Mittwoch, Dezember 4

Nach einer überragenden ersten Profisaison spielt Chiara Tamburlini diese Woche um eine Startberechtigung für die LPGA-Tour. Was würde die Qualifikation für die St. Gallerin bedeuten – finanziell, sportlich und organisatorisch?

Vor einem Jahr belegte Chiara Tamburlini noch Platz 446 in der Golf-Weltrangliste. Sie hatte gerade ihr Studium abgeschlossen, galt als grosses Golftalent. Tamburlini wurde Profi. Nun ist sie die Nummer 69 der Welt.

Die erste Profisaison war geprägt von einem Aufstieg, wie ihn eine Schweizer Golferin noch nicht erlebt hatte. Auf Anhieb wurde Tamburlini, 25 Jahre alt, auf der Ladies European Tour (LET) nicht nur Rookie des Jahres, sondern gewann als erste Schweizerin in einer grossen Golf-Liga die Order of Merit, also den Gesamtsieg auf der LET.

«Ich kann es nicht glauben», sagt Chiara Tamburlini im Gespräch in St. Gallen. Sie erzählt, wie sie sich als Profi eingelebt hat und dass sie selbst überrascht war, so gut zu spielen und gleich drei Turniere zu gewinnen.

Tamburlinis Aufstieg könnte diese Saison sogar noch weitergehen. Falls sie die grösste Chance ihrer Karriere packt. Ab dem 5. Dezember spielt sie in Alabama um eine Spielberechtigung auf der LPGA-Tour, der Ladies Professional Golf Association. Es ist die wichtigste Liga des Golfsports, die besten Golferinnen der Welt messen sich dort. Zudem ist sie lukrativ – an den LPGA-Turnieren spielt Tamburlini um Millionenbeträge.

Selbstvertrauen kann auch gefährlich sein

Falls Tamburlini ähnlich stark auftritt wie bei der LET, dürfte sie sich einen der 25 Startplätze sichern, die nach den fünf Spieltagen der «Q-School» vergeben werden. Das Wort «falls» betont die Ostschweizerin besonders. Sie sagt: «Ich habe momentan riesiges Selbstvertrauen, doch das kann gefährlich sein. Das habe ich in dieser Saison gelernt.»

Zum ersten Mal erkannte sie das im Frühsommer, als sie nach starken Leistungen plötzlich um einen der beiden Schweizer Olympia-Startplätze kämpfte. Euphorisch glaubte Tamburlini, mit einem Bein schon in Paris zu sein. «Doch dann beging ich in der entscheidenden Phase unmögliche Fehler.» Sie verpasste die Olympiaqualifikation. Und geriet in ein kleines Tief.

Tamburlini liess nach dieser Enttäuschung ein Turnier aus, golfte fünf Tage nicht, startete dann frisch. Mit ein bisschen Abstand realisierte sie, dass sie mental für dieses Olympiarennen wohl nicht bereit gewesen war.

Auch an einem Turnier im Oktober trat Tamburlini mit dem Gedanken an, sie habe die Order of Merit schon fast gewonnen – und verpasste den Cut. Beim nächsten Turnier konzentrierte sie sich wieder auf das Spiel und sicherte sich die Wertung. Tamburlinis Vorteil: Sie schaltet normalerweise ausserordentlich mühelos in den Wettkampfmodus. Auch wenn sie auf dem Platz gerne redet und scherzt, fokussiert sie sich im Moment des Abschlags voll. Ihr Trainer Jeremy Carlsen sagt: «Das ist ihre Superkraft.»

Einen festen Caddie zu finden, ist gar nicht so einfach

Dass sie sich zu sicher fühlt und eine gute Ausgangslage verspielt, soll ihr kein drittes Mal passieren. Das sind hohe Ansprüche an sich selbst nach dem steilen Aufstieg in nur einem Jahr. Erst 2023 schloss sie den Bachelor in Finance an der Universität von Mississippi ab. Als Profigolferin war sie plötzlich auf sich gestellt, nachdem sie zuvor Jahre in einem Team des College-Golfes und davor in die Verbandsstrukturen von Swiss Golf eingebettet war. Die Profis organisieren ihre Reisen, die Unterkünfte an den Turnieren oder Trainingsmöglichkeiten allein; Tamburlini erhält Unterstützung von ihrer Mutter und der Frau ihres Trainers.

Als Profi formierte Tamburlini ein eigenes Team. Sie arbeitet mit einem Schwungtrainer, einem Kurzspieltrainer und einem Fitnesstrainer zusammen. Ein Coach hilft ihr, die Trainings effizient und turniernah zu gestalten. In diesem Umfeld fühlt sie sich wohl, sie plant, es im nächsten Jahr beizubehalten. Was ihr jedoch noch fehlt, ist ein fester Caddie.

Es gibt im Golf viele Duos aus Athleten und Caddies, die über Jahre hinweg gemeinsam erfolgreich sind. Den passenden Begleiter zu finden, ist aber nicht ganz einfach – auch das gehörte zum Lernprozess im ersten Profijahr. Zweimal engagierte Tamburlini für je zwei Turniere Profi-Caddies. «Aber ich habe mich unwohl gefühlt und schlecht gespielt», sagt sie.

Tamburlini findet sich nur schwer in ihrer Rolle als eigene Chefin zurecht. Vor der Profikarriere spielte sie am College in den USA Golf, war es gewohnt, dass ein Trainer sie auf dem Platz anleitete. «Jetzt weiss ich mehr als der Caddie, und er muss machen, was ich ihm sage. In diesem Gedanken liegt ein Selbstbewusstsein, das mir eigentlich nicht gefällt.» Am liebsten hatte Tamburlini bisher ihre Mutter oder ihren Freund als Caddie dabei; auf der LPGA käme sie um einen Profi aber nicht herum. Angebote hat sie genug: Je erfolgreicher sie wurde, desto mehr Anfragen erhielt sie von Caddies.

Mit der Qualifikation für die LPGA würde Tamburlini neue Dimensionen erreichen. Dort spielen die besten Spielerinnen der Welt, die Turniere finden hauptsächlich in den USA statt. Mit den prestigeträchtigen Majors British Open oder Evian Masters gibt es aber auch einige Turniere in Europa. Tamburlini kann sich deswegen vorstellen, dass sie gar nicht in die USA ziehen würde, sondern jeweils nach ein paar Turnieren eine Pause in der Ostschweiz einlegen würde. Läuft es auf der LPGA nicht wie gewünscht, kann Tamburlini auf die LET zurückkehren: Dank der Order of Merit besitzt sie dort eine Spielberechtigung für die kommenden sechs Jahre – das beruhigt.

Tamburlini hat Respekt davor, dass das Konkurrenzdenken auf der LPGA ausgeprägter ist als auf der LET. Sie teilt sich an den Turnieren gerne eine Airbnb-Wohnung mit anderen Spielerinnen, mag den Austausch, das familiäre Ambiente. Sie sagt: «Ich sehe es so, dass ich gegen mich selber und den Platz spiele und nicht gegen die anderen.»

30 Spielerinnen kassierten mehr als eine Million Dollar an Preisgeld

Auf der LPGA reisen viele Spielerinnen mit ihrer Entourage, sie können sich das leisten. 2024 haben 30 Spielerinnen mindestens eine Million Dollar an Preisgeld verdient, vor zehn Jahren waren es noch deren 11. Die halbe Million schafften heuer 75 Frauen, das sind doppelt so viel wie vor zehn Jahren.

Diese Entwicklung ist eine Folge des massiven Ausbaus des Sponsorings im Frauengolf. Über alle LPGA-Turniere gerechnet, wurden in diesem Jahr 123 Millionen Dollar Preisgeld ausgeschüttet – das sind 80 Prozent mehr als noch vor fünf Jahren. Das Preisgeld der fünf Majors zusammen betrug vor drei Jahren noch 23 Millionen. 2024 waren es 45 Millionen.

Im Vergleich zu den Männern ist das immer noch wenig: Insgesamt zahlt die PGA der Männer über 400 Millionen Dollar Preisgeld an seine Spieler aus, allein die Nummer 1, Scottie Scheffler, verdiente in diesem Jahr knapp 30 Millionen. Bei den Frauen schwingt Jeeno Thitikul mit 6 Millionen obenaus, was sie dem Sieg am LPGA-Finalturnier der besten 60 Golferinnen verdankt. Dort gab es für sie den Rekordsiegescheck von 4 Millionen Dollar.

Auf der LET sind noch keine Millionen zu verdienen. Mit 440 000 Dollar verdiente Tamburlini dennoch deutlich mehr, als sie erwartet hatte. Sie hatte ihre Ausgaben mit einem knapp sechsstelligen Betrag budgetiert und hoffte, dass Ende Jahr noch etwas übrig ist.

Schafft es Tamburlini auf die LPGA, trifft sie dort auf die beiden Schweizerinnen Albane Valenzuela und Morgane Métraux, die seit 2020 beziehungsweise 2022 auf der Tour spielen. Valenzuela hat im vergangenen Jahr ebenfalls brilliert: Sie war die erste Schweizerin, die für den Teamwettkampf Solheim Cup aufgeboten wurde, sowie die erste Schweizerin am Finalturnier der LPGA.

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