Sonntag, September 8

Die Interpretationen der jüngsten Zahlen liegen Welten auseinander.

Der Druck auf die Stadt Zürich ist gross: In den letzten Jahren liessen sich im Schnitt fast 5000 Menschen jährlich zusätzlich hier nieder – und alle brauchen eine Wohnung. Wenig überraschend steht das Thema auf dem Sorgenbarometer der Bevölkerungsbefragung von 2023 ganz an der Spitze.

Insofern hört es sich nach einer guten Nachricht an, was Statistik Stadt Zürich am Dienstag bekanntgegeben hat: Mehr als 3400 neue Wohnungen sind im vergangenen Jahr auf den Markt gekommen. Etwa ein Zehntel davon geht auf Umbauten zurück, der Rest auf Neubauten.

Das ist der zweithöchste Wert in diesem Jahrhundert und der achthöchste seit Beginn der Statistik anno 1911. Übertroffen wurde er nur 2018 sowie in den 1930er und 1950er Jahren.

Anders als damals, als Zürich sich noch auf der grünen Wiese ausdehnen konnte, sind zurzeit auch die Abbruchzahlen relativ hoch. Dies reduziert den Saldo der zusätzlich verfügbaren Wohnungen für 2023 auf knapp 2400 Stück. Aber auch das ist in der langjährigen Betrachtung noch immer ein Spitzenwert. Für jede Wohnung, die verschwand, kamen mehr als drei auf den Markt.

Weil auch viel abgerissen wird, schwankt der jährliche Zugewinn

Die Länge des Pfeils markiert den Zugewinn: die Differenz zwischen neuen und abgebrochenen Wohnungen

Walter Angst vom Zürcher Mieterverband wertet dies in erster Linie als eine gute Nachricht für Investoren: «Zürich boomt wie nie. Die Statistik widerspricht der These, dass der Wohnungsbau in der Stadt wegen der mühsamen Bewilligungspraxis am Zusammenbrechen ist.» Wenn es zuletzt eine Delle gab, so lag dies laut Angst am Anstieg der Zinsen.

Diese Auslegung ist als Kritik direkt auf die bürgerlichen Parteien gemünzt. FDP-Gemeinderat Hans Dellenbach will Angst nicht widersprechen, von einem Zusammenbruch sei nie die Rede gewesen. Die vielen neuen Wohnungen seien «good news», sagt er. Wenn es in diesem Tempo weitergehe, erreiche Zürich das Ziel, bis 2050 Platz für 100 000 zusätzliche Bewohner zu schaffen.

Zugleich sei es aber eine Tatsache, dass sich die durchschnittliche Dauer bis zur Baubewilligung in Zürich seit 2010 mehr als verdoppelt habe. Das zeigt eine Studie der ZKB. «Das dauert unbestritten zu lange, wir könnten die neuen Wohnungen deutlich schneller haben», findet Dellenbach.

Er höre immer wieder von Bauherren, die entnervt aufgäben, besonders bei Arealüberbauungen, bei denen die Politik sich einschaltet. «Zum Glück gibt es noch private Investoren, die sich davon nicht abschrecken lassen», sagt er mit Blick auf die Statistik.

Private Unternehmen bauen am meisten neue Wohnungen

Anteil der verschiedenen Eigentumsformen an den jährlich erstellten Wohnungen, in Prozent

Tatsächlich gingen laut der Statistik 2023 mehr als die Hälfte der neuen Wohnungen aufs Konto von privaten Gesellschaften. Die öffentliche Hand und die Wohnbaugenossenschaften kamen dagegen nur auf einen Anteil von 24 Prozent. Das ist deutlich weniger, als nötig wäre, um das sogenannte Drittelsziel zu erreichen.

2011 hatten die Zürcher Stimmberechtigten den wohnbaupolitischen Grundsatz in die Gemeindeordnung geschrieben, dass bis 2050 ein Drittel aller Mietwohnungen gemeinnützig sein müsse. Der Anteil der öffentlichen Hand und der Genossenschaften am Gesamtbestand der Wohnungen stagniert in der Stadt Zürich seit zehn Jahren auf 25 Prozent. Jener von privaten Gesellschaften, Pensionskassen und Anlagestiftungen hingegen nimmt zu.

Private Unternehmen gewinnen an Bedeutung

Anteil der verschiedenen Eigentumsformen am gesamten Wohnungsbestand, in Prozent

öffentliche Hand und Religionsgemeinschaften

Private Gesellschaften und Vereine

Pensionskassen und Anlagestiftungen

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Volksentscheid 2011: ein Drittel aller Mietwohnungen soll gemeinnützig sein

Die städtische SP bezeichnet diese Entwicklung in einer Medienmitteilung als «Katastrophe» für die Zürcher Bevölkerung. Die Immobilienkonzerne seien auf dem Vormarsch, und ihr Standardprozedere sei: Leerkündigung, Luxussanierung, Neuvermietung zum doppelten Preis.

Hans Dellenbach geht das nicht in den Kopf: «Wie kann man eine Rekordzahl an neuen Wohnungen als Katastrophe bezeichnen?» Zumal die öffentliche Hand und die Genossenschaften im vergangenen Jahr mit mehr als 700 Wohnungen zum positiven Ergebnis beigetragen hätten.

Seine Schlussfolgerung ist denn auch eine ganz andere als jene der SP. Diese verlangt von der Stadt, noch mehr Geld als bis anhin in die Hand zu nehmen, um eine Trendwende zu erzwingen. Nachdem sie letztes Jahr 300 Millionen Franken für den Immobilienkauf ausgab, sind dieses Jahr 500 Millionen dafür budgetiert.

Dellenbach verweist aufs Koch-Areal: Dort zeige sich, dass die Stadt als Bauherrin vergleichsweise langsam sei: «Wenn private Gesellschaften mehr und schneller bauen, darf es sicher nicht sein, dass die Stadt noch mehr Land kauft; denn damit verlangsamt man Wohnbau.»

Auch Walter Angst vom Mieterverband, als langjähriger AL-Gemeinderat nicht immer eins mit der SP, kritisiert deren Einschätzung: «Selbst wenn die Stadt den Zukauf erhöht, kann sie das Drittelsziel während eines solchen Booms nicht erreichen.» Um die Lücke zu schliessen, müsste sie Stand heute mehr als 10 000 Wohnungen von Privaten erwerben. Das könne sich auch das reiche Zürich nicht leisten.

Entscheidend ist für Angst, dass die gemeinnützigen Anbieter nicht ins Hintertreffen geraten, dafür sei das Drittelsziel wichtig gewesen. Man dürfe zudem dessen ursprünglichen Zweck nicht aus den Augen verlieren, wenn zurzeit gebaut werde wie selten zuvor: genügend Wohnraum für Menschen mit beschränkten Mitteln.

Dazu müssten Genossenschaften bei ihren Ersatzneubauten einen erheblichen Anteil an subventionierten Wohnungen für genau diese Zielgruppe zulassen. Es gebe zwar solche wie die ABZ, die dies mithilfe zinsloser Darlehen täten, die Norm sei das aber keineswegs – und daran ändere auch das Drittelsziel nichts.

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