Dienstag, November 11

Wenn sich Israel nicht ernsthaft um den «Tag danach» bemüht, wird es diesen womöglich nie geben. Für den jüdischen Staat und die Region wäre dies fatal. Doch auch andere müssen mit anpacken.

Alle Augen sind in diesen Tagen auf Rafah gerichtet. Seit Anfang Mai rückt Israels Armee langsam, aber stetig auf die südlichste Stadt im Gazastreifen vor und empört damit nicht nur Aktivisten, sondern auch westliche Regierungen und internationale Gerichte. Aus Sicht der Kritiker stehen nicht nur ein Blutbad und eine humanitäre Katastrophe, sondern die Vollendung des «Genozids» an den Palästinensern bevor. In Israel hingegen wird die Rafah-Offensive mitunter zur letzten Schlacht des Krieges stilisiert, in der es nur noch die verbleibenden Hamas-Bataillone zu zerschlagen gebe, bevor dann endlich alles gut werde.

Beide Seiten machen es sich zu einfach. Es stimmt, dass die palästinensische Zivilbevölkerung akut gefährdet ist, dass sie geschützt und versorgt werden muss. Das gilt aber nicht nur für Rafah, sondern für das ganze Gebiet. Die humanitäre Lage in Gaza wird während Monaten, wenn nicht auf Jahre hinaus gewaltige Anstrengungen erfordern.

Es stimmt ebenso, dass die Terroristen der Hamas in Rafah nach wie vor eine starke militärische Präsenz haben. Insofern ist Rafah ein legitimes militärisches Ziel, so wie auch die Zerstörung der Hamas nach dem grausamen Massaker vom 7. Oktober ein legitimes Ziel Israels ist. Doch auch eine Rafah-Offensive wird die Hamas nicht aus der Welt schaffen – mit militärischen Mitteln allein wird das nicht möglich sein. Vielmehr deutet derzeit vieles darauf hin, dass in Gaza ein Krieg ohne Ende droht.

Netanyahu zögert und zaudert

Das weiss auch US-Präsident Joe Biden, der am Freitag einen «Friedensplan» vorgestellt hat. Ob dieser zu einem Ende des Krieges führen kann, ist fraglich – denn er beantwortet die Frage nicht, was mit der Hamas und ihrer Herrschaft geschehen soll. Die Hamas denkt nicht daran, ihre Macht abzugeben. Wie hartnäckig sie sich hält, zeigt sich derzeit im Norden des Gazastreifens. In den vergangenen Wochen musste die israelische Armee (IDF) wiederholt in Gebiete zurückkehren, aus denen sie die Terroristen vermeintlich vertrieben hatte. Die heftigen Kämpfe kosteten mehrere israelische Soldaten das Leben.

Dass die IDF überhaupt in diese Situation gerieten, hat einerseits mit taktischen Entscheidungen der Armee zu tun – nach dem Ende der Kämpfe in einem Gebiet zogen die Truppen jeweils wieder ab, ohne es zu sichern. Doch in erster Linie waren es politische Entscheide beziehungsweise das Fehlen ebendieser, die den Krieg an diesen Punkt gebracht haben. Denn Benjamin Netanyahu weigert sich partout, Pläne für die Zukunft des Gazastreifens vorzulegen.

Die Hinhaltetaktik des Ministerpräsidenten hat zu einer regelrechten Krise im dreiköpfigen Kriegskabinett, dem wichtigsten Gremium der Regierung, geführt. Verteidigungsminister Yoav Gallant wirft ihm öffentlich vor, seine Vorschläge für die Schaffung einer Alternative zur Hamas-Verwaltung seit Monaten zu ignorieren. Auch der Oppositionspolitiker Benny Gantz ging jüngst auf Konfrontationskurs, nachdem er sich lange zurückgehalten hatte. Netanyahu müsse sich bis zum 8. Juni zu einem Nachkriegsplan verpflichten, sagte Gantz, sonst verlasse er das Kabinett. Natürlich verfolgt er dabei Eigeninteressen: Der derzeit beliebteste Politiker im Land kann Neuwahlen kaum erwarten. Dennoch ist eine Strategie für den Tag nach dem Krieg nicht einfach «nice to have», sondern zwingend geboten.

Unentschlossenheit kann sich Israel nicht leisten

Doch Netanyahu beschränkt sich seit Monaten auf die immergleichen martialischen Parolen, schwadroniert vom «totalen Sieg» über die Hamas, ohne diesen näher zu definieren. Um den «Tag danach» werde man sich kümmern, wenn dieser dereinst eingetroffen sei, lässt er verlauten. Der Ministerpräsident ist ein Gefangener seiner Koalition. Gantz kann ihm nicht gefährlich werden, sehr wohl aber die rechtsextremen Regierungspartner, die ihrerseits durchaus konkrete Pläne hegen.

Die religiösen Eiferer sehen in militärischer Härte, einer jüdischen Wiederbesiedlung des Gazastreifens und der «freiwilligen Emigration» (sprich: Vertreibung) der Palästinenser den einzigen Weg in die Zukunft. Netanyahu will ihre Unterstützung und damit seine Macht nicht riskieren – und schiebt deshalb die grossen strategischen Entscheidungen auf unbestimmte Zeit hinaus. Doch Israel kann sich eine solche Unentschlossenheit nicht leisten.

Im Wesentlichen hat der jüdische Staat drei Optionen. Erstens: eine langfristige Besetzung des Gazastreifens. Zweitens: eine Rückkehr zum Status quo ante – die Truppen zögen ab, Gaza würde sich selbst oder einer von Israel eingesetzten, schwachen Palästinenserregierung überlassen, während Israel von aussen die Bekämpfung der Hamas fortsetzen würde. Drittens: Israel verständigt sich mit seinen Partnern auf die Einsetzung einer multinationalen Friedenstruppe, die eine Alternative zur Hamas-Regierung aufbaut.

In den ersten beiden Szenarien bliebe Gaza nicht nur ein Trümmerhaufen, sondern ein Hort der Radikalisierung und des Terrors. Weder hätte jede von Israel eingesetzte Nachfolgeregierung das Vertrauen der Bevölkerung, noch bestünde sie lange gegen die Überreste der nach wie vor populären Hamas. Israel müsste während Jahren kaum kalkulierbare finanzielle, militärische, politische und diplomatische Ressourcen in dieses Problem stecken, während es international isoliert bliebe.

Profitieren würde nicht nur die Hamas, sondern in erster Linie Iran. Für das Regime in Teheran ist ein Israel, das sich im Gazastreifen verheddert, kontinuierlich internationale Sympathien einbüsst und sich mit den USA verkracht, ein Geschenk. Der Wunsch, sich selbst als Regionalmacht im Nahen Osten zu etablieren und sämtliche westlichen Einflüsse zurückzudrängen, würde sich fast wie von selbst erfüllen. Und der «Ring des Feuers», den Iran mit seinen Milizen um Israel gelegt hat, würde noch gefährlicher.

Eine Friedenstruppe ist kein Selbstläufer

Daran können weder die Israeli, die Amerikaner, die Europäer noch die arabischen Nachbarn und die Golfstaaten ein Interesse haben. Als halbwegs erfolgversprechendes Szenario bleibt somit eigentlich nur die Bildung einer multinationalen Einsatztruppe mit internationalem Mandat, die irgendwann, wenn sich die Lage stabilisiert hat, die Verantwortung an eine palästinensisch geführte Instanz übergibt. Dafür einen wie auch immer gearteten «Sieg» über die Hamas abzuwarten, ist illusorisch. Die Zeit, sich um eine stabile Nachkriegsordnung zu kümmern, ist jetzt.

Die Bildung einer solchen Truppe wird freilich kein Selbstläufer sein. Es wird harte Verhandlungen brauchen, diplomatisches Fingerspitzengefühl, Strategie- und Positionspapiere. Und auch wenn man sich dereinst einig wird, ist der Erfolg nicht garantiert. Die Hamas wird alle Bemühungen von externen Mächten, eine neue Verwaltung aufzubauen, erbittert bekämpfen. Zwar sind ihre militärischen Fähigkeiten nach acht Monaten Krieg stark dezimiert. Aber als Guerillatruppe, die mit der Bevölkerung verschmilzt und jederzeit zuschlagen kann, wird sie einen langen Atem haben – und bleibt damit brandgefährlich.

Jede Friedenstruppe stünde also vor gewaltigen Herausforderungen: Sie müsste nicht nur ihre eigene, sondern vor allem auch Israels Sicherheit garantieren können. Dazu müsste sie eigene Polizei- und Anti-Terror-Einheiten einsetzen. Gleichzeitig müsste sie, um die Terroristen entscheidend zu schwächen, eine effiziente Verwaltung aufbauen, die das Vertrauen der palästinensischen Bevölkerung gewinnen und sich als echte Alternative zur Hamas-Herrschaft präsentieren kann. Dies nähme massive personelle und finanzielle Ressourcen in Anspruch. Sollte die Truppe damit scheitern, nähme Israel den Kampf gegen die Islamisten wieder auf.

Die Vorzeichen stehen nicht allzu gut, zumal sich etwa die Herrscher am Golf und die Europäer zwar öffentlichkeitswirksam um die Palästinenser sorgen, aber darüber hinaus kaum konstruktiv in Erscheinung treten. Zudem wird die Hamas alles unternehmen, um den Prozess zu sabotieren. Dennoch wäre es ein Fehler, wenn man jetzt nicht alle Hebel in Bewegung setzen und es versuchen würde.

Zwei gute Nachrichten

Mit Sicherheit wird ein solcher Prozess allen Beteiligten schmerzhafte Kompromisse abverlangen. Auch Israel wird über seinen Schatten springen müssen – doch wäre es wirklich so schlimm, den Friedensprozess mit den Palästinensern wiederzubeleben, wenn im Gegenzug eine Normalisierung der Beziehungen mit Saudiarabien winkt, eine Bündelung der Kräfte gegen Iran?

Es scheint klar, dass die derzeitige Netanyahu-Regierung zu solchen Kompromissen nicht fähig ist. Doch es gibt zwei gute Nachrichten: Erstens verstehen führende Köpfe in Israel den Ernst der Lage und verfügen über strategische Weitsicht, die über die eigenen Machtinteressen hinausgeht. Zweitens hat Israel als einzige Demokratie im Nahen Osten funktionierende Institutionen und eine Bevölkerung, die Kurskorrekturen verlangen und durchsetzen können. Erste Anzeichen für einen Wandel gibt es – doch die Zeit wird knapp.

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