Samstag, September 28

Die wochenlangen Proteste gegen das «Agentengesetz» sind zwar gescheitert. Aber die Gegner der Regierung hoffen auf die Parlamentswahl vom Herbst, wie Gespräche in dem Land zeigen.

Abends gegen 22 Uhr hebt Beethovens «Ode an die Freude» am Rustaweli-Boulevard an. Die Hymne Europas ist Höhepunkt und Abschluss eines bitteren Protesttages in der georgischen Hauptstadt Tbilissi: Das Parlament hat gerade das umstrittene «Gesetz über die Transparenz ausländischen Einflusses», von den Gegnern auch «Agentengesetz» genannt, definitiv verabschiedet.

Frustriert sei sie, sagt Mariam, eine junge Frau, die nur ihren Vornamen nennen will. Sie steht noch vor dem hell erleuchteten Parlamentsgebäude. Nun gelte es, die Opposition zu einen und sicherzustellen, dass die Parlamentswahlen im Oktober sauber abliefen. Die Regierungspartei Georgischer Traum werde sicher betrügen wollen. «Ich bin hoffnungsvoll, und ich bin bereit, für unsere Zukunft etwas zu tun», sagt die Ingenieurin.

Tbilissi im Europa-Fieber

Wer das Gegenteil von Europa-Verdruss erleben wollte, kam in den vergangenen Wochen in Tbilissi auf seine Rechnung. Das Sternenbanner der Europäischen Union ist seit langem allgegenwärtig. Jetzt wurden Fähnchen buchstäblich an jeder Ecke verkauft. Fast trotzig wirkt dieses Zurschaustellen der Europa-Begeisterung. Ihrer bedienen sich beide politischen Lager, die derzeit so unversöhnlich einander gegenüberstehen.

Die Regierungspartei Georgischer Traum verkündet unbeirrt, aber ohne jede Plausibilität, sie stelle die Annäherung Georgiens an Europa keinesfalls infrage. Die Gegner des Gesetzes befürchten, alles bereits Erreichte auf dem Weg nach Europa und die weitere europäische Perspektive zu verlieren.

Beide Lager verweisen auf die Konfrontation der Weltmächte und die Folgen, die sich für den Westen und kleine Länder wie Georgien daraus ergeben. Aber sie ziehen unterschiedliche Schlüsse daraus. Der Georgische Traum und seine Apologeten sehen in der Stärkung des Nationalstaates und in der Priorisierung eigener Interessen einen Schutz vor dem Verlust der Identität. Daraus leiten sie die Notwendigkeit für das «Agentengesetz» ab. Für ihre Gegner ist dieses Gesetz jedoch ein gefährlicher Präzedenzfall. Sie befürchten eine Abkehr von Freiheit und Pluralismus. Sie sehen die Autorität des Westens schwinden, aber für sie ist das eine Bedrohung, kein nüchternes Faktum.

Zeichen der Zeit

Vladimer Papava schmerzt es, zu sehen, was sich gerade in der georgischen Politik tut – und wie der Westen darauf reagiert. Der 69-jährige Ökonom hat eine lange politische Karriere hinter sich und ist jetzt Sekretär der Akademie der Wissenschaften. Von 1994 bis 2000 war er Wirtschaftsminister und später, bis 2008, Abgeordneter im georgischen Parlament. «Becoming European» heisst ein Buch von ihm, das ihm besonders viel bedeutet. «Ich war immer nach Westen ausgerichtet. Das ist für mich sehr wichtig», sagt er im Gespräch in seinem Büro.

In einem Gesetz, das die finanziellen Einflüsse des Auslandes offenlegt, sieht er kein Problem, sondern ein Zeichen der Zeit. Anders gehe es im Zeitalter der «konfrontativen Globalisierung» gar nicht mehr, ist er überzeugt. Auch die vehemente Kritik an dem verabschiedeten Gesetz kann er nicht nachvollziehen. Den Vergleich mit dem russischen «Agentengesetz» hält er für abwegig. Die georgischen Bestimmungen seien doch viel milder, behauptet er, obwohl klar ist, dass die beabsichtigte Wirkung genau dem entspricht, was in Russland zu einer umfassenden Brandmarkung Andersdenkender geführt hat.

Das sei das eine. Das andere aber sei der politische Kontext und da habe der Georgische Traum schwere Fehler gemacht, meint Papava. Die Regierung habe es versäumt, Konsultationen mit den strategischen Partnern über das Gesetz zu führen. Wenn die westlichen Freunde so grosse Vorbehalte dagegen hätten, dann hätte der Georgische Traum es nicht durchdrücken dürfen.

Ein «Staatsstreich von oben»?

Aber warum hat die Partei es dennoch getan und sich immer mehr in eine aggressive Rhetorik gegenüber den USA und der EU gesteigert? Victor Kipiani hat keine definitive Antwort darauf. Der 52-jährige Jurist mit langjähriger internationaler Erfahrung leitet neben seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt den Think-Tank Geocase in Tbilissi. Das umstrittene Gesetz über ausländischen Einfluss ist für ihn mehr ein Symptom einer Entwicklung als das zentrale Element. Es sei Teil einer sich verändernden politischen Landschaft. Klar ist für ihn, dass es Russland nützt, wenn Georgien vom Westen abfällt und in sich uneinig ist. Was gerade geschehe, drohe den Rechtsstaat zu untergraben.

Noch drastischer drückt sich Hans Gutbrod aus. Der Deutsche lebt und arbeitet seit zwei Jahrzehnten in Georgien und ist unter anderem Professor für Politik an der Staatlichen Ilia-Universität in Tbilissi. Er spricht im Zusammenhang mit dem Gesetz von einem «Staatsstreich von oben» und sieht generell Anzeichen dafür, dass der Georgische Traum das Land umbauen und gleichschalten will. Am ehesten glaubt er, dass sich Bidsina Iwanischwili, der Ehrenvorsitzende des Georgischen Traums, in der Einsamkeit am Schwarzen Meer in einen Wahn gesteigert habe; er vergleicht ihn mit Shakespeares Macbeth.

Die Bestimmungen des Gesetzes verletzten die Verfassung – zum einen, weil diese die EU-Integration als Ziel festschreibe und dieses Gesetz den EU-Annäherungs-Prozess ausbremse, zum andern auch deshalb, weil es den Schutz der Privatsphäre angreife. Die Behörden bekommen mit dem neuen Gesetz die Möglichkeit, eine grosse Zahl von persönlichen Informationen über Mitarbeiter und Begünstigte von Organisationen einzuholen, die sich als «Agenten» registrieren lassen müssen.

NGO nehmen Strafen in Kauf

Tamar Oniani muss sich mit den möglichen Auswirkungen des Gesetzes nicht nur in der Theorie befassen. Sie leitet bei der Vereinigung der jungen Anwälte Georgiens (Georgian Young Lawyers’ Association, Gyla) das Menschenrechtsprogramm. Die Gyla ist eine der einflussreichsten Nichtregierungsorganisationen Georgiens, die einst nach der Rosenrevolution Micheil Saakaschwilis 2003 die Justizreformen vorangetrieben hatte und von ausländischen Geldgebern abhängig ist. Sie will sich dem Gesetz nicht unterwerfen. «Wir dienen unserem Land. Dass wir Agenten ausländischen Einflusses sein sollen, ist beleidigend für uns», sagt Oniani. Das Gesetz richte sich gegen die Freiheitsrechte und gegen die Annäherung an die EU.

Deshalb ist absehbar, was geschehen wird: Das Justizministerium wird zunächst eine Strafe von 25 000 georgischen Lari aussprechen, und wenn diese nicht bezahlt wird, werden weitere Strafen und die Blockierung des Vermögens der Organisation folgen. Die Strafen sind angesichts des georgischen Durchschnittslohns von monatlich rund 2000 Lari exorbitant hoch. Wer die erforderlichen Daten nicht an die Behörden weitergibt, haftet auch persönlich. Gyla will durchhalten, koste es, was es wolle – auf jeden Fall bis zur Wahl im Oktober. Diese will sie beobachten und ebenso die Menschenrechtslage.

Seit Beginn des Strassenproteste gegen das Gesetz waren die Exponenten der Protestbewegung und Mitarbeiter von zivilgesellschaftlichen Organisationen Gewalt und Hetze ausgesetzt. Oniani erzählt, wie schwarzgekleidete Unbekannte am Rande der Kundgebungen oder in Hauseingängen Aktivisten verprügelten. Vor Privatwohnungen und Büros wurden Plakate angebracht, die die Aktivisten und Organisationen als Volksfeinde verunglimpfen. Telefonterror richtete sich nicht nur gegen NGO-Mitarbeiter selbst, sondern auch gegen deren Angehörige. Aber Tamar Oniani will sich nicht einschüchtern lassen. «Ich bin auf alles gefasst, auch auf physische Angriffe.»

Regierung trifft einen Nerv

Während die Gegner des Gesetzes und die Oppositionsparteien den Protest bis zur Parlamentswahl Ende Oktober aufrechterhalten wollen, setzt die Regierung auf Zermürbung. Sehr hohe Strafen drohen nicht nur denen, die dem Gesetz nicht Folge leisten. Willkürlich werden auch Protestteilnehmer für Störung der öffentlichen Ordnung zur Rechenschaft gezogen. Bereits hat der Georgische Traum zudem Gesetzesänderungen zu einem anderen Thema angekündigt, das die Gesellschaft polarisiert: Werbung und «Propaganda» für LGBT sollen verboten, Geschlechtsumwandlungen verunmöglicht und gleichgeschlechtliche Ehen untersagt werden. Auch damit trifft die Regierung durchaus einen Nerv.

Ramas, ein Bauingenieur aus Tbilissi, findet es wichtig, dass in solchen Fragen Klarheit herrscht. «Ein Mann ist ein Mann, eine Frau eine Frau, und nur sie bilden eine Familie», sagt er. Georgien sei eine traditionelle Gesellschaft, und die Kirche spiele eine grosse Rolle. Sein deutlich jüngerer Bekannter Bakar aus der Industriestadt Rustawi sieht gerade darin auch ein Problem. Die Regierung spanne in gesellschaftlichen Fragen mit der Kirche zusammen – und das werde dem Georgischen Traum Stimmen bringen. «Die Gläubigen sind abhängig von dem, was der Priester sagt», bedauert er. Er hofft darauf, dass die Regierungspartei nach der Wahl auf Koalitionspartner angewiesen sein wird.

Die Opposition sieht Chancen

Die Opposition sieht plötzlich Chancen auf einen Machtwechsel. Der Georgische Traum steht schlechter da als noch vor wenigen Monaten. Dabei hatte er unter anderem zur Sicherung der Macht das «Agentengesetz» ohne Rücksicht auf Verluste durchgepeitscht, obwohl er gewiss die Wahl gegen eine zerstrittene Opposition leicht gewonnen hätte. Nun hat er besonders die städtische Jugend gegen sich aufgebracht.

Wie gut es der Opposition jetzt gelingt, die Proteste in politisches Kapital umzumünzen, werden die nächsten Monate zeigen. Oppositionspolitiker sind überzeugt davon, die Einheit des Volkes für sich nutzen zu können. Präsidentin Salome Surabischwili hat sich, obwohl einst vom Georgischen Traum portiert, zu einer Hoffnungsträgerin der Opposition gewandelt. Sie lancierte eine Charta, die die Opposition zu einem gemeinsamen Vorgehen verpflichten soll. Nach einem Wahlsieg sollen Reformen, unter anderem die Rücknahme umstrittener Gesetze, Priorität haben. Nach einem Jahr würde, unter neuen Vorzeichen, nochmals gewählt. Vladimer Papava hält den Vorschlag für unseriös und im Widerspruch zur Verfassung stehend.

Sind Amerika und Europa bereit, sich für Georgiens westlichen Weg zu engagieren? Die USA haben die Reisefreiheit einiger Entscheidungsträger und ihrer Angehörigen eingeschränkt. Die EU droht damit, Georgiens Kandidatenstatus einzufrieren. Würde sie auch die Visafreiheit kassieren, träfe das jedoch genau diejenigen, die für Europa auf die Strasse gingen. Die Regierungsgegner wünschen sich weitere gezielte Sanktionen.

Georgien, sagt Hans Gutbrod, sei immer ein Labor für positive Reformen in der Grossregion gewesen. Auch jetzt sei es ein Labor: für Repressionsstrategien gegenüber einer Bevölkerung, der etwas weggenommen werde, was eine überwältigende Mehrheit, ganz besonders die Jugend, wolle – die Annäherung an Europa. «Der Westen verliert die Schlacht der Erzählungen», sagt der Geopolitik-Experte Kipiani. «Es geht hier um mehr als um Georgien.»

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