Dienstag, November 5

Ob Sardinien, Okinawa oder das griechische Ikaria: In den «Blauen Zonen» sollen besonders viele 100-Jährige leben. Wissenschafter forschen weltweit intensiv, was wir daraus über gesundes Altern lernen können. Saul Newman aus Oxford sagt: Nichts.

Die Idee ist simpel und verlockend romantisch: An fünf besonderen Orten weltweit leben die Menschen ein aktives und gesundes Leben, bis sie weit über 100 Jahre alt sind. Die Orte sind fern und warm, leicht exotisch – aber nicht allzu fremd, sondern da, wo man gerne Ferien macht. Dazu gehören Sardinien, das griechische Ikaria, die Halbinsel Nicoya in Costa Rica. Aussergewöhnlich rüstig sind auch die Alten in der Präfektur Okinawa in Japan und im kalifornischen Loma Linda.

Die Menschen in den Blauen Zonen leben so lange und gut, weil sie intuitiv simplen Regeln folgen, die jeder befolgen kann: Sie essen wenig Fleisch, viel Gemüse und haben viel Freizeit, die sie mit Freunden, Familie und Nachbarn verbringen.

Die fünfteilige Netflix-Dokumentation, unzählige Bücher und Diätproduktpaletten zeichnen ein idyllisches Bild: Runzlige Alte sitzen braungebrannt im Schaukelstuhl, halten ein Schwätzchen mit dem Nachbarn und betrachten den kitschig-roten Sonnenuntergang in Nicoya, Costa Rica. Oder sie wedeln jeden Tag liebevoll die Raupen von ihren Süsskartoffelpflanzen in ihren üppig-tropischen Gärten in Okinawa, Japan.

Es gibt sogar eine millionenschwere Firma, die Blue-Zone-Zertifikate an Gemeinden und Städte verkauft – mithilfe der Vision jenes märchenhaft verlaufenden letzten Lebensviertels.

Nun ruiniert der australische Forscher Saul Newman dieses schöne Bild. Er sagt: «Die Geschichte um die Blauen Zonen als Bastionen der Gesundheit ist zu gut, um wahr zu sein.»

Der Australier forscht am britischen Oxford Institute for Population Ageing und hat 2019 eine Studie veröffentlicht, die postuliert: Diese Regionen, in denen besonders viele 100-Jährige leben, haben vor allem eines gemeinsam – und das ist nicht das hohe Alter. «Die Menschen dort sind im Vergleich zu anderen Regionen des Landes arm und haben eine tiefere Lebenserwartung. Und die Qualität der Aufzeichnungen ist haarsträubend schlecht.»

Viele Uralte sind schon lange tot

Mit einfachen Worten: Viele vermeintlich Uralte in den Blauen Zonen sind nur auf Papier so alt. Oder schon lange tot. «Es ist auf eine dunkle Weise lustig», sagt Newman, der mit Wuschelhaar und Bart ein wenig verzweifelt in die Computerkamera blickt.

Newman hat eindrückliche Argumente, die Altersforscher weltweit theoretisch sehr interessieren müssten – schliesslich arbeiten sie häufig auf Grundlage von demografischen Daten, die Newman eine «Anhäufung von Schrottdaten» nennt.

Zum Beispiel Costa Rica: Dort habe man schon 2008 aufgedeckt, dass 42 Prozent der Bevölkerungsdaten falsch seien, und sämtliche Geburtsurkunden für ungültig erklärt. Seitdem man das korrigiert habe, sei die vermeintlich hohe Anzahl hochaltriger Menschen sogar auf ein besonders tiefes Niveau gesunken – trotzdem zähle man Costa Rica noch immer zu den Langlebigkeits-Hotspots.

Okinawa? Hier stimme im Grunde gar nichts, der Zweite Weltkrieg habe sämtliche Dokumente zerstört. Die Altersdaten rekonstruierten die Amerikaner ohne Japanischkenntnisse und mit einem fremden Kalendersystem.

Sardinien? Dort lebten im Vergleich zum Rest Italiens nur sehr wenige Menschen über 90, dafür aber seltsamerweise sehr viele 100-Jährige – es kann also etwas nicht stimmen.

Ein Journalist erfand den Begriff Blaue Zone

Doch Newmans Studie ist noch in keinem wissenschaftlichen Journal veröffentlicht und deshalb noch nicht von Fachleuten bewertet und diskutiert worden. Warum das so sei, verstehe er selbst nicht, er sei offen für Kritik. «Mir kommt es vor wie absichtsvolle Ignoranz, weil ich die Altersforschung angreife.» Immerhin hat Newman mit seinem wissenschaftlichen Paper den satirischen Ig-Nobel-Preis gewonnen. Ein Preis für Forschung, «die erst zum Lachen und dann zum Nachdenken bringt».

Um herauszufinden, wie viel an Newmans Kritik dran ist, lohnt sich der Blick auf die «Entdeckung» der Blauen Zonen. Zum ersten Mal tauchte der Begriff in einer Studie im Jahr 2004 auf, in der Forscher einen blauen Stift nutzten, um bestimmte Zonen auf Sardinien einzukringeln. In der Studie stellten sie die Überlegung auf, dass die Häufung extrem alter Menschen mit dem hohen Grad an Inzest zusammenhängen könnte, der aufgrund der isolierten Insellage entstanden sei – eine, nun ja, nicht unbedingt naheliegende These.

Daraufhin griff der amerikanische Journalist Dan Buettner den Begriff der Blauen Zonen für einen Artikel in der «National Geographic» auf, in dem er die ausserordentliche Langlebigkeit der Menschen in Okinawa, Sardinien und im kalifornischen Loma Linda beschrieb. Der Journalist stellte die Theorie auf, dass die Langlebigkeit dieser Menschen mit ihrer Lebensweise zusammenhänge.

Die Blauen Zonen sind lukrativ

Und dann ging es los: Die Idee wurde populär, es erschienen in zwanzig Jahren Hunderte Studien zu dem Thema. Dan Buettner tat sich mit Demografen und Altersforschern zusammen und gründete eine Firma. Er nannte die gesunden Verhaltensweisen, die zu Langlebigkeit führen sollten, griffig «Power 9 Principles».

Buettner und sein Team haben auf seiner Website mit einem Brief auf Saul Newmans Kritik geantwortet. Darin bekräftigen sie die Seriosität ihrer Arbeit, die sowohl auf offiziellen Bevölkerungsdaten beruhe als auch auf eigenen Datenvalidierungen mithilfe von Reisen und Kirchenregistern. Doch Loma Linda fehlt – und Buettner gab später gegenüber der «New York Times» zu, dass der Ort nur zu den Blue Zones hinzugezählt worden sei, weil sein damaliger Redaktor bei «National Geographic» sich eine amerikanische Zone gewünscht habe.

«Sie sahen, was sie sehen wollten», sagt Saul Newman. Der Australier hat sich tief in die Materie hineingewühlt – dabei ist seine Leidenschaft für die Uralten eher Zufall. Er hat einen Doktor in Medizin, arbeitete aber längere Zeit als Pflanzengenetiker. Immer wieder hat er aus Interesse Studien über hohes Alter gelesen – und war entsetzt über die seiner Meinung nach extreme Häufigkeit statistischer Fehler und Seltsamkeiten, die niemand zu hinterfragen schien. Und dann packte es ihn – und er überprüfte die demografischen Daten, recherchierte zu einem grossen Teil der über 100-Jährigen auf eigene Faust nach.

Der älteste Mann Tokios war eine Mumie

Newman zerrte morbide Geschichten ans Licht: Immer wieder wollten Stadtbeamte dem ältesten Mann Tokios zu seinem Geburtstag gratulieren. Dann fanden sie ihn als 30 Jahre alte Mumie in seinem Bett. Verwandte hatten seine Pension kassiert. Ein anderer extrem alter Mann in Japan galt als der älteste Mann der Welt. «Ich fand heraus, dass er keine Geburtsurkunde hatte, mehrfach seinen Namen gewechselt und mindestens drei Mal die gleiche Frau geheiratet hatte – ohne Scheidung dazwischen. Jede Dokumentation seiner Daten war völliger Nonsens», sagt Newman.

Nüchtern fasst er zusammen: «Ich stellte fest, dass diese angeblichen Zentren der Hochaltrigkeit aufgrund der Armut eher Zentren dokumentierter Fälle von Pensionsbetrug sind.»

Unabhängige Analysen bestätigen seinen Eindruck. Die japanische Regierung hat 2010 eine Erklärung herausgegeben, dass mehr als 230 000 100-Jährige nicht auffindbar seien – vermutlich aufgrund fehlender Sterbemeldungen. Das Alter vieler 100-Jähriger könne ausserdem nicht zweifelsfrei bestätigt werden. «Dabei galten die japanischen Daten noch 2008 als die besten der Welt», fügt Newman hinzu. Auch die Probleme mit den Geburtsurkunden in Costa Rica sind offiziell bestätigt.

Laut Newman ist es ein bekanntes Phänomen, dass Menschen ein sehr hohes Alter angeben, wenn sie gefragt werden. Führe ein Staat allerdings die Erhebung demografischer Daten ein, stellten sich die Greise häufig als gar nicht so greis heraus. Wie zum Beispiel in den USA: Dort fiel die Zahl der über 110-Jährigen rapide ab, nachdem flächendeckend Geburtsurkunden eingeführt worden waren.

Dosenfleisch ist mein Gemüse

Besonders eindrucksvoll wird Newmans Argumentation, wenn es um Okinawa geht. Der Blue-Zone-Entdecker Buettner argumentierte, dass die Gemeinsamkeit der Blauen Zonen ihr Lebensstil sei: viel Bewegung, viel Gemüse, ein ausgeprägter Lebens- und Gemeinschaftssinn, wenig Fettleibigkeit. Diese «Power Principles» verkaufen sich in vielfältiger Form, zum Beispiel als Tee oder Bohnensuppe. Doch Newman zeigt in seiner Studie, dass die Menschen in Okinawa diese Verhaltensweisen gar nicht leben. Zum Beispiel ist eines der «Power Principles», dass die Menschen sich durch natürliche Bewegung wie Gärtnern fit halten.

Laut den Daten der japanischen Statistikbehörde sind die Menschen in Okinawa die dicksten aller Präfekturen. Und fast überall in Japan hat man mehr Zeit zum Gärtnern als in Okinawa:

Weiter sei die Ernährung in den Blauen Zonen von Gemüse und Bohnen geprägt. Fleisch gebe es nur etwa fünf Mal im Monat – etwa sechs Kilo im Jahr. In Fernsehdokumentationen über Okinawa wird oft hervorgehoben, wie zentral Algen und Seegurken für die Ernährung in Okinawa seien.

Doch die japanischen Datenerhebungen geben das nicht her: «Die Menschen in Okinawa essen sogar häufig ‹Spam› – Schweinefleisch aus der Dose – und besonders wenig Gemüse für Japaner», sagt Newman.

Ausserdem heisst es bei Buettner: «100-Jährige stellen ihre Familie an die erste Stelle.» Auch daran halten sich die Leute in Okinawa nicht besonders: Auf den Inseln leben besonders viele Alleinerziehende und für eine ländliche Region verhältnismässig viele allein lebende Menschen.

Newmans Argumente klingen plausibel. Doch warum greifen etablierte Altersforscher Newmans Studie nicht auf? «Der Anspruch von Herrn Newman, die Blaue-Zonen-Konzepte zu überprüfen, ist wertvoll», sagt Heike Bischoff-Ferrari. «Aber ich halte einen Paradigmenwechsel in der Langlebigkeitsforschung für verfrüht. »

Altersforscher sind nicht begeistert

Die Professorin für Geriatrie und Altersforschung an der Universität Zürich gibt zu bedenken, dass die positive Wirkung von Faktoren wie körperlicher Aktivität, mässiger Kalorienzufuhr und sozialer Interaktion durch unabhängige Forschungsliteratur belegt sei. Sie fordert zudem, zu berücksichtigen, dass das Blaue-Zonen-Team die Bevölkerungsdaten vor Ort überprüft habe. «Diese fehlende Sorgfalt in Herrn Newmans Studie lässt bei mir den Eindruck einer vorgefassten Meinung entstehen», sagt sie.

Daniela Jopp, Altersforscherin und Professorin für Psychologie an der Universität Lausanne, bezweifelt, dass es derart viel Pensionsbetrug gibt. Sie hält es für fragwürdig, dass Newman aus der Armut der Menschen in den Blauen Zonen schliesst, sie betrögen besonders häufig den Staat. «Nur weil zwei Dinge gleichzeitig auftreten, heisst es nicht, dass es kausale Zusammenhänge gibt», sagt sie.

Doch damit beschreiben Bischoff-Ferrari und Jopp eben genau jene Probleme, die auch die Blaue-Zonen-Forschung zu betreffen scheinen: vorgefasste Meinungen und das Beschreiben von Zusammenhängen, die nicht belegt sind.

Lebensstil-Forschung beruht auf Beobachtungen

«Mich erinnert das alles ein bisschen an die Diskussion um die wissenschaftlich nicht als sehr solide geltende Ernährungswissenschaft», sagt Leonhard Held, Professor für Biostatistik an der Universität Zürich.

Alle diese Datenerhebungen zum Lebensstil und zur Gesundheit in den Blauen Zonen beruhten ja nicht auf wissenschaftlichen Studien unter kontrollierten Bedingungen, es seien nur Beobachtungen. «Deshalb scheint mir Newmans Kritik auch ohne Kenntnis der Studienlage in der Altersforschung prinzipiell plausibel und nicht überraschend.»

Den Vorwurf, Newman sehe Zusammenhänge, wo keine seien, kann man exakt so den Blaue-Zonen-Verfechtern zurückgeben: Wenn in einer Region besonders viele Störche nisten und gleichzeitig besonders viele Kinder geboren werden – dann kann man daraus nicht schliessen, dass der Storch die Babys bringt. Das Gleiche gilt, wenn in einer Region viele Menschen scheinbar besonders alt werden und viel Olivenöl essen. Das eine muss mit dem anderen nicht zusammenhängen.

Saul Newman, der Besessene, hat derweil schon eine neue Idee, die seine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt: Er will eine Technologie entwickeln, die endlich Gewissheit über das biologische Alter bringt. «Ich möchte eine Methode finden, die mit einfacher DNA-Untersuchung das Alter eines Menschen belegen kann. Dann lassen wir uns hoffentlich weniger von romantischen Ideen korrumpieren. »

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