Montag, November 25

In der «Enoteca Maria» auf Staten Island sind es nicht Sterneköche, die am Herd stehen, sondern Grossmütter aus aller Welt. Die Gerichte sollen Geschichten von Heimat und Tradition erzählen.

Es gibt Orte, die verbinden – nicht nur Menschen, sondern auch Kulturen und Generationen. Die «Enoteca Maria» auf Staten Island, New York, ist so ein Ort. In diesem Restaurant kocht nicht eine einzelne Person mit ihrer persönlichen Handschrift, sondern ein immer wieder wechselndes Kollektiv – bestehend aus älteren Frauen, aufgewachsen in unterschiedlichsten Ländern, die ihre Traditionen und Erinnerungen auf die Teller bringen. Sie bereiten die Gerichte zu, die sie seit ihrer Kindheit kennen und die schon Söhne und Enkel gleichermassen verzaubert haben.

Für die Gäste spielt es keine Rolle, woher die Grossmütter stammen. «Die Leute reden ständig über ihre Mütter und Grossmütter und darüber, wie diese kochten», sagte der Gründer und Besitzer Jody «Joe» Scaravella gegenüber der Reisezeitschrift «Travel + Leisure». Das Essen nehme einen bei der Hand und führe direkt auf einen Pfad der Erinnerungen.

Einheimische wie Touristen nehmen die Fahrt mit der Staten-Island-Fähre auf sich, um in der «Enoteca Maria» zu speisen. Das Konzept entstand aus dem Wunsch heraus, Erinnerungen wieder aufleben zu lassen. Nach dem Tod seiner italienischen Mutter und seiner italienischen Grossmutter suchte Scaravella nach einem Weg, die Magie seiner häuslichen italienischen Küche am Leben zu erhalten. So gründete er 2007 sein Lokal im Stadtteil St. George, benannt nach seiner Mutter Maria. Damals stammten noch alle Köchinnen aus verschiedenen Regionen Italiens.

Scaravella erkannte nach einigen Jahren, dass sich die Idee skalieren lässt. Heute kommen Grossmütter – Nonnas, wie man in Italien sagt – aus Peru, Japan, Usbekistan, Mazedonien und vielen weiteren Ländern in die Küche der «Enoteca Maria». Insgesamt haben schon über hundert verschiedene Frauen für das Restaurant gekocht. Das Ergebnis ist ein Menu, das sich täglich ändert, je nachdem, wer gerade hinter dem Herd steht. An einem Tag gibt es venezolanische Arepas, am nächsten ägyptisches Koshari, das alles wird auf Instagram dokumentiert.

Den Stolz einer Nonna gilt es nicht zu unterschätzen. Die Köchin des Tages allein entscheidet, was auf den Teller kommt. Nonna Adelina zum Beispiel soll darauf bestehen, ihre eigene Pasta zu machen, egal, wie lange es dauert. Die Spezialität der über 80-jährigen Italienerin: Tagliatelle alla Mantovana.

«Wir haben gemerkt, dass es besser ist, Nonnas aus verschiedenen Kulturen zusammenzubringen», erzählte Scaravella 2017 der «New York Times». «So lernen sie voneinander, ohne in Konkurrenz zu treten. Jede bringt ihre eigenen Geheimnisse und Traditionen mit.» Das kleine Restaurant ist heute so beliebt, dass man keinen Tisch bekommt, ohne Wochen im Voraus zu reservieren.

Der Zauber der «Enoteca Maria» liegt nicht nur in der Vielfalt der Gerichte, sondern versteckt sich auch in den Geschichten, die mit jedem Teller serviert werden. So erfährt man etwa auf der Website des Restaurants, dass die Köchin Mariella aus Venezuela ihre ersten Arepas zusammen mit ihrer Grossmutter in Caracas gemacht hat. Und der Gründer Joe Scaravella berichtet von den Markttagen mit seiner Nonna Domenica in Neapel, davon, wie sie Pfirsiche probierte und sie angewidert ausspuckte, wenn sie nicht ihren hohen Ansprüchen genügten.

In Zeiten von Fast Food, Instant-Nudeln oder todschicken Edelrestaurants wecken Gerichte à la Nonna noch mehr Sehnsüchte. Wer denkt nicht gerne an die Zeiten zurück, als man noch klein genug war, um mit baumelnden Beinen am Tisch der Oma zu sitzen, wo jeder Bissen nach Geborgenheit schmeckte? Vielleicht ist die wahre Geheimzutat beim Kochen tatsächlich Liebe – oder zumindest das Gefühl, zu Hause zu sein.

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