Sonntag, November 24

Die Karten sind unvollständig, Seezeichen fehlen gänzlich, und die Versorgung gestaltet sich schwierig. Dennoch wagen sich Segler in die weitverzweigten Adern des Bijagos-Archipels vor Guinea-Bissau. Eine solche Reise formt die Seefahrer nachhaltig.

Hinter einem Dunstschleier erhebt sich die Sonne und offenbart meinen Ankerplatz. Eine Insel, eine halbe Seemeile entfernt. In der Dunkelheit der vergangenen Nacht habe ich mich ihr genähert und dabei allein auf GPS und Echolot vertraut. Bei fünf Metern Tiefe liess ich die Kette ausrauschen und hoffte, am richtigen Ort zu sein.

Im fahlen Licht des Morgens scheint die Insel auf dem trüben Wasser zu schweben. Ein schmaler Streifen weissen Sandes bildet die Uferlinie. Dahinter liegt dunkel und dicht der Urwald. Palmkronen ragen vereinzelt aus ihm heraus. Ihr Name ist Orangosinho. Sie ist die erste von 88 Inseln und Inselchen der Bijagos, die ich sehe. Der Archipel liegt vor der Küste Guinea-Bissaus im Westen Afrikas. Für mich und die sechs anderen Jachten meiner Begleiter, die hier ankern, ist es unbekanntes Gewässer.

Nur wenige verirren sich hierher

Wir, die wir beschlossen haben, von den Kapverden als kleine Flotte nach Guinea-Bissau zu segeln, nennen unsere Reise eine Expedition. Die Bijagos liegen weit abseits der üblichen Routen des Jachttourismus. Die meisten Segler steuern von den Kapverden die Karibik an. Sie segeln nach Westafrika, dann nach Senegal, oder sie fahren den Gambia-Fluss hoch. Nur wenige verirren sich in die verzweigten Adern dieses Archipels.

Denn die Gewässer vor und zwischen den Inseln sind nur unzureichend oder gar nicht kartografiert, es fehlen überdies Seezeichen. Die Flut drückt riesige Mengen Wasser ins Delta, und wenn die Gezeit ihre maximale Stärke erreicht, ist es, als beführe ich einen Fluss mit reissender Strömung. Die Ebbe saugt das Wasser mit gleicher Gewalt wieder zurück ins Meer. Sandbänke tauchen auf, Wellen brechen darüber.

Bijagos-Archipel: 88 Inseln vor der Küste Guinea-Bissaus

Unachtsamkeit ist gefährlich

Auf dem Weg tiefer hinein in den Archipel war ich einmal unachtsam und ging für ein paar Minuten unter Deck. Ich kreuzte am Wind. Das Boot lief mit der Strömung, die Fahrt war berauschend. Als ich mich wieder umsah, brodelte das Wasser über einer Untiefe keine hundert Meter voraus. Ich riss das Steuer herum und wendete, so schnell es ging. Die Karte zeigte die untiefe Stelle nicht. Ich ärgerte mich über meine Nachlässigkeit. Auf den Bijagos auf Grund zu laufen, kann mehr als nur ein Missgeschick bedeuten.

Ich bin schon in schwierigen Gewässern gesegelt. Die felsigen Küsten der Bretagne beispielsweise vergeben keinen Fehler. Und an der Küste Englands und der Normandie gibt es Stellen, wo die Gezeitenströme das Meer in reines Wildwasser verwandeln und man das Beten lernt. Die Biskaya ist berüchtigt für ihre Westwindstürme. Aber der Segler ist dort nie gänzlich allein. Hier bin ich allein. Würde ich über Funk einen Hilferuf absetzen, es gäbe keine Antwort. Würde ich Reparaturen durchführen müssen, ich fände nicht, was ich brauchte.

Wer die Bijagos besegelt, muss autark sein. Ich bin es als Ozeansegler gewohnt, das Rigg, den Motor und die Segel täglich zu kontrollieren. Aber hier ist es anders. Ich muss nicht allein ständig die Tiefe loten, sondern vor allem die Gezeiten verstehen, für die es hier keine verlässlichen Tabellen gibt. Ich muss lernen, die Strömung, ihre Stärke und ihre Richtung zu lesen.

Freiheit jenseits der Elektronik

Das ist spannender, als einem GPS zu folgen. Meine Aufmerksamkeit gibt mir auch das Gefühl einer gewissen Unabhängigkeit. Es ist, als gäbe es eine besondere Freiheit jenseits der elektronischen Navigation. Ich erlebe die Landschaft eher so, wie die frühen Seefahrer gesegelt sind. Auf jeden Fall erlebe ich sie ungewohnt intensiv. Diese Reise ist tatsächlich ein Abenteuer.

Die Einheimischen helfen mir, die Gewässer der Bijagos besser zu verstehen. An den Stränden, wo ich Bananen kaufe und Muscheln angeboten bekomme, kommen wir ins Gespräch. Ich frage nach befahrbaren Wasserstrassen und geeigneten Ankerplätzen und erhalte bereitwillig Auskunft. Fischer und Segler verstehen sich, wenn sie von Wind und Gezeiten sprechen. Auch wenn es sprachlich manchmal hapert.

Von den Stränden aus führen Wege zu den Dörfern im Innern der Inseln. Die Fischer schicken einen Jungen oder ein Mädchen mit mir mit, damit ich mich nicht verirre. Ich hätte die Siedlungen auch ohne Begleitung gefunden. Ein sicheres Anzeichen, dass man sich einem Dorf nähert, sind die Muschelschalen, die die Wege pflastern. Ich gehe an Reisfeldern vorbei, und vor den ersten Hütten sehe ich kleine Öfen, über deren Feuer Austern geräuchert werden. Die Schalen sind zu imposanten Hügeln angehäuft.

Selbstversorger mit Solarzellen für die Mobiltelefone

Die meisten Bewohner der Bijagos leben als Selbstversorger. Viele Inseln verfügen über Brunnen. Öl wird aus den Früchten der Palmen gewonnen. In kleinen Gärten gedeiht Gemüse. Schafe und vor allem Ziegen staken steifbeinig zwischen den einfachen Lehmhütten herum oder schlafen unter Veranden. In jedem Dorf, das ich besuche, hängen Mobiltelefone an Schnüren vom Gebälk einer der Hütten. Kleine Solarzellen liefern den nötigen Strom zum Aufladen. Abgesehen davon scheint die Zeit stillzustehen.

Als die portugiesischen Entdecker in die Bijagos vorstiessen, mussten sie Pfeile fürchten. Doch selbst während der portugiesischen Kolonialherrschaft verteidigten die Menschen des Archipels ihre Unabhängigkeit. Nicht immer durch Krieg. Weise Königinnen setzten auf Verhandlung und gewannen den Frieden. Selbst im modernen Staat Guinea-Bissau leben die Bijagos nach eigenen Regeln. Die häufigen politischen Wirren und Aufstände in der Hauptstadt haben kaum Auswirkungen auf die Inseln. Den Touristen, die in den wenigen Eco-Lodges im Archipel ihre Ferien verbringen, kehren die Menschen lieber den Rücken.

In Bolama, dem administrativen Zentrum der Bijagos, erhalten wir unsere Visa. Der Ort war für eine gewisse Zeit gar die Hauptstadt des kolonialen Guinea-Bissau. Der üppige Gouverneurspalast mit seiner stolzen Kuppel ist jedoch nur noch eine Ruine. Und das sind auch die übrigen Bauten aus der Kolonialzeit. Bolama ist staubig, verschlafen und wirkt etwas verlassen. Damit wir unsere Vorräte auffüllen können, stehen uns der offene Markt und ein kleiner Laden zur Verfügung.

Die Loja Verde ist ein düsterer Raum mit einer Theke, Regalen voller Milchpulver und Sardinenbüchsen, zwei Kühlschränken sowie einem vergitterten Gestell für Zwiebeln und Kartoffeln. Die wichtigsten Einrichtungsgegenstände sind ein grosser Tisch und eine Reihe bunter Plastikstühle. Hier setzt man sich hin, um sich auszutauschen. Hier treffe ich Domingos.

Der Zwiespalt zwischen Tradition und Moderne

Domingos stammt von Orango, einer der grössten Inseln im Süden des Archipels. Er kennt auch die Hauptstadt und wirkt hin- und hergerissen zwischen dem traditionellen Insel- und dem modernen Leben. Doch wenn er von den alten, lebendigen Traditionen erzählt, klingt er stolz und selbstbewusst. Er erzählt von Ritualen, die Kinder zu Jugendlichen und dann zu Erwachsenen machen, oft verbunden mit Kämpfen. Oder davon, dass Männer mit vierzig ihre Familien verlassen, um mehrere Jahre unter ihresgleichen zu leben, abgeschieden und auf sich allein gestellt. Domingos ist Mitte zwanzig. Würde er ein solches Schicksal wählen? Er neigt den Kopf und antwortet zögernd: «Vielleicht.»

Die Frauen hüten das kulturelle Erbe

Frauen haben oft das Sagen auf den Inseln und bewahren die Schätze des Dorfes, das Saatgut. Die Nachfolgeregelungen für Könige und Königinnen sind kompliziert und darauf bedacht, dass Macht nicht einfach vererbt werden kann. In Bolama gibt es zwar auch Kirchen und Moscheen. Aber auf den Inseln herrscht der Glaube an eine beseelte Natur, und je mehr ich darüber lerne, desto vorsichtiger bin ich auf meinen Ausflügen, um kein Tabu zu brechen.

Um das Leben im Archipel wirklich zu verstehen, reicht die Zeit nicht aus. Aber als mir der 56-jährige Adriano am Strand der Insel Roxa erzählt, dass er das Leben hier seinem früheren Dasein als Verkäufer in einem Sportgeschäft in Dakar vorzieht, kann ich das nachvollziehen. Wir graben unsere Zehen in den weissen Sand. Im Wasser planschen die Kinder. Aus dem Wald hinter uns dringen Vogelstimmen. Ein Seeadler zieht vorbei, und wir haben Zeit, um über Gott und die Welt zu plaudern.

Zurück in einer anderen Welt

Auf meinem Weg aus den Bijagos traue ich mich auch in die Seitenarme. Ich folge den Fahrrinnen zwischen den Inseln. Sie führen mich zuweilen dicht an die mangrovenbestandenen Strände. Dann öffnen sich die Kanäle, und es ist, als würde man auf einem See segeln. Aber ich lasse den Tiefenmesser nicht aus den Augen und taste mich voran wie ein Blinder mit seinem Stock.

Abends ankere ich in einem Seitenarm des Geba-Flusses, der zur Hauptstadt Bissau führt. Hier ziehen erstmals wieder grosse Schiffe an mir vorbei. Eine Flotte chinesischer Fischerboote kreist vor der Flussmündung um einen Fischschwarm wie eine Herde Schakale um ein verendendes Tier. Ich werde die Fischer beobachten müssen, denn sie bewegen sich unberechenbar und nehmen kaum Rücksicht auf andere. Es ist, als wäre ich aus dem Paradies hinauskatapultiert worden und wieder in der Gegenwart gelandet, die mir nun viel gefährlicher erscheint als die Sandbänke der Bijagos.

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