Montag, November 25

1933 veröffentlichte Ernst Toller im Exil seine Autobiografie, die zugleich die Vorgeschichte des Nationalsozialismus schildert. Nun ist das noch heute bestürzend aktuelle Buch wieder neu aufgelegt worden.

Ernst Tollers grösster Fehler war, dass er Deutschland zu sehr liebte. Wäre Deutschland dem expressionistischen Dramatiker und kurzzeitigen Weimarer-Republik-Star egal gewesen, hätte er wahrscheinlich nicht schon als Kind beschlossen, kein Jude sein zu wollen. Im Ersten Weltkrieg hätte er dann auch nicht begeistert als deutscher Patriot gekämpft, sondern als desillusionierter Angehöriger einer ewig verfolgten Minderheit.

Nach dem Krieg hätte die Antwort eines solchen unangepasst jüdischen Ernst Toller auf den europäischen Chauvinismus und Judenhass seiner Zeit wahrscheinlich nicht bloss Pazifismus und Sozialismus, sondern, etwas eigennütziger, Zionismus geheissen. Und im besten Fall wäre dieser zionistische Toller natürlich einfach nach Palästina gegangen, wo er in einem Kibbuz anstelle von Hölderlin Scholem Alejchem gelesen und Theaterstücke geschrieben hätte, die so unpathetisch gewesen wären, dass sie auch im Jahr 2024 noch aufgeführt werden würden.

Vergeblicher Kampf

Aber anstatt an sich selbst und seine Herkunft zu denken, versuchte der heute beinahe vergessene Dichter und begnadete Redner lieber aufopferungsvoll die Deutschen von ihrer – von ihm selbst diagnostizierten – Untertanengesinnung zu befreien. Erst, indem er alles dafür tat, sie nach dem Ende des Krieges von der Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution zu überzeugen. Vergeblich. Später, indem er sie vor den Verführungen der Nationalsozialisten warnte. An diesem hoffnungslosen Projekt zerbrach Toller letztlich. Nachdem er seit 1933 auch aus dem Exil heraus mit Reden und Pamphleten weiter wie ein Besessener gegen Hitlers Ideologie angekämpft hatte, nahm er sich im Mai 1939 in New York das Leben.

Übriggeblieben ist von Ernst Toller heute vor allem seine Autobiografie, die «Eine Jugend in Deutschland» heisst und niemand anderem als «Dem Deutschland von Morgen» gewidmet ist. «Am Tag der Verbrennung meiner Bücher» heisst es unter dem Vorwort. 1933 erschien das Buch im deutschsprachigen Amsterdamer Exilverlag Querido, 1961 erstmals in der Bundesrepublik.

Seitdem wird die Lebensgeschichte des zarten, rastlosen Revolutionärs, die auch ein wichtiges historisches Dokument der Münchner Räterepublik von 1919 ist, ständig neu aufgelegt. Vor wenigen Tagen ist in der Anderen Bibliothek eine sehr schöne, von dem Historiker Ernst Piper edierte und erläuterte Neuausgabe erschienen.

Beim Lesen von Tollers literarischer Autobiografie wird einem schnell schwindlig. Die traktathafte Sprache und die mechanische Aneinanderreihung von Hauptsätzen sind teilweise herausfordernd. Und: Toller hat in seinem kurzen, symbolhaft für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts stehenden Leben so viel erlebt, dass es manchmal schwerfällt, die Orientierung zu behalten. Aber der Schwindel lohnt sich. Und als Stütze dienen Pipers Nachwort und die trockenen, schlagwortartigen Kapitelüberschriften: «Streik», «Militärgefängnis», «Irrenhaus», «Revolution» und so weiter.

1914 an die Front

Ernst Tollers Leben beginnt, klar, mit der «Kindheit». Als jüngster Sohn einer bürgerlichen Kaufmannsfamilie wird er 1893 im damals preussischen, heute polnischen Samotschin geboren. Dort wächst er, in einer nationalistisch aufgeladenen Atmosphäre, zwischen Juden, protestantischen Deutschen und katholischen Polen auf.

Wenn andere Kinder ihn als Jude beschimpfen, tut ihm das weh. «Ich möchte kein Jude sein», merkt Toller früh. Stattdessen sagt er lieber Weihnachtsgedichte auf und singt «Deutschland, Deutschland über alles». 1914 meldet er sich als stolzer Vaterlandsverteidiger freiwillig zum Krieg, der ihn schnell zum Kriegsgegner werden lässt.

Anfang 1917, krank und kriegsuntauglich, beginnt der wissenshungrige Toller in München und Heidelberg zu studieren, gleichzeitig wird er politisch und künstlerisch aktiv. Er schreibt Gedichte und sein erstes Drama, «Die Wandlung», trifft Rilke und Thomas Mann. Aus chronischer Sorge um die deutsche Kultur gründet er zusammen mit anderen Studenten einen pazifistischen Kampfbund, der verboten wird.

In Berlin lernt er den unabhängigen Sozialdemokraten Kurt Eisner kennen und schliesst sich der Arbeiterbewegung an. Toller geht auf Demonstrationen, Streiks, wird kurz verhaftet, im Militärgefängnis liest er zum ersten Mal Marx und Engels: «Jetzt erst werde ich Sozialist, der Blick schärft sich für die soziale Struktur der Gesellschaft», erinnert er sich. Allein der Sozialismus werde in der Lage sein, Nationalismus, Rassenhochmut und Antisemitismus zu überwinden, glaubt Toller naiv.

Fünf Jahre Festungshaft

Ende 1918 ist der Krieg verloren, und die Revolution beginnt. Am 9. November ruft Scheidemann die Republik aus. Im ganzen Land kommt es zu Machtkämpfen zwischen reaktionären Rechten und Linken, die gespalten sind in Anhänger des Parlamentarismus und des Rätesystems. In Bayern kämpft Toller, zusammen mit anderen Intellektuellen wie Gustav Landauer und Erich Mühsam, für den Sozialismus. Anfang April 1919 wird der Traum der Dichter kurz Wirklichkeit. Aber die Münchner Räterepublik, zu deren Anführern Toller gehört, überlebt nur kurz.

In Bayern kommt es zu bürgerkriegsartigen Kämpfen. Fast gegen seinen Willen wird Toller, der Gewalt verabscheut, zum Befehlshaber der «Roten Armee», bis München Anfang Mai brutal von Freikorps- und Reichswehrtruppen eingenommen wird.

Nach dem Zusammenbruch der Räterepublik wird der gescheiterte Revolutionär wochenlang von der Polizei gesucht – Toller «spricht Schriftdeutsch» und «schliesst beim Nachdenken die Augen», heisst es im Fahndungsaufruf. Er wird gefunden und zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Im Gefängnis schreibt Toller Theaterstücke wie «Masse Mensch» und «Hinkemann», deren Aufführungen den politischen Gefangenen noch berühmter machen.

Mit seiner Entlassung im Sommer 1924 endet Tollers Autobiografie. Der erste Satz des 1933 von ihm verfassten Nachworts lautet: «Wer den Zusammenbruch von 1933 begreifen will, muss die Ereignisse der Jahre 1918 und 1919 in Deutschland kennen, von denen ich hier erzähle.»

Plädoyer für Frieden

Ein Blick in ältere Zeitungskritiken verrät, dass «Eine Jugend in Deutschland» von Rezensenten, egal in welchem Jahrzehnt, immer als aktuell empfunden wurde. 1983 steht in der «FAZ», dass Leben und Werk Tollers, dieses «Wanderpredigers der Menschenrechte» und «prophetischen Warners vor dem Faschismus», trotz starker Zeitgebundenheit auch Anfang der achtziger Jahre noch bedeutend seien. Denn Tollers Pazifismus und Humanismus hätten sich keineswegs verbraucht.

Ähnlich universell formuliert begründen die Herausgeber der Anderen Bibliothek in einer dem grellroten Band beigelegten Notiz die Relevanz von Tollers Autobiografie. Auch heute noch, neunzig Jahre nach ihrem allerersten Erscheinen, lese sich dieses Plädoyer für Frieden und Gerechtigkeit bestürzend aktuell.

Nichts ist falsch daran, «Eine Jugend in Deutschland» als Bibel des Humanismus zu verstehen, die von ihren deutschen Lesern wahrscheinlich immer als zeitgemäss wahrgenommen werden wird, weil Demokratie- und Menschenfeinde in unsere Welt genauso gehören wie der Kampf gegen sie. Problemlos kann man Tollers Lebensgeschichte alle paar Jahrzehnte neu auflegen und die Bedeutung dieser lakonisch erzählten Autobiografie mit ihrer zeitlosen, an die Vernunft appellierenden Botschaft erklären. Dabei sollte man nur den programmatischen Titel nicht vergessen und das, was Toller überhaupt erst zum manischen Weltverbesserer machte: ein Deutschland, in dem er kein Jude sein konnte.

Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Die Andere Bibliothek, Berlin 2024. 345 S., Fr. 67.90. – Im Wallstein-Verlag erscheint im Mai eine Urfassung nach bisher teilweise unbekannten Typoskripten von Ernst Toller.

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