Donnerstag, Mai 16

Zypern ist seit 1974 in einen griechischsprachigen Süden und einen türkischsprachigen Norden geteilt. Obwohl es auf der Insel mittlerweile neun Checkpoints gibt, haben viele Einwohner die Grenze innerhalb des eigenen Landes noch nie passiert.

Wenn abends die ersten Laternen angehen und die abnehmende Schwüle die Menschen wieder auf das Trottoir treibt, könnte man meinen, die Ledrastrasse in Zyperns Hauptstadt Nikosia sei eine Flaniermeile wie jede andere im Mittelmeerraum: Gedeckte Restauranttische, Boutiquen und Tabakläden säumen die Strasse, die die Altstadt von Süden nach Norden durchläuft. Nach knapp zehn Minuten hat das Bummeln allerdings sein abruptes Ende.

Am runden Denkmal vor dem Grenzübergang lehnt Chris Rotsakis. Die grellen Scheinwerfer des Kontrollhäuschens werfen dessen Schatten auf den Asphalt. Der 25-Jährige passiert regelmässig die Grenze zum Norden seiner Heimatstadt. Er selbst ist im Süden aufgewachsen.

Wer über die Grenze will, muss nicht nur warten, sondern gleich zweimal den Pass vorzeigen: zuerst der Polizei der Republik Zypern, dann den Beamtinnen oder Beamten der sogenannten Türkischen Republik Nordzypern (TRNZ). Zwischen den zwei Häuschen liegt ein fünfzig Meter breiter Abschnitt, der seitlich mit Gittertoren abgeriegelt ist. Fotografieren ist verboten, ebenso das Betreten der «Pufferzone», die wie Niemandsland hinter den Gitterstäben klafft. An eine Fassade hat jemand die Worte «One Cyprus» gesprayt.

Eine 180 Kilometer lange Pufferzone teilte die Insel

«Ich überquere die Grenze fast täglich, und trotzdem wollen sie jedes Mal meinen Pass sehen», sagt Chris genervt in der Warteschlange und zieht sein Handy aus der Jeans. «Dieses Bild gibt mir Hoffnung.» Er deutet auf den Bildschirmhintergrund, der eine Aufnahme des Berliner Mauerfalls zeigt.

Der Checkpoint auf der Ledrastrasse in Nikosia bildet einen Fussgänger-Grenzübergang der Insel. Die Pufferzone, auch «grüne Linie» genannt, ist insgesamt 180 Kilometer lang und teilt Zypern seit fünfzig Jahren in Nord und Süd.

Seit der Militärinvasion von 1974 ist Zypern de facto in zwei Teile geteilt. Der Einmarsch der türkischen Armee erfolgte auf einen Putschversuch, der den Anschluss Zyperns an Griechenland zum Ziel hatte. Tausende Menschen wurden auf beiden Seiten vertrieben, im Südteil leben nun die griechischen, im Norden die türkischen Zyprioten. 1983 wurde im Norden die TRNZ ausgerufen, die nur von Ankara anerkannt ist.

Mit den ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen Mitte der 1960er Jahre beschloss der Uno-Sicherheitsrat die Aufstellung seiner Truppen auf Zypern. Diese überwachen seit der Teilung das Waffenstillstandsabkommen der beiden Parteien und versuchen eine Verhandlungsgrundlage für die Wiedervereinigung zu schaffen. Mittlerweile sind sie Teil eine der längsten Uno-Friedensmissionen überhaupt. «Das ist kein Anlass zum Feiern. Dieses Problem hätte schon vor vielen, vielen Jahren gelöst werden müssen», sagt Aleem Siddique, Uno-Sprecher in Zypern. Dabei gab es in den vergangenen fünfzig Jahren immer wieder Aussicht auf Wiedervereinigung.

Insbesondere als die Republik Zypern die EU-Mitgliedschaft anstrebte, hofften viele darauf, der EU als geeinte Insel beitreten zu können. Doch das Referendum, bei dem die gesamte zypriotische Bevölkerung am 24. April 2004 über eine Wiedervereinigung abstimmte, scheiterte: 76 Prozent der griechischen Zypriotinnen und Zyprioten stimmten dagegen, während 65 Prozent der türkischen Zypriotinnen und Zyprioten dafürstimmten. Weniger als zwei Wochen später wurde die gesamte Insel in die EU aufgenommen, obwohl in der Realität die Übernahme des EU-Regelwerks im Norden nicht gewährleistet ist.

Der erste Grenzübergang wurde 2003 im Zuge gegenseitiger Annäherungsbestrebungen eröffnet. Die nach 1974 im Norden und Süden geborenen Zyprioten waren bis dahin komplett isoliert von ihren Landsleuten aufgewachsen. Obwohl es auf der Insel mittlerweile neun Checkpoints gibt, haben viele Einwohner die Grenze innerhalb des eigenen Landes noch nie passiert.

Die Ledrastrasse, die sich nun im Nordteil vor Chris auftut, ist nicht so weitläufig wie im Süden, dafür umso dichter an Cafés und Restaurants. In den Geschäften und Markthallen stapeln sich die gleichen Souvenirs wie im Süden. Die Teekannen, Backgammon-Bretter und bunten Magnete sind hier jedoch mit der Staatsflagge der Türkei oder dem Konterfei des türkischen Präsidenten bedruckt.

Durch die engen Gassen gelangt Chris an einen Platz mit einem gigantischen Feigenbaum. Die Tische darunter sind voll mit jungen Leuten, die am Bierglas nippen oder an der Zigarette ziehen. Chris setzt sich an einen freien Tisch.

Geteiltes Zypern

Pufferzone der Vereinten Nationen

Der erste Kontakt mit türkischsprachigen Zypriotinnen und Zyprioten seines Alters sei hier entstanden, im «Hoi Polloi». Wegen der politischen Offenheit, die das Café proklamiere, LGBTQ+-freundlich und pro Wiedervereinigung, sei er immer öfter zum Lernen hergekommen – so entstand ein Freundeskreis. Immer wieder steht Chris auf, um Leute zu begrüssen.

Viele der jungen Leute, die regelmässig ins «Hoi Polloi» kommen, sind friedensaktivistisch organisiert. Diese politische Einsicht zu erlangen, war für die meisten ein langer Prozess: Sie erzählen, wie nach der Schulzeit der Drang aufgekommen ist, mehr über die Heimatinsel zu erfahren. Erst durch das gezielte Suchen im Internet fanden sie andere Informationen als jene, die in Schulbüchern oder von der Politik vermittelt werden. «Jedes Kind wird in der Schule einer Gehirnwäsche unterzogen. Bei uns im Süden heisst es, die Türkei sei einmarschiert, habe uns unsere Häuser weggenommen und uns zu Geflüchteten im eigenen Land gemacht. Die türkischen Zyprioten wiederum lernen, dass die türkische Armee gekommen sei, um das Land vor der griechischen Militärdiktatur zu beschützen. Sie stellen die Türkei also als Retterin dar», erzählt Chris.

Weil viele Zypriotinnen und Zyprioten kaum etwas über den «anderen» Inselteil wissen, versuchen aktivistische Gruppen Vermittlungsarbeit zu leisten. Sprachkurse, Konzerte oder Festivals sollen Feindbilder abbauen und Menschen verschiedener Communitys zusammenbringen. Eine Aktivistin erzählt: «Dadurch realisieren die Leute, dass ihre Kulturen in einer gemeinsamen Vergangenheit wurzeln: Sie pflegen ähnliche Bräuche oder entdecken gleiche Ausdrücke im griechisch- und türkischzypriotischen Dialekt. Manche erfahren sogar, dass ihre Familien einst im gleichen Dorf gelebt haben.»

Auf ihren Unterarm hat die junge Frau einen grossen Stern tätowiert: den historischen Grundriss des einst geeinten Nikosia. «Auch wenn die Chancen für eine politische Lösung im Moment sehr schlecht sind, kämpfen wir weiter. Jede Person, die durch unsere Arbeit das erste Mal die Grenze passiert und so in Austausch mit ihren Landsleuten tritt, ist für uns ein grosser Erfolg.»

Auch Uno-Sprecher Siddique sieht eine enorme Wichtigkeit im Zusammenbringen der verschiedenen Communities: «Die Politiker mögen in einem Konferenzraum ein Friedensabkommen unterzeichnen, aber der wirkliche Frieden wird an den Wurzeln der Gemeinschaften geschlossen.»

In die Arbeit des Community-Building müssen in Zypern mittlerweile mehr als zwei Gemeinschaften einbezogen werden. In den letzten fünfzig Jahren sind in den Norden Zyperns viele Türken vom Festland übergesiedelt, die dort als isolierte Bevölkerungsgruppe leben. Weil diese Siedler über keinen EU-Pass verfügen, können sie nicht in den Süden passieren. Dieser Umstand erschwert die Integration aller Gemeinschaften in den Friedensprozess.

Orte wie das «Hoi Polloi» beweisen, dass Austausch trotz alldem möglich ist: Hier hat Chris auch seinen Partner Naim kennengelernt. Treffen kann sich das Paar nur im Norden der Insel. Naim, der eigentlich anders heisst, ist als Sohn türkischer Eltern auf Zypern geboren. Deshalb verfügt er nur über den Pass der TRNZ. Erst einmal konnte Chris seinem Freund den Süden der Insel zeigen. Dafür mussten sie nach Ankara reisen und ein Schengen-Visum beantragen. Erst dann konnte Naim von der Türkei aus in den Süden Zyperns fliegen und später über den gleichen Weg auch wieder ausreisen.

Ersin Tatar als verlängerter Arm Ankaras

Nach jedem Schluck Bier checkt Chris nervös sein Handy. «Immer noch keine Nachricht», sagt er enttäuscht. Vor zwei Tagen ist Naim in den obligatorischen Militärdienst eingetreten und musste sein Handy abgeben. «Es ist unglaublich. Dort drücken sie ihm in diesem Moment eine Waffe in die Hand und bringen ihm bei, den Feind zu töten. Der Feind bin ich: Lebenspartner und Bewohner derselben Insel.»

Dass sich die demografische Zusammensetzung im Nordteil wandelt, ist kein Zufall. Die Türkei verfolgt in der TRNZ eine systematische Siedlungspolitik: Indem sie das Land von Vertriebenen an Festlandtürken billig verkauft, versucht sie eine Verschiebung des Bevölkerungsgewichts zwischen Türken und türkischen Zyprioten zu erreichen. Damit geht eine gezielte Islamisierung des einst relativ säkularen Inselteils einher.

Riesige, neu erbaute Moscheen, Atatürk-Denkmale oder Erdogan-Abbilder prägen den öffentlichen Raum. Die türkische Staatsflagge weht in Fähnchen-Girlanden über den Hauptstrassen der Städte und Dörfer. Tatsächlich sind die politischen und wirtschaftlichen Einflüsse der Türkei auf Nordzypern grösser denn je. Ersin Tatar, Präsident und Vorsitzender der Nationalen Einheitspartei der TRNZ, wurde 2020 de facto vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ins Amt gesetzt und waltet seither als verlängerter Arm Ankaras.

Wie in der Türkei ist auch im Norden Zyperns in den letzten Jahren die Redefreiheit massiv eingeschränkt worden. Viele Leute seien zum Schweigen gebracht worden, erzählt eine Studentin. Sie selbst sei wegen eines Türkei-kritischen Posts von einem Regierungsvertreter schriftlich ermahnt worden.

Seit Erdogan an Macht gewonnen hat und die Diskussionen um einen EU-Beitritt der Türkei eingefroren sind, hat sich die Situation im besetzten Gebiet verschärft. Uno-Sprecher Siddique sieht grosse Schwierigkeiten in der Veränderung des Status Quo: Nicht nur der demografische Wandel im Norden, sondern auch neue geopolitische Interessen der beiden Regierungen würden die Voraussetzungen für eine Wiedervereinigung grundlegend verändern.

Auch in der Republik Zypern sind gegenwärtig rechtsnationale Bewegungen im Aufschwung. Sie machen sich das Thema Migration zunutze, indem sie es mit dem Trauma der türkischen Invasion verbinden. Erst im vergangenen Herbst kam es im Süden zu massiven Ausschreitungen gegen Migranten. Viele junge Leute in Nikosia seien beunruhigt, erzählt Berk Tansel, ein türkischzypriotischer Bekannter von Chris, der sich im «Hoi Polloi» mit an den Tisch gesetzt hat.

Auf das T-Shirt des 28-Jährigen ist das Logo einer NGO gedruckt, die sich für eine gemeinsame europäische Identität Zyperns einsetzt. Von der Idee einer geeinten Insel würden sich im Süden immer mehr Menschen entfernen. Auch wirtschaftlich und politisch sei in der Republik Zypern das Interesse an einer gemeinsamen Lösung gering, meint Chris: «Der Süden ist ein unabhängiges Land, das – mit Ausnahme der Türkei – von der ganzen Welt anerkannt wird. Weil Zypern trotz der gescheiterten Wiedervereinigung in die EU aufgenommen wurde, fehlen im Süden politische Anreize, um die Verhandlungen fortzusetzen.»

Die hingegen isolierte und wirtschaftlich instabile Lage im Norden sei besonders für junge Leute unattraktiv. Die, die es sich leisten können und einen EU-Pass besitzen, verlassen das Land in der Regel. Auch Berk ging für sein Studium nach Grossbritannien. Er kam aber zurück, um sich für ein vereintes Zypern einzusetzen. «Als 2004 über die Wiedervereinigung abgestimmt wurde, wehten in Nordzypern überall die europäischen Flaggen der Ja-Kampagnen. Am Tag der Abstimmung füllten sich die Strassen Nikosias mit Tausenden hoffnungsvollen Gesichtern», sagt Berk, der damals noch ein Kind war. Das Scheitern des Referendums sei eine grosse Enttäuschung für seine Gemeinschaft gewesen. Durch die Aufnahme Zyperns in die EU ohne Wiedervereinigung fühlten sich viele Leute im Norden verraten: «Das kann man sich so vorstellen, als ob die Ukraine EU-Mitglied würde, aber die Krim Teil des russischen Besetzungsgebietes bliebe.»

Türkische Zyprioten können im Süden kein Konto eröffnen

Berk arbeitet seit 2022 für einen der sechs zypriotischen Abgeordneten des EU-Parlaments. Wegen seiner offenen Bestrebungen für Wiedervereinigung darf er wie viele türkische Zypriotinnen und Zyprioten nicht mehr in die Türkei einreisen. «Ich arbeite für die EU, während meine eigenen Rechte als EU-Bürger massiv eingeschränkt sind. Nordzypern ist isoliert. Wir haben zum Beispiel kein Erasmus-Abkommen. Viele Dinge, die wir in allen anderen 26 Mitgliedstaaten der EU problemlos machen können, sind uns im eigenen Land – in der Republik Zypern – verboten. Als türkischer Zypriote ist es mir im Süden zum Beispiel nicht erlaubt, ein Bankkonto zu eröffnen oder mich beim Gesundheitssystem anzumelden.»

Von der EU sieht sich der Norden im Stich gelassen, dabei verfüge sie über die grösste politische Einflussmöglichkeit, die Lage für alle Zypriotinnen und Zyprioten zu verbessern, meint Berk. Dafür brauche es als Erstes eine klare Verurteilung der türkischen Besetzung und Einflussnahme sowie entsprechende Sanktionen. Gleichzeitig müsse der Süden daran erinnert werden, dass die türkischsprachigen Zyprioten gleichberechtigte Bürger der Republik seien.

Es ist mittlerweile fast Mitternacht, die Luft noch angenehm lau. Das «Hoi Polloi» ist gut besucht und die Stimmung ausgelassen. Berk und Chris stossen an. Dass türkisch- und griechischsprachige Zypriotinnen und Zyprioten gemeinsam Zukunftspläne schmieden, ist hier normal. «Wenn wir das Land jetzt verlassen, wer bleibt dann zurück, um zu kämpfen?», sagt Chris. «Noch 362 Tage, dann kommt mein Freund aus dem Militärdienst nach Hause. Für eine gemeinsame Zukunft brauchen wir eine geeinte Insel.»

Dieser Artikel wurde finanziell durch den Medienfonds «Real 21 – die Welt verstehen» unterstützt.

Exit mobile version