Sonntag, September 29

Der Effekt auf die Erwerbstätigkeit der Frauen könnte kleiner sein als angenommen und hängt an mehr als ein paar Steuerprozenten.

«Mein Mann und ich sollten uns scheiden lassen», sagte eine Kollegin vor einiger Zeit. Geschieden würden sie pro Jahr 20 000 Franken Steuern sparen, setzte sie verärgert hinzu. Das Paar hat ein Kind im Teenageralter, beide sind gut ausgebildet und verdienen entsprechend. Die sogenannte Heiratsstrafe kommt bei ihnen voll zum Tragen. Vor einer Scheidung schreckte die Kollegin dennoch zurück. Stattdessen reduzierte sie ihr Arbeitspensum auf 60 Prozent. So sank die Steuerlast der Familie zumindest ein bisschen.

Politischer Dauerbrenner

Dass eine Heiratsstrafe ungerecht ist, darüber besteht in der Schweiz ein breiter Konsens. Mit der Individualbesteuerung, die beide Ehepartner separat veranlagt, würde sie abgeschafft. Die Besteuerung wäre zivilstandsneutral – ob jemand verheiratet ist oder nicht, würde keine Rolle mehr spielen.

Die Debatte ist ein politischer Dauerbrenner. Bereits 1984 urteilte das Bundesgericht, dass verheiratete Paare in bestimmten Fällen gegenüber Einzelpersonen benachteiligt seien. Seit Jahren wird deshalb über die Abschaffung der Heiratsstrafe diskutiert. Der Nationalrat will am 25. September über den indirekten Gegenvorschlag des Bundesrates entscheiden, den dieser zur 2022 eingereichten Initiative der FDP-Frauen zur Individualbesteuerung erarbeitet hat. Der Gegenvorschlag sieht unter anderem bei der Bundessteuer einen von 6700 Franken auf 12 000 Franken pro Kind erhöhten Freibetrag vor sowie eine Anpassung des Steuertarifs, bei der die Steuersätze für tiefe und mittlere Einkommen abgesenkt und jene für sehr hohe Einkommen leicht erhöht werden.

Wie macht es das Ausland? Viele europäische Länder sind in den letzten Jahrzehnten von der Gemeinschaftsbesteuerung zur Individualbesteuerung übergegangen. Die Diskussionen verliefen entlang derselben Linien wie in der Schweiz: Es ging um die Förderung der Gleichstellung von Mann und Frau und um bessere Arbeitsanreize für Zweitverdiener, deren Erwerbsarbeit nicht durch das Erreichen einer höheren Steuerprogression bestraft werden sollte.

Schweden fing früh an

Eine Vorreiterin war Schweden, wo die Individualbesteuerung bereits 1971 partiell eingeführt wurde. Seit 2007 werden dort sowohl die Einkommen als auch die Vermögen völlig individuell besteuert. Schweden gilt als Land, in dem die Gleichstellung von Mann und Frau gesellschaftlich relativ früh aufgenommen wurde. Heute gilt das Land mit der hohen Erwerbsquote der Frauen vielen als Vorbild in Sachen Gleichberechtigung.

Auch in Grossbritannien, den Niederlanden, Dänemark und Österreich werden Ehepaare separat veranlagt. Das katholische Italien, Ungarn, aber auch Tschechien und Estland haben ebenfalls eine Individualbesteuerung eingeführt. Um Familien zu unterstützen, werden Ehepaaren je nach Land Abzüge unterschiedlicher Art gewährt.

Die Schweiz ist ein doppelter Sonderfall

Neben der grossen Gruppe der «progressiven» Länder gibt es einen kleineren Kreis von Ländern mit gemeinsamer Veranlagung. Dazu gehören das katholische Polen und Luxemburg. Auch Deutschland hat eine Ehepaarbesteuerung, wobei sich Paare auf Wunsch auch einzeln besteuern lassen können. Frankreich besteuert ebenfalls gemeinsam, speziell dabei ist, dass nach Zahl der Familienmitglieder gesplittet wird. Dies wirkt wie eine aktive Familienpolitik, da die Steuerlast mit der Zahl der Kinder sinkt.

Tendenziell begünstigt die gemeinsame Veranlagung eine traditionelle Rollenteilung, da ungleiche Einkommen nivelliert werden. In Deutschland hält sich die Aufregung über den Anti-emanzipatorischen Effekt des Splittings übrigens in Grenzen. Der Grund liegt im Portemonnaie: Ehepaare werden in Deutschland grundsätzlich eher bevorzugt behandelt.

Die Schweiz ist im europäischen Umfeld ein doppelter Sonderfall. Erstens zählt sie zum kleineren Kreis der Länder mit Ehepaarbesteuerung. Zweitens kann die Heiratsstrafe nicht umgangen werden, indem Steuerpflichtige wie in Deutschland oder auch Spanien ihr bevorzugtes Modell wählen können. Eine Heiratsstrafe gibt es ausser in der Schweiz noch in Griechenland und Zypern.

Fairerweise muss man allerdings auch sagen, dass es in der Schweiz nicht nur eine Heiratsstrafe gibt, sondern auch einen Heiratsbonus. Zum einen haben Verheiratete einen günstigeren Steuertarif als Alleinstehende und Konkubinatspartner ohne Kinder. Und zum anderen gibt es einen Steuerabzug für Zweitverdiener. Gemäss einer Analyse des Instituts für Wirtschaftspolitik (IWP) der Universität Luzern von diesem Frühling sind bei der direkten Bundessteuer lediglich 29 Prozent der Ehepaare steuerlich gegenüber Konkubinatspaaren benachteiligt, während 46 Prozent sogar einen Heiratsbonus geniessen. Das sind vor allem traditionell organisierte Familien mit ungleichen Einkommen.

Die Menschen sind schneller als die Politik

Die Bevölkerung findet angesichts der langsam agierenden Politik ihre eigenen Wege. Seine Partnerin und er würden einfach nicht heiraten, sagt ein zweifacher Vater, der ebenso wie seine Partnerin mit einem hohen Pensum Teilzeit arbeitet und damit zu den «modernen» Paaren mit egalitärem Lebensmodell zählt. Mit dem Verzicht auf den Trauschein praktiziert das Paar selbst gewählt die Individualbesteuerung.

Mit dem Entscheid gegen eine Heirat ist das Paar nicht allein. Unabhängig von der Individualbesteuerung haben sich die Lebenswirklichkeiten der Menschen bereits deutlich geändert. Die Ehe hat als Institution an Bedeutung verloren. Jedes fünfte Kind wird im Konkubinat geboren. Tendenziell entscheiden sich vor allem jene Paare für ein Konkubinat, in denen beide berufstätig und finanziell unabhängig sind und es auch bleiben wollen.

Doch es gibt auch traditionelle Paare – selbst wenn es weniger werden. Ein Vater, durchaus kein Hinterwäldler, erzählt, dass seine Frau und er bewusst entschieden hätten, die Kinder in ihren ersten Lebensjahren nicht fremdbetreuen zu lassen. Dafür hätte die Familie während einiger Jahre auf das Einkommen seiner Frau verzichtet. Er wisse nicht, warum das schlechter sein solle. Es sei nicht am Staat, steuerlich das eine oder das andere Familienmodell zu bevorzugen, findet er – und ist mit dieser Ansicht nicht allein.

Bei der Individualbesteuerung gibt es aber keine Neutralität gegenüber dem Lebensmodell: Ein Paar, bei dem beide 50 Prozent arbeiten, wird bessergestellt als ein Paar, bei dem ein Alleinverdiener das gleiche Einkommen erzielt. Auch solche Überlegungen sind ein Grund, warum die Schweiz den Systemwechsel nicht ohne weiteres vollzieht.

Die Frauen arbeiten mehr – trotz Steuersystem

Nicht eindeutig klären lässt sich, wie stark die Individualbesteuerung die Zweitverdiener, sprich die Frauen, dazu animiert, mehr zu arbeiten. Der Bundesrat schätzte den Beschäftigungseffekt eines Systemwechsels in seiner Botschaft zur Volksinitiative und zum indirekten Gegenvorschlag auf 10 000 bis 44 000 Vollzeitstellen.

In der jüngsten Debatte im Nationalrat äusserten aber mehrere Gegner Zweifel an dieser Schätzung. Das Luzerner IWP geht von geringeren Effekten aus. Lediglich 4450 Personen würden neu in den Arbeitsmarkt eintreten, berechnete das Institut in einer im April veröffentlichten Studie. Das ist nicht nichts, aber bei 5,3 Millionen Erwerbstätigen in der Schweiz auch nicht viel.

Der begrenzte Effekt mag daran liegen, dass sich die Position der Frauen am Arbeitsmarkt ohnehin stark verändert hat. Statt am Herd zu stehen, arbeiten die Frauen mehr und in höheren Pensen als noch vor zwanzig Jahren. Das heisst aber auch, dass das Arbeitskräftepotenzial, das man mit besseren Anreizen für Zweitverdiener auszuschöpfen hofft, möglicherweise weniger gross ist als angenommen.

Zudem dürfte der Entscheid, mehr oder weniger zu arbeiten, am Ende nur teilweise an den steuerlichen Progressionsprozenten hängen. Entscheidender sind wohl Fragen wie: Wieviel Arbeit verträgt sich mit meinen Familienaufgaben? Wieviel Geld brauchen wir? Wieviel Erfüllung finde ich in der Arbeit und wie viel Zeit möchte ich mit den Kindern verbringen?

Damit dürfte immerhin der demografische Trend hin zu kleineren Familien künftig die Erwerbstätigkeit ankurbeln. «Der Wunsch nach Kindern ist auf der Prioritätenliste nach unten gerutscht und wird in die Zukunft verschoben, während die eigene Karriere und die finanzielle Unabhängigkeit für viele Frauen wichtiger geworden sind», sagt die Professorin Katja Rost, Ordinaria für Soziologie an der Universität Zürich. Kinder können dieses Konzept ins Wanken bringen. Das Ausbleiben der Kinder kann am Ende sogar den grösseren Effekt auf Arbeitsmarkt, Einkommen und Gleichstellung haben als die Einführung der Individualbesteuerung.

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