Mittwoch, Januar 15

Chirurgen können Genitalverstümmelungen teilweise rückgängig machen. Doch die meisten hiesigen Ärzte sind auf die Behandlung von Frauen, die an den Folgen des Eingriffs leiden, nicht vorbereitet.

Fünf Geburten hat Omayma El Tahir hinter sich. «Fünf!» Sie lacht. Sie hatte Glück, die Kinder kamen in der Schweiz zur Welt. Ausnahmslos alle holten die Ärzte per Kaiserschnitt. Wie es ohne diese medizinische Massnahme hätte gehen sollen mit der Geburt, ist schwer vorstellbar. Denn El Tahir kommt aus dem Sudan und ist – wie 88 Prozent aller Frauen dort – beschnitten.

Das Wort «beschnitten» ist allerdings ein Euphemismus, er erinnert an die männliche Beschneidung, bei der die Vorhaut des Penis entfernt wird. Korrekt heisst das, was man in vielen Ländern Afrikas, des Nahen Ostens und auch Asiens Mädchen und Frauen antut, weibliche Genitalverstümmelung oder englisch: Female Genital Mutilation (FGM). 230 Millionen Frauen und Mädchen weltweit sind betroffen. Und die Schwere dieser Verstümmelung ist nicht vergleichbar mit den im Regelfall sehr leichten Einschränkungen, die einer männlichen Beschneidung folgen können.

In vielen Ländern der Subsahara wie Somalia und dem Sudan, aber auch Ägypten und asiatischen Ländern wie Indonesien schneiden spezielle Beschneiderinnen Mädchen im Alter von etwa vier bis vierzehn – manchmal auch schon Babys – mit einer rostigen Rasierklinge oder einem anderen nicht desinfizierten Gerät die Klitoris weg. Häufig zusätzlich auch die inneren und äusseren Labien. Es gibt mehrere Schweregrade: Beim Typ 3, der schwersten Form, näht man den Frauen zusätzlich die Vagina zu und lässt nur ein winziges Loch, so dass Urin und Menstruationsblut lediglich tröpfchenweise abfliessen können.

Häufig fehlt das sexuelle Empfinden

Die Folgen für die Gesundheit und die Psyche können verheerend sein: chronische Schmerzen, Schwierigkeiten beim Urinieren und Menstruieren, Zysten, häufige Infektionen, Unfruchtbarkeit und komplikationsreiche Geburten. Weil keine Klitoris mehr da ist, fehlt häufig das sexuelle Empfinden, aufgrund der Verengung und Narbenbildung bleibt für viele Betroffene Sex lebenslang eine Qual.

Im Sudan, wo Omayma El Tahir herkommt, praktiziert man die rigideste Form, die «pharaonisch» genannt wird, weil sie aus dem alten Ägypten kommen soll. Tatsächlich wurde die weibliche Beschneidung dort schon in antiken Schriften erwähnt. El Tahir, die 2003 in die Schweiz gekommen ist, hilft heute anderen Frauen und macht als interkulturelle Vermittlerin Aufklärungsarbeit für das Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz.

In die Schweiz und nach Deutschland kam die Praxis mit der Migration, meist aus den Ländern Eritrea, Somalia, Sudan, Ägypten, Mali oder Indonesien. Weil sie international als schwere Menschenrechtsverletzung gilt, ist sie in Deutschland und der Schweiz verboten. «Ich begrüsse das Verbot sehr. Viele Familien, denen ich das sage, sehen wirklich nur deshalb von einer Beschneidung ab», sagt El Tahir.

Über ihre eigene Beschneidung möchte El Tahir nicht sprechen, zu scham- und schmerzbehaftet ist die Erinnerung. Auch bei ihrer Arbeit als interkulturelle Vermittlerin erlebt sie das Thema Genitalverstümmelung als hoch tabuisiert: «Ich spreche immer zunächst allgemein über Gesundheitsthemen, um dann langsam zur Verstümmelung überzuleiten. Es ist heikel.»

In den Religionen keine Vorgabe

Die Gründe für die Verstümmelung seien unterschiedliche Mythen. Häufig gelte sie als religiöse Pflicht – was aber nicht stimmt. Weder im Islam noch im Juden- oder Christentum gibt es entsprechende Gebote. Ein Grossteil der beschnittenen Frauen ist jedoch muslimisch.

Andere Gründe bieten Mythen rund um Reinheit, Schönheit und Jungfräulichkeit, zudem gelte die Verstümmelung als Initiationsritus – auch für Männer. «In manchen Regionen gehört es als wichtiger Teil einer Hochzeitsnacht dazu, dass der Mann mit einem Kuhhorn oder seinem Penis die Narbe aufstossen muss. Manchmal dauert das Tage, weil es so schmerzhaft ist», sagt Jasmine Abdulcadir. Müsse ein Arzt zur Öffnung hinzugezogen werden, werde das als Schande empfunden.

Jasmine Abdulcadir ist eine Koryphäe in der Schweiz. Die Gynäkologin am Universitätsspital Genf gilt als die Fachexpertin für weibliche Genitalverstümmelung. Sie ist die Tochter eines Somaliers und einer Italienerin, beide Gynäkologen. Sie waren die Ersten, die in Italien ein medizinisches Zentrum für die Behandlung der Folgen von Genitalverstümmelung betrieben. Abdulcadir hat nicht nur in Frankreich eine Spezialausbildung in chirurgischer Rekonstruktion absolviert und in Spezialkliniken gearbeitet, sondern versteht auch viele kulturelle Hintergründe.

Bei den Gründen für die Praxis ist sie klar und deutlich: «Natürlich ist der häufigste Grund für die Verstümmelung der Glaube, das reduziere Hypersexualität und verhindere Untreue.» Eine beschnittene Frau gelte in den entsprechenden Regionen als treu, rein und ruhig. Die Frauen könnten dort ihren Lebensunterhalt nur bestreiten, indem sie heirateten. Einen guten Mann mit hohem Status fänden sie aber nur mit beschnittenen Genitalien. Verstümmelte Frauen besitzen deshalb häufig einen höheren sozialen und ökonomischen Status als nichtbeschnittene Frauen.

Die Genitalverstümmelung ist also tief in einigen Gesellschaften verankert. Das verkompliziert die medizinische Behandlung auch in Europa. «Die Komplikationen hängen vom Typ der Beschneidung ab und können sowohl körperlicher als auch sexueller oder psychischer Natur sein», sagt Abdulcadir. Häufig müssten der Partner einbezogen und Volksglaube dekonstruiert werden, wie zum Beispiel der, dass die Klitoris zu enormer Länge wachse, wenn man sie nicht abschneide. «Man kann nicht einfach nur Genitalien behandeln.»

Manche Frauen wollen wieder zugenäht werden

Es gelte, die Sprachlosigkeit aufgrund der Tabuisierung zu überwinden. Sie erzählt ein Beispiel: Frauen, deren Genital ganz zusammengenäht worden sei, verweigerten teilweise trotz grossen Beschwerden eine Öffnung – oder verlangten, nach einer Geburt erneut zugenäht zu werden.

Was für westliche Frauen seltsam klingen mag, ist für Abdulcadir nachvollziehbar: «Die operative Öffnung des Genitals dauert nur zehn Minuten, doch physisch, sexuell, kulturell ändert sie alles. Jemand hat sein ganzes Leben mit einer bestimmten Art zu menstruieren und zu urinieren gelebt und mit einem Aussehen der Genitalien, das kulturell als schön empfunden wird. Deshalb muss man die Veränderung erklären und begleiten. Es braucht Zeit.»

Mit einem kräftigen Strahl zu urinieren, beispielsweise, werde als schamhaft, unfeminin und ungehörig empfunden. Abdulcadir nimmt sich Zeit und bezieht teilweise den Partner ein, um klar über die gesundheitlichen Folgen zu informieren und eventuelle Befürchtungen anzusprechen, damit sich Frauen für das entscheiden, was für ihre Gesundheit am besten ist und die Genitalien offen lassen. «Der Dialog funktioniert, wenn er respektvoll und kulturell informiert geführt wird.»

Eine erneute Verschliessung der Genitalien würde internationalen Richtlinien widersprechen, sagt Abdulcadir. «Wenn eine Frau aber nur bis zur Harnröhre geöffnet bleiben will, respektieren wir diese Entscheidung. Die Klitoris legen wir nur frei, wenn sie damit einverstanden ist.»

Die Chirurgie ermöglicht wieder Lust

Manche Frauen litten ausserdem wegen der Verstümmelung in ihrer Kindheit unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, sie benötigten also zusätzlich zur medizinischen Behandlung auch eine spezialisierte Psychotherapie. Ein anderes Thema seien die sexuellen Störungen, die auftreten könnten. Bei manchen Frauen sei die Einführung des Penis gar nicht richtig möglich und bedeute nichts als Schmerz, was sowohl für den Mann als auch für die Frau eine erfüllte Sexualität erschwere und Konflikte erzeugen könne.

Spezielle Techniken der rekonstruktiven Chirurgie ermöglichen es vielen Frauen jedoch, sogar wieder Lust zu empfinden. Denn die Klitoris ist deutlich grösser als der von aussen sichtbare Teil und ragt weit tiefer in den Körper hinein. Eine geübte Chirurgin kann einen Teil der Klitoris wieder freilegen, so dass er stimulierbar wird.

Die Behandlung jener Frauen, die an Komplikationen der Genitalverstümmelung leiden, ist also komplex – dennoch wurde das Thema bis anhin nicht in den Lehrplan für Mediziner aufgenommen. Eine qualifizierte Behandlung bekommen die Frauen in Deutschland zum Beispiel im Wüstenblumen-Zentrum nahe Berlin, das nach dem Roman der Somalierin Waris Dirie benannt ist. In der Schweiz ist die Spezialabteilung des Universitätsspitals Genf die wichtigste medizinische Anlaufstelle.

Manche Ärzte erkennen Verstümmelung nicht einmal

Nicht spezialisierte Gynäkologen wissen oft wenig über das Thema, das macht es für die Frauen sehr schwierig, einen geeigneten Arzt zu finden. Zudem brauche es mehr Forschung über operative und nichtoperative Heilungsmethoden, damit man Frauen und Mädchen eine Behandlung anbieten könne, die auf gesicherten Fakten baue, sagt Abdulcadir.

Doch sie will das ändern – und betreibt als eine der wenigen Fachpersonen in Europa wissenschaftliche Forschung. Einige ihrer Forschungsergebnisse sind besonders traurig: «Wir haben systematisch untersucht, wie Ärzte und Ärztinnen Genitalverstümmelung in der Schweiz dokumentieren und behandeln. Das Ergebnis: Nicht selten erkennen sie die Verstümmelung nicht einmal.» Gerade bei den leichteren Schweregraden wie dem Typ 1 sei die Verletzung nicht immer auf den ersten Blick zu sehen.

Auch Omayma El Tahir hat das so erlebt. Sie hat lange nach einer Gynäkologin gesucht, die ihr helfen kann. Doch sie ist glücklich darüber, dass ihre Töchter nicht mehr unter den gleichen Schwierigkeiten zu leiden haben wie sie: «Selbstverständlich ist keine beschnitten.»

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