Freitag, Dezember 27

Notlösungen werden an Zürcher Schulen zum Normalzustand.

An einem Elternabend in Schlieren ereignen sich am Elternabend tumultartige Szenen. Ein Aufruhr, der auch ausserhalb der Zürcher Agglomerationsgemeinde zu denken geben sollte.

Eine Sekundarschulklasse ist dort in den hundert Tagen seit den Sommerferien von acht verschiedenen Aushilfslehrern unterrichtet worden. Die Disziplinlosigkeit hat zugenommen, die Eltern sind besorgt, die Schule beschwichtigt. Dann ergreift der Aushilfslehrer ungefragt das Wort und beschuldigt die Schule vor allen Eltern, die Situation schönzureden. Worauf ihm der Schulleiter über den Mund fährt, erklärt, er sei gefeuert, und ihn unter Buhrufen aus dem Saal schaffen lässt.

Der Eklat, über den die Tamedia-Zeitungen berichtet haben, ist ein Stresssymptom. Er wirft ein Schlaglicht auf Spannungen, die auch an anderen Schulen stark zugenommen haben.

Hintergrund: Der Lehrermangel ist inzwischen so ausgeprägt, dass man vielerorts froh ist, wenn überhaupt noch irgendjemand da ist, der sich am Morgen vor die Klasse stellt. Wenn etablierte Lehrkräfte ausfallen, wird es schwierig.

Fast zehn Prozent aller Angestellten an den Zürcher Schulen sind heute keine fertig ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer mehr. Das sind fast doppelt so viele wie 2015.

Der Rückgriff auf Laien, eingeführt als Notlösung, entwickelt sich gerade zum Providurium: Der Kantonsrat hat jüngst entschieden, dass die sogenannten «Poldi» – Personen ohne Lehrdiplom – künftig bis zu drei Jahre in der gleichen Schule arbeiten dürfen. Ihre Zahl ist an Zürcher Schulen innert zweier Jahre von 500 auf 800 gestiegen. Hinzu kommen 950 angehende Lehrerinnen und Lehrer, die in den Beruf eingestiegen sind, bevor sie die Ausbildung abgeschlossen haben.

Auf diesem ausgedünnten Stellenmarkt findet man nur mit Mühe Ersatz, wenn jemand unerwartet ausfällt. In Schlieren waren es gleich mehrere Lehrkräfte, die sich krankschreiben liessen, mehrere Klassen waren plötzlich ohne Führung. Es folgte eine endlose Kaskade von Vikaren, also Aushilfslehrern, und schliesslich der Eklat.

Es kam schon vor, dass Klassen aufgelöst werden mussten

Laut dem Zürcher Volksschulamt ist das, was in Schlieren passierte, kein Einzelfall. Sarah Knüsel, Präsidentin des Verbands der Zürcher Schulleiterinnen und Schulleiter, sagt, es sei zurzeit «sehr schwierig», Stellvertretungen zu finden. Sie selbst hat wegen der anrollenden Grippewelle das letzte Wochenende und den letzten Abend mit Suchen verbracht.

Bei kurzen Ausfällen gebe es oft schulinterne Lösungen, sagt sie. Aber wenn es länger dauere, werde es kompliziert. «Manchmal werden in einer Klasse mehrfach hintereinander verschiedene Stellvertretungen angestellt, weil niemand fest bleiben will.» Im schlimmsten Fall werde eine Klasse aufgelöst, die Schülerinnen und Schüler müssten dann auf andere Klassen verteilt werden. «Das kenne ich aus einzelnen Gemeinden, die das so gemacht haben.»

Die Not spiegelt sich in den Stellenbörsen wider. Dort findet man zurzeit rund 250 Einträge von Zürcher Schulen, die Vikarinnen und Vikare suchen – Dutzende davon per sofort. Zwar bieten auch ähnlich viele Stellensuchende ihre Dienste an. Viele von ihnen wollen aber nur an bestimmten Tagen arbeiten oder sogar nur an bestimmten Nachmittagen. Sie können zudem nur einzelne Fächer unterrichten und sind oft nur für begrenzte Zeit verfügbar.

Das Ergebnis sind komplizierte personelle Puzzles.

Myriam Ziegler, die Chefin des Zürcher Volksschulamts, sagt, es sei für Schulen bei längeren Ausfällen wegen des Fachkräftemangels herausfordernd, auf Anhieb jemanden zu finden, der alle Lektionen abdecken könne. Zumal gerade bei Krankheiten nicht absehbar ist, wie lange eine Absenz dauern wird. Eine Stellvertretung müsse daher oft auf mehrere Vikariate aufgeteilt werden.

Dass der Schulalltag unter solchem Flickwerk leidet, liegt auf der Hand.

In Schlieren hatte eine der betroffenen Sekundarschulklassen in diesem Schuljahr schon acht verschiedene Vikare, eine andere sechs und eine drei. Dies sagte die Schulpräsidentin Bea Krebs (FDP) gegenüber den Tamedia-Zeitungen. Sie bestritt zwar den Vorwurf des entlassenen Aushilfslehrers, dass wegen des Durcheinanders in manchen Fächern noch nicht einmal die Lehrmittel an die Schülerinnen und Schüler verteilt worden seien. Sie räumte aber zunehmende disziplinarische Probleme ein, weil die Bezugspersonen häufig gewechselt hätten.

Hinweise auf einen Teufelskreis in den Schulen

Ob die Zahl der krankheitsbedingten Ausfälle, die solche Folgeprobleme nach sich ziehen, im Kanton Zürich zunimmt, ist nicht gesichert. Das Volksschulamt verfügt nicht über belastbare Zahlen, auch nicht zu den Vikariaten. Dem Lehrerinnen- und Lehrerverband ist aber aufgefallen, dass es in seiner Beratungsstelle vermehrt Anfragen zum Thema gibt.

Es gibt auch Hinweise, dass die Schulen in einen Teufelskreis geraten: Der Fachkräftemangel führt zu Stress und vermehrten Krankheitsfällen, diese wiederum lassen sich wegen des Fachkräftemangels nur noch schwer kompensieren, was zu noch mehr Stress führt.

Dies legt die jüngste Studie des Schweizer Dachverbands der Lehrerinnen und Lehrer zur Berufszufriedenheit nahe, die im Sommer publiziert worden ist. Demnach fühlten sich viele Lehrpersonen gestresst und überfordert, was zu einer sinkenden Unterrichtsqualität und zu Burnouts führe. Als eine der Hauptursachen der Belastung wird der Fachkräftemangel genannt. Erwähnt wird auch, dass auch die Zusammenarbeit mit unausgebildeten Lehrkräften ein zusätzlicher Stressfaktor ist.

Was genau in Schlieren zum Eklat geführt hat, muss offenbleiben. Hatten die Krankschreibungen damit zu tun, dass die Schülerinnen und Schüler besonders renitent waren, oder waren die Disziplinlosigkeiten erst eine Folge der Absenzen? Die Schulpräsidentin liess Anfragen der NZZ dazu unbeantwortet.

Das Ungewöhnliche dürfte aber ohnehin nicht der Fall an sich sein, sondern die Tatsache, dass er in aller Öffentlichkeit explodiert ist. Denn normalerweise halten sich Lehrerinnen und Lehrer mit öffentlicher Kritik an den Zuständen in der eigenen Schule zurück. Weil sie das müssen.

Sarah Knüsel hält fest, dass für die übergeordnete Kommunikation gegen aussen immer die Schulleitungen oder die Schulbehörden zuständig seien. «Wenn eine Lehrperson sich dagegen wendet, verstösst sie damit gegen das Loyalitätsprinzip.» Dies könne in gravierenden Fällen zur Entlassung führen.

Der Aushilfslehrer, der die Zustände in Schlieren anprangerte, liess sich davon nicht schrecken. Ob er recht hatte, sei dahingestellt. Aber der schrille Missklang, der dabei zum Ausdruck kam, wird auch in anderen Schulen auf Resonanz stossen.

Exit mobile version