Mittwoch, Oktober 30

Der Ukraine-Krieg hat neuen Technologien der Kriegführung einen ungeahnten Schub gegeben. Zugleich ruft er in Erinnerung, dass hypermodernes Kriegsgerät nicht alles ist, sondern auch die schiere Masse zählt. Der Westen wirkt verwundbarer denn je.

Vergangenheit und Zukunft prallen im russisch-ukrainischen Krieg auf paradoxe Weise aufeinander: Soldaten schlottern in morastigen Schützengräben, als hätte eine Zeitmaschine sie zurück in die Jahre des Ersten Weltkriegs geworfen. Artilleriegranaten prasseln jeden Tag entlang der Front herab – abgeschossen aus feuerspeienden Geschützen, die wie Ungeheuer aus einer vergangenen Zeit wirken.

Zugleich aber scheint eine Revolution in der Kriegführung im Gang zu sein. Soldaten sind selbst in den abgelegensten Regionen via Satellit mit dem Internet verbunden und verfolgen das Kampfgeschehen in Echtzeit auf Tablets. Mit ferngesteuerten Drohnen zerstören sie feindliche Panzer, ohne je aus der Deckung gehen zu müssen.

Diese verwirrende Gleichzeitigkeit von Alt und Neu wirft Fragen auf: Worauf kommt es an, um diesen Krieg zu gewinnen? Haben die alten militärischen Doktrinen noch Bestand, oder bringt der technologische Wandel frühere Gewissheiten ins Wanken? Und nicht zuletzt: Ist der Westen in der Lage, aus Europas erstem Grosskrieg des 21. Jahrhunderts die nötigen Lehren zu ziehen?

Der Krieg als Motor und Experimentierfeld

Die Lage in der Ukraine verändert sich so schnell, dass erst vorläufige Antworten möglich sind. Militärexperten gelangen zum Teil zu völlig gegensätzlichen Einschätzungen. So wandte sich der amerikanische Politologe Stephen Biddle kürzlich in der Fachzeitschrift «Foreign Affairs» vehement gegen die Vorstellung einer Revolution in der Kriegführung, während der Militärexperte Thomas Hammes, ein früherer Marine-Corps-Offizier, in der Ukraine bahnbrechende Neuerungen erkennt.

Die Geschichte macht klar, dass Kriege den Wandel beschleunigen und regelmässig als eine Art Laboratorium für neue Technologien dienen. So zeigte sich während des Amerikanischen Bürgerkriegs erstmals das Grauen einer «industriellen» Kriegführung. 1937 missbrauchte Hitler das Experimentierfeld des Spanischen Bürgerkriegs, um in Guernica das «Konzept» von Flächenbombardements zu testen. Und in jüngerer Zeit, im Karabach-Krieg von 2020, deutete sich erstmals an, wie Kamikaze-Drohnen zu einer kampfentscheidenden Waffe werden könnten.

Umso wichtiger ist es, die Entwicklungen in der Ukraine zu deuten – nicht nur für die Ukrainer selber, sondern im Interesse der westlichen Sicherheit generell. Sechs vorläufige Erkenntnisse stechen hervor:

Transparentes Gefechtsfeld: Zu praktisch jedem Zeitpunkt lassen Ukrainer und Russen Tausende von Aufklärungsdrohnen fliegen. Sie erhalten so einen Überblick über die Lage an der Front, wie dies in früheren Kriegen unvorstellbar war. Lücken bestehen weiterhin, etwa bei schlechtem Wetter, aber dank Infrarotkameras erfolgt die Überwachung zunehmend auch nachts. Überraschungsangriffe sind damit kaum noch möglich. «Heute kann eine vorrückende Panzerkolonne in drei bis fünf Minuten entdeckt und in weiteren drei Minuten beschossen werden», sagte der ukrainische General Wadim Skibizki gegenüber dem «Wall Street Journal».

Das liefert einen Teil der Erklärung, weshalb weder Ukrainer noch Russen im zweiten Kriegsjahr grössere Gebietsgewinne erzielen konnten. Zugleich erschüttert es die auch in der Nato geltende Lehre von Offensiven mit massierten Panzereinheiten. Hinzu kommt, dass westliche Armeen bei der Beschaffung von scharenweise einsetzbaren Aufklärungsdrohnen weit zurückliegen.

Beschleunigter Informationsfluss: Während des Krieges haben die Ukrainer das neue Führungs- und Informationssystem Delta aufgebaut. Diese digitale Plattform bündelt Lage-Informationen aus einer Fülle von Quellen und ermöglicht rasche Entscheidungen auf dem Gefechtsfeld. Hinzu kommt Software, die neu entdeckte feindliche Ziele sofort mittels Algorithmus der nächstgelegenen Artillerieeinheit zuweist – eine Art «Uber für das Militär». Ein weiterer Durchbruch ist die Nutzung von satellitengestützten Starlink-Internetverbindungen für die militärische Kommunikation bis hinab auf die Ebene der einfachen Soldaten.

In Kombination mit der fast lückenlosen Aufklärung durch Drohnen bewirken solche Innovationen einen tiefgreifenden Wandel. Dies wird auch von der Nato genau verfolgt: «Wir werden Zeuge von der Art, wie künftige Kriege ausgefochten und gewonnen werden», glaubt General Mark Milley, bis vor kurzem der höchste Offizier der USA.

Angriffe mit Billigdrohnen: Nicht nur zur Erkundung, sondern auch für Kampfeinsätze kommen unbemannte Fluggeräte nun massenhaft zum Einsatz. Auch hier fällt das Improvisationstalent der Ukrainer auf. Sie begannen früh, kommerzielle Drohnen so umzurüsten, dass sie Granaten abwerfen können oder beim Aufprall auf gegnerische Ziele explodieren. Bemerkenswert ist, dass unter dem Druck des Krieges eine Waffe «gefunden» wurde, die ein viel besseres Preis-Leistungs-Verhältnis aufweist als etwa die von den USA entwickelten Switchblade-Drohnen. Billig, dafür massenhaft produzierbar – so lautet ein Erfolgsrezept im Drohnenkrieg.

Russland hat längst nachgezogen und verfügt zudem über schlagkräftige Kamikaze-Drohnen für mittlere und grosse Reichweiten. Dagegen treten die zu Kriegsbeginn hochgejubelten türkischen Bayraktar-Drohnen kaum noch in Erscheinung; für die russische Flugabwehr sind sie ein allzu leichtes Ziel. Ein nicht mehr fernes Schreckensszenario sind Schwärme von Drohnen, die wie Moskitos über Soldaten und Kriegsgerät herfallen. Westliche Armeen hinken im Bereich der Kamikaze-Drohnen hinterher und sind vor allem unzureichend gewappnet gegen diese neue Form der Bedrohung.

Elektronische Kriegführung: Angesichts der Omnipräsenz von Drohnen erhält die elektronische Kriegführung höhere Bedeutung denn je. Wer mit Störsendern die Funkverbindung zu den Drohnen kappen kann, erlangt einen Vorteil. Der britische Think-Tank Rusi geht davon aus, dass die Ukraine monatlich 10 000 Drohnen verliert. Elektronische Abwehrmittel der Russen haben auch zur Folge, dass Präzisionswaffen wie Himars-Raketen oder gelenkte Bomben, die auf GPS-Signale angewiesen sind, immer öfter ihre Ziele verfehlen. Im Bereich der elektronischen Kriegführung ist ein Rüstungswettlauf im Gang, in dem jede Seite versucht, die andere mit neuen technischen Mitteln auszutricksen.

Panzer sind nicht obsolet: Die Bilder von reihenweise zerstörten Kampfpanzern wecken Zweifel an der Überlebensfähigkeit dieser Waffenart. Wenn ein mehrere Millionen Dollar teures Gerät durch eine tragbare Rakete oder gar eine Billigdrohne lahmgelegt werden kann, ist dies schon rein ökonomisch ein krasses Missverhältnis. Doch das muss noch nicht das Ende des Panzers bedeuten. Kampfpanzer vereinigen Feuerkraft, Mobilität und Schutz für die Besatzung in einer Weise, wie dies keine andere Waffe bietet. Russland setzt bei seinen Offensiven denn auch unverändert auf Panzer, und beide Seiten experimentieren mit neuen Schutzmitteln.

Quantität zählt: Unter Spardruck und im Vertrauen auf die Überlegenheit hochtechnisierter Waffensysteme haben die Nato-Staaten ihre Arsenale verkleinert. Munitionsvorräte wurden nicht auf einen längeren Krieg ausgerichtet. Nun zeigt sich in der Ukraine, wo bereits Millionen von Granaten verschossen wurden, dass auch schiere Masse zählt.

«Quantität ist Qualität eigener Art», so lautet die Erkenntnis von General Christian Freuding, dem Chef des Ukraine-Sonderstabs im deutschen Verteidigungsministerium. Selbst die modernsten Waffensysteme scheitern, wenn ihnen nach wenigen Wochen die Munition ausgeht oder deren Produktion unverhältnismässig teuer ist. Für den Militärbeauftragten im britischen Verteidigungsministerium, James Heappey, besteht eine zentrale Lehre darin, dass Armeen wegkommen müssen von perfekt entwickelten, aber leicht zerstörbaren Waffen; sie sollten stattdessen auf billigeres Kriegsmaterial setzen, dessen Überlegenheit in seiner Menge besteht.

Irrwege sind teuer

Die obigen Punkte zeigen, dass westliche Militärplaner den Wandel in mancher Hinsicht falsch einschätzten und nun die Prioritäten neu setzen müssen. Viele weitere Lehren aus dem Ukraine-Krieg wären zu nennen, etwa die Verletzlichkeit von Kriegsschiffen durch Langstrecken-Präzisionswaffen oder durch simple Marinedrohnen. Aber auch alte Wahrheiten bestätigen sich, darunter die Wichtigkeit einer guten Schulung des Militärpersonals. Das Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive im vergangenen Sommer hatte seinen Grund nicht zuletzt in der ungenügenden Schnellbleiche der mit Nato-Hilfe aufgebauten Truppen.

Bei der Umsetzung der Lehren zeigen sich angesichts knapper Kassen aber sofort Zielkonflikte, und überall lauert die Falle, Geld für vermeintlich zukunftsträchtige Entwicklungen zu verschwenden. Warnende Beispiele dafür gibt es zuhauf, etwa die von Grossbritannien in einem Milliardenprojekt beschafften Watchkeeper-Drohnen, deren Funktion – wie die Ukrainer nun zeigen – mit einem Bruchteil des Geldes erreichbar gewesen wäre.

Wie teuer Irrtümer sein können, zeigt sich auch in viel grundlegenderer Weise. Der Ukraine-Krieg wäre wohl verhinderbar gewesen, hätte der Westen gegenüber Russland auf glaubwürdige Abschreckung statt auf Appeasement gesetzt. Selbst nach der Invasion hätte sich noch die Chance geboten, mit entschlossener Militärhilfe an die Ukraine dem Kreml Grenzen aufzuzeigen. Stattdessen flossen die westlichen Waffen viel zu zögerlich. Nachdem die besten Chancen vertan sind, bleibt den Amerikanern und Europäern wenig übrig, als sich auf ein langes, kostspieliges Kräftemessen mit Russland einzustellen und ihre Armeen unter Zeitdruck zu modernisieren – mit Geld, das eigentlich überall fehlt.

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