittag» ist ebenso dabei wie «Davos im Winter». Aber auch das ausdrucksstarke Doppelbildnis mit dem Titel «Vor Sonnenaufgang» (1925/26). Der Maler zeigt sich hier mit seiner Lebensgefährtin Erna Schilling auf der Veranda ihrer Unterkunft stehend, versonnen das Naturspektakel, den Aufgang der Sonne, beobachtend.

Gespannt fragt man sich, wie weit nun Kirchners Einfluss sich tatsächlich in den Werken der Gruppe «Rot-Blau» spiegelt. Vornehmlich das Ölbild «Ruhende Frau» (1925) von Albert Müller, das Sitzporträt «Der Malerfreund Albert Müller» (1925) von Werner Neuhaus, aber auch das Werk «Selbstbildnis in Tessiner Landschaft» (1926) von Hermann Scherer sowie «Der Bummler» (1925) von Max Sulzbacher zeigen sich als durchaus eigenständige Lösungen. In der intensiven, subjektiv gewählten Farbigkeit, in den Brechungen der Perspektive und in der holzschnittartigen Formensprache klingt das Vokabular Kirchners aber eindeutig an.

Dennoch ist jedes dieser genannten Werke für sich überzeugend und von eigener Individualität. Kirchner, der bekanntlich oft und gerne zu dem Pseudonym Louis de Marsalle griff, um in Kunstzeitschriften und Feuilletons unerkannt seine eigene Kunst zu feiern und zu würdigen, sah sich denn auch in der Pflicht, sich und seine von der Kritik angefeindeten Malerfreunde zu verteidigen. Diesmal aber unter eigenem Namen.

Am 2. Dezember 1926 findet man Ernst Ludwig Kirchner mit folgenden Worten in der NZZ zitiert: «Man frage nur irgend einen der Jungen, ob ich nicht stets die eigene Individualität des Einzelnen als erstes Erfordernis für das Schaffen betone. Für uns ist die Natur und das eigene Erlebnis der Lehrmeister, nicht Kunstwerke, sie mögen sein, vom [sic] wem sie wollen.»

Nach Auflösung der Gruppe wird sich Kirchner auf seine eigene Kunst konzentrieren. Aus seiner Depression wird er nie wieder ganz herausfinden. Als in Deutschland die Nationalsozialisten auf den Plan treten, beschlagnahmen sie auch das Gemälde «Bauernmittag»; es wird zur Ikone der sogenannten entarteten Kunst. Verfemt und von Krankheit geplagt, begeht Ernst Ludwig Kirchner 1938 in Davos Suizid.

«Ernst Ludwig Kirchner und die Künstler der Gruppe Rot-Blau», MASI (Standort LAC), Lugano, bis 23. März. Katalog (Italienisch/Deutsch) mit Textbeiträgen von Cristina Sonderegger und Francesca Rosi. Fr. 19.–.

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