Samstag, November 23

Der Manaslu in Nepal fordert selbst die fittesten Trekker heraus. Dennoch wächst die Zahl derer, die den achthöchsten Berg der Erde umrunden wollen – mit einer gehörigen Portion Wagemut.

Dharamsala, tief in Nepal, kurz vor der Grenze zu Tibet. Zwei Lodges gibt es hier auf 4470 Metern Höhe, mehr nicht. Unsere besteht aus Blechplatten. Kein Wellnessbereich, kein gediegenes Restaurant, kein Wohlfühl-Schnickschnack. Eine Blechhütte mit einer Feldküche. Eine weitere zum Essen, drei Gartentische passen hinein. Die Tür schliesst nicht richtig. Einen Ofen gibt es nicht. Die Temperaturen schwanken um den Gefrierpunkt. Ein ungemütlicher Ort. Dazu ein langgezogener Bau mit etwa fünfzig Schlafplätzen. Steine wurden zu einem ebenen Boden aufgeschichtet, darauf Holzplatten und Schaumstoffmatten. Im Plumpsklo-Häuschen hat sich eine gefährliche Eisschicht auf dem Boden gebildet.

Dharamsala ist der letzte Stopp vor der Etappe über den Larkya La, den Larke-Pass. Mit 5106 Metern ist er nicht nur der höchste Punkt bei der Wanderung um den 8163 Meter hohen Manaslu, an dem im September Hochbetrieb an Expeditionen herrscht. Der Larkya La ist auch einer der längsten Pässe des Landes. Eine gefühlte Ewigkeit geht es in mehr als 5000 Metern Höhe nahezu eben dahin, ein paar Meter hinauf, dann wieder hinunter. Und genau deshalb ist er eine Herausforderung für Trekking-Touristen. Der Pass fordert Körper und Kopf. Bei der Tour de France wäre das die Königsetappe.

Anspannung und Höhenangst

Die Ungewissheit, die Kälte und die Höhe sorgen in Dharamsala für eine angespannte Stimmung. «Warum bekomme ich keine Luft in meine Lungen?», raunzt eine fast 70-jährige Amerikanerin über den Tisch. Und ihre Nichte fleht, man möge ihr den Kopf abmontieren, so sehr setzt ihr der Mangel an Sauerstoff zu. Damit am nächsten Tag nichts schiefgeht, hat jede eine in Alufolie eingeschweisste Tablette vor sich. «Diamox», sagt die Jüngere. Ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit helfen sie mit dem Pharmaziebaukasten nach.

Die Wanderung um den Manaslu gehört neben dem Everest-Basecamp-Trek und dem Annapurna-Circuit-Trek zu den beliebtesten Trekkings in Nepal. 2019 waren dort laut einer offiziellen Statistik 7500 ausländische Touristen unterwegs. Dann kam Corona. Einzig die neue Regelung, wonach Trekking-Touristen nur noch mit einem zertifizierten Guide unterwegs sein dürfen, könnte die Hoffnungen der Lodge-Betreiber auf Besserung trüben. Guides sind nur begrenzt verfügbar und machen ein Trekking, das gerade Low-Cost-Backpacker bisher gerne auf eigene Faust unternommen haben, teurer. Allein 2019 sollen 50 000 Wanderer ohne Begleiter im Land unterwegs gewesen sein.

Vorbereitung für den Aufstieg

Unser Guide heisst Buddha Ghale, ist 43 Jahre alt, seit 25 Jahren mit ausländischen Gruppen unterwegs, erst als Träger, dann als Koch und jetzt als Guide. Er war auch schon am Mount Everest im Einsatz. Wir haben ihn vor mehr als zehn Jahren bei einer Expedition kennengelernt. Seitdem sind wir in Nepal mit ihm unterwegs. Noch bevor wir in dem Land ankommen, organisiert er die Permits für die Schutzgebiete, durch die unser Weg führt. Er heuert Träger an, die unser Gepäck übernehmen, was in der Höhe eine echte Erleichterung ist. Und er besorgt ein Auto samt Chauffeur.

Mit dem Auto fahren wir von Kathmandu bis Machhakohla – ein kleines Dorf in der Region Gurkha, auf nicht einmal 900 Metern Höhe. Dort endet die fahrbare Strasse. Die traditionellen Häuser, meist nur zwei Stockwerke hoch, wurden zum Teil schon abgelöst durch höhere Gebäude, zumeist Gästehäuser für Touristen.

Der Fortschritt ist hart erarbeitet. Wie im Mittelalter ist Nepal auf dem Weg in die Zukunft. Etwa fünfzehn Frauen tragen in Machhakohla auf ihrem Rücken Bruchsteine von der Strasse zu einer etwa fünfzig Meter entfernten Baustelle. Für neun Stunden schwere Arbeit bekommt jede von ihnen gerade einmal 700 Rupien, nicht einmal fünf Schweizerfranken, so erzählen sie es uns bei einer kurzen Pause. Kein Murren, kein Jammern. Sie sind froh um die Einnahme.

Nicht nur bei diesem Schwatz erleben mein Mann und ich die Liebenswürdigkeit der Nepalesen, die trotz ihrem harten Leben immer zum Lachen aufgelegt sind, was schon die Schweizer Reisejournalistin Ella Maillart vor mehr als einem halben Jahrhundert in ihrem Buch über ihre Erlebnisse «Im Land der Sherpas» beschrieben hat. Auch auf unserem weiteren Weg treffen wir auf eine völkerverbindende Gastfreundschaft. «Namaste», grüssen die Menschen schon von weitem. Und je näher wir der tibetischen Grenze kommen, desto öfter hören wir den tibetischen Gruss «tashi delek».

Unser Weg führt erst an Terrassen vorbei, die so weit die Hänge hinaufreichen, bis steile Felsen eine natürliche Grenze bilden. Manche dieser Parzellen sind so kurz und schmal, dass das Dzo, eine Kreuzung aus Yak und Rind, das den Pflug zieht, nicht bequem wenden kann. Auf diesen Terrassen bauen die Menschen an, was sie zum Leben brauchen. Mais wird genauso kultiviert wie Kartoffeln, Reis und Gerste. An den ersten Tagen sehen wir noch Bananenstauden, später dann Apfelbäume und weiter in der Höhe dann gar kein Obst mehr.

Zeit statt Kilometer

Wie weit wir jeden Tag gehen? Kilometerangaben sind zwecklos. Mal sind die Wege flach, mal steil. Zeit ist bei so einem Trekking die einzig geeignete Masseinheit. Meist sind wir am Vormittag drei Stunden unterwegs und nach einer ausgiebigen Mittagspause noch einmal so viel. Neun ganze Tage lang. Nur die Etappe über den Pass ist etwas länger.

Regelmässig legt unser Guide eine Pause ein. Das sei notwendig, um sich an die Höhe zu gewöhnen, erklärt er uns. Und wenn wir lieber weitergehen würden, um die Plackerei hinter uns zu bringen, zieht er einen Schokoriegel aus seinem Rucksack oder getrocknete Früchte. Wir können nicht widerstehen. Buddha Ghale weiss, wie er gestresste Touristen beruhigt.

Kultureller Austausch während der Rast

Mittags machen wir in einem Tea-House Rast. Selbst wenn wir nur schnell eine Nudelsuppe essen, ist so eine Rast eine gute Erholung, weil Buddha Ghale und die Träger jeden Tag wieder auf ihr Dal Bhat bestehen, das typische Gericht mit Reis, Linsensuppe und Gemüse, das immer frisch zubereitet wird. «Dal Bhat power for 24 hours», sagen sie dann.

Uns gibt das Zeit, mit anderen Trekkern ins Gespräch zu kommen. Mal erzählt uns eine Dänin, die sich eine Auszeit von ihrem Job als Pharmaberaterin gönnt, das Trekking sei ihre erste Bergtour überhaupt. Sie sei schon ein bisschen aufgeregt, weil sie ja nicht wisse, was auf sie zukomme. Und ein anderes Mal berichtet eine Australierin, dass sie vor mehr als zwanzig Jahren schon einmal um den Nachbar-Achttausender, die Annapurna (8091 Meter), gewandert sei.

Wenn Buddha Ghale ums Eck schaut und seine beiden Hände auf den Bauch legt, dann wissen wir: Es geht weiter. Das Rauschen des Buri-Gandaki-Flusses im Talgrund, der auch von den Gletschern weit oben auf den Bergen genährt wird, begleitet unsere Wanderung. Wo die weissen Berge stehen, können wir an den ersten Tagen nur erahnen; zu tief hängen die Wolken, ein undurchdringliches Grau, und zu steil sind die Berge, die uns die Sicht versperren. Noch viele Male queren wir auf wagemutig gebauten Hängebrücken den Fluss, bis wir den achthöchsten Berg der Welt zum ersten Mal sehen. Der Manaslu ragt so steil in den Himmel, als hätte ihn ein Kind gemalt. Ein Toblerone-Berg.

Begegnungen in den Dörfern

Vorbei an Mani-Mauern, die aus mit Mantras verzierten Steinen aufgerichtet wurden, und Gebetsfahnen, die grün, blau, gelb, rot im Wind flattern, kommen wir durch Dörfer, die Jagat, Deng, Namrung, Lho, Samagaon oder Samdo heissen. Und je weiter hinten im Tal und je höher sie liegen, desto beschwerlicher ist das Leben für die Menschen. Mittlerweile gibt es überall Strom. Und meist auch Internet. Helikoptertransporte, wie sie für die Manaslu-Expeditionen ohne Zahl durchgeführt werden, sind für die Einheimischen aber unerschwinglich. Jeder Zementsack, jedes Holzbrett, jede Flasche Cola wird auf dem Rücken von Pferden oder Trägern gebracht. Oder von Yaks, die in den höheren Lagen zum Einsatz kommen, wenn Waren aus Tibet geholt werden. Jedes Mal wieder erstaunen uns diese Karawanen.

Als wir am Tag nach der Passüberquerung Richtung Marsyangdi-Tal absteigen und gerade einen Wald aus Rhododendren passieren, die hier zu mächtigen Bäumen werden und übervoll sind mit Blüten in Violett, Rot, Rosé, Pink, Orange, kommt uns ein Mann entgegen, der ein Reitpferd am Halfter führt. Eine Koreanerin sei von der Passetappe so geschwächt, dass sie es nicht alleine hinunter zur Strasse schaffe. Oder war es eine Amerikanerin? So genau habe er sich das nicht gemerkt.

Anreise: Es gibt keine Direktflüge nach Kathmandu. Die Anreise erfolgt entweder über Istanbul oder einen der Golfstaaten.
Literatur zur Einstimmung: Ella Maillart: Im Land der Sherpas. Nagel & Kimche, Fr. 33.90, Helge Timmerberg: Das Mantra gegen die Angst oder Ready for everything. Malik, Fr. 19.90.
Reiseführer: Ray Hartung: Nepal. Trescher, 5. Auflage 2023, Fr. 35.90.

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