Mittwoch, Januar 15

Meditation ist neuerdings auch eine Forschungsmethode. Wie Neurophilosophen und Kognitionswissenschafter die kontemplative Praxis nutzen,
um das menschliche Bewusstsein besser zu verstehen.

«So rein wie weisser, frisch gefallener Schnee», so beschreibt einer der Berichte das Phänomen. Mit einem «Raum der zeitlosen Stille» vergleicht es ein anderer. «Ich war sehr präsent, aber nicht anwesend», heisst es in einem dritten Bericht.

Allesamt sprechen sie von einer besonderen Erfahrung – dem puren, fast inhaltslosen Bewusstsein in der tiefen meditativen Versenkung, einer Art Kernzustand des menschlichen Geistes. Was sich anhören mag wie blumige Meditationslyrik, dient in Tat und Wahrheit einem wissenschaftlichen Zweck: Solche Schilderungen könnten helfen, die neurobiologischen Bedingungen für das Entstehen des bewussten Erlebens besser zu verstehen.

So zumindest sieht es Thomas Metzinger, bis 2022 Professor für theoretische Philosophie an der Universität Mainz und international seit langem einer der bekanntesten Bewusstseinsforscher. Metzinger will die Philosophie des Geistes mit Ansätzen der kognitiven Neurowissenschaft verbinden. Er selbst meditiert seit fast fünf Jahrzehnten. Nun hat Metzinger in seinem neuen Buch «Der Elefant und die Blinden» mehr als 500 Meditationserfahrungen aus 57 Ländern zusammengetragen – um quasi der Essenz des Bewusstseins quer durch die Kulturen auf die Spur zu kommen.

«Meditationserfahrungen sind eine bedeutende empirische Quelle bei der Frage nach dem bewussten Erleben», kommentiert Metzinger. «Das hat nichts mit Esoterik oder Spinnerei zu tun.» Vielmehr gehe es darum, unmittelbar erlebbare Bewusstseinszustände – die etwa in den kontemplativen Praktiken des Buddhismus seit Jahrtausenden bekannt und längst auch hierzulande vielen Menschen vertraut sind – als systematisches Mittel zur Erkundung des Geistes zu nutzen. «Meditation ist auch ein Forschungsinstrument», stellt Metzinger klar.

Im Kern lautet seine Hypothese: In der tiefen Kontemplation kann sich ganz natürlicherweise ein praktisch entleertes, reines Bewusstsein einstellen, eine «Minimal Phenomenal Experience», wie das der Philosoph Metzinger umschreibt. Dabei verschwinden Gedanken, Gefühle und Sinneseindrücke ebenso wie die Erfahrung von Zeit und Raum. Mitunter erlebt sich der Meditierende nicht einmal mehr als erkennendes, subjektives Selbst.

«Das Gehirn ist hellwach, aber ein konkreter Inhalt fehlt», erklärt Thomas Metzinger. Eben hierin sieht er einen geistigen Grundzustand – der wissenschaftlich untersucht werden könne. Dies sei in etwa so, wie wenn ein Physiker sich bei einem Kinofilm nicht für den Film, sondern für den Lichtstrahl und die Funktionsweise des Projektors interessiere.

Bereits vorletztes Jahr hat Metzinger zusammen mit dem Zürcher Neuropsychiater Alex Gamma eine erste Online-Studie unter Meditierenden weltweit im Fachblatt «Plos One» veröffentlicht. Darin versuchten die beiden Forscher, das mutmassliche minimale Bewusstsein möglichst detailliert mit einem umfangreichen Fragebogen zu erfassen. Viele der bemerkenswerten Antworten finden sich nun in Metzingers Buch.

Von «luzider Leere» ist dabei die Rede, einem «Spiegel ohne wahrnehmenden Beobachter», «verpixeltem Sein» oder auch einer «Erfahrung, die gar keine ist». Obwohl die Berichte eigentümlich klängen, seien sie im Grunde wenig mysteriös, sagt Metzinger. Denn auch ganz ohne Meditation komme es in vielfältigen Alltagssituationen – in den Sekundenbruchteilen nach dem Aufwachen, in Tagträumen, beim Extremsport, beim Sex – zu Bewusstseinszuständen, in denen das Gehirn zwar äusserst wach und aufnahmebereit sei, das Gefühl für Raum und Zeit und das Erleben eines eigenen Ichs aber in den Hintergrund trete oder sogar ganz fehle.

«Wenn es einen solchen ursprünglichen Kernzustand des Bewusstseins als konstantes Phänomen wirklich gibt – und die weltweiten Meditationsberichte könnten in der Tat darauf hinweisen –, dann liessen sich zukünftig auch präzisere neurowissenschaftliche Modelle dafür entwickeln», meint Metzinger überzeugt.

Er selbst spekuliert, dass eine einfache reflexive Aufnahmebereitschaft des Gehirns, bei der ein denkendes Ich noch nicht im Spiel sei, keineswegs an die Aktivität der Grosshirnrinde gebunden sein müsse, sondern womöglich in tieferen Hirnstrukturen entstehe. Auch sei vorstellbar, dass viele Tiere und vielleicht sogar ungeborene Kinder solche simplen Bewusstseinsformen bereits erlebten.

Längst nicht alle Bewusstseinsforscher würden wohl so weit gehen und wie Thomas Metzinger in der meditativen Versenkung ein prototypisches Urbewusstsein vermuten. Doch dass Meditationserfahrungen zu einem ernstzunehmenden Gegenstand der kognitiven Neurowissenschaft avanciert sind, steht ausser Frage. Vieles ist mittlerweile über die neuronalen Mechanismen kontemplativer Prozesse bekannt – etwa aus Studien mit meditierenden Mönchen oder meditationserfahrenen Laien mittels der Magnetresonanztomografie (MRT).

Bereits vor Jahren hat beispielsweise die amerikanische Neurowissenschafterin Wendy Hasenkamp gezeigt, dass unterschiedliche Hirnregionen und Nervenzellnetzwerke aktiv sind, wenn sich Meditierende zunächst auf ihren Atem konzentrieren, dann ungewollt mit den Gedanken abzuschweifen beginnen, diese Ablenkung bemerken und ihren Fokus wieder auf das Atmen zurückverlagern.

Auch scheinen verschiedene Formen der Meditation durchaus mit unterschiedlichen neuronalen Aktivitätsmustern einherzugehen – je nachdem, ob es sich um eine konzentrative, eine Achtsamkeits- oder eine Mitgefühlsmeditation handelt. Das introspektive Erleben kann, quasi auf der Rückseite des Spiegels, jeweils mit spezifischen neurophysiologischen Vorgängen in Beziehung gesetzt werden.

Genau dieser erfahrungsorientierte Forschungsansatz lasse sich zum Beispiel auch auf die Hypnose oder die Effekte von Psychedelika anwenden, so hat ein internationales Team um den Lyoner Neuroforscher Antoine Lutz unlängst im Fachmagazin «Trends in Cognitive Sciences» argumentiert. Derlei nicht-alltägliche Bewusstseinszustände gingen über den scheinbar selbstverständlichen «Standardmodus des Erlebens» hinaus. Gerade deshalb «kann ihre wissenschaftliche Untersuchung neue Erkenntnisse über das menschliche Bewusstsein liefern», betonen die Forscher.

Bemerkenswert ist beispielsweise, dass sich ähnlich wie in der Meditation zum Teil auch in Hypnose und insbesondere beim Konsum psychedelischer Substanzen das Gefühl eines eigenen Selbst verflüchtigen kann. Die autobiografische Identität (das «narrative Selbst») und die gewohnte Ich-Perspektive verblassen – Fachleute sprechen auch von «Ego Dissolution», von der Auflösung des Ichs. Das Bewusstsein bleibt dabei gleichwohl erhalten.

Vermutlich, so kommentieren Lutz und Kollegen, hänge das «Selbst» eng mit einem ausgedehnten neuronalen Netzwerk zusammen (dem «Default Mode Network»). Vor allem Hirnrindenbereiche, die in der Mitte zwischen den Hirnhälften lägen (etwa Teile des sogenannten präfrontalen Kortex und des cingulären Kortex), könnten hierbei eine Hauptrolle spielen: Entkoppelten sich ihre Verbindungen, schwäche sich auch die Ich-Perspektive.

Diese Mechanismen des Selbstverlusts würden bei Meditation, Hypnose und Psychedelikagebrauch wahrscheinlich überlappen, so spekulieren die Neuroforscher. In anderer Hinsicht – etwa was die typischen psychedelischen Imaginationen betrifft – unterscheiden sich die Bewusstseinszustände jedoch erheblich. Genereller gesagt: Bewusstes Erleben ist ein mehrdimensionaler Prozess – und kein An-oder-aus-Phänomen.

Doch wenn es dermassen viele Gesichter hat, was ist Bewusstsein dann überhaupt? Gleich mehrere neurowissenschaftliche Theorien versuchen, es prinzipiell zu beschreiben – etwa als «integrierte Information» oder als globalen Arbeitsspeicher («Global Workspace») im Gehirn.

Wie die israelische Neuropsychologin Liad Mudrik mit ihren Kollegen allerdings in einer Analyse Hunderter Einzelstudien im vorletzten Jahr gezeigt hat, werden die widerstreitenden Theorien paradoxerweise allesamt durch experimentelle Belege gestützt. «Im Grunde ist nicht wirklich klar, worüber wir genau reden, wenn wir von Bewusstsein sprechen», räumt Metzinger ein. «Das Phänomen gleitet uns immer wieder rasch aus den Händen.»

Dem will der Neurophilosoph nun auch mit seinem Buch Rechnung tragen. Der Titel – «Der Elefant und die Blinden» – verweise auf eine alte indische Fabel, in der ein König eine Gruppe Blinder zu sich lade. Sie sollen das Wesen eines Elefanten durch Berührungen erschliessen, und je nachdem, ob sie etwa Haut, Rüssel oder Stosszähne betasten, berichten sie verschiedene Eindrücke.

Vergleichbares gelte für die Erfahrung – und Erforschung – des Bewusstseins, sagt Thomas Metzinger. Gleichwohl, so hofft er, lasse sich durch das meditative Erleben purer Wachheit und Klarheit etwas Grundlegendes vom menschlichen Geist erfassen. Es könnte eine Möglichkeit sein, sich dem Elefanten zu nähern.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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