Montag, Januar 13

Dank geringem Aufwand und Lösegeldforderungen von ein paar tausend Dollar macht das Phänomen schnell Schule. Der guatemaltekische Schriftsteller Eduardo Halfon erzählt von einem Komplizen, mit dem er ahnungslos bekannt war.

An einem warmen Aprilmorgen im Jahr 2022 tauchten drei Polizeibeamte in Zivil in der Lobby des Hauses meiner Eltern in Guatemala-Stadt auf und suchten nach einem Mann namens Jeremías, der dort arbeitete. Dem übrigen Wartungs- und Sicherheitspersonal sagten sie nicht viel, nur, dass sie mit ihm sprechen und ihm ein paar Fragen stellen müssten. Die Angestellten des Gebäudes meldeten den Beamten jedoch wiederholt, dass er nirgendwo zu finden sei – obwohl sie alle genau wussten, wo er sich versteckt hielt.

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Jeremías arbeitete seit mehr als zehn Jahren im Haus meiner Eltern. Er schien immer da zu sein – er fegte einen Flur, putzte mit einem Wischer den Spiegel im Aufzug, kümmerte sich um die Réception in der Lobby – so kam es mir jedes Mal vor, wenn ich aus Nebraska oder Paris oder Berlin, wo auch immer ich gerade lebte, zurück ins Land reiste und ihn besuchte.

Er war schüchtern und wortkarg. Er war rücksichtsvoll, ohne sentimental zu sein; aufmerksam, ohne neugierig zu wirken. Niemals lästig, sagte mein Vater über ihn, womit er meinte, dass Jeremías unterwürfig und gehorsam war.

Blitzartige Verhaftung

Er begrüsste mich immer freundlich – «Buenos días, señor Halfon» – und fragte dann mit einem zögerlichen Lächeln, ob ich wieder in Guatemala lebe oder nur auf der Durchreise sei, worauf ich unweigerlich antwortete, dass ich auf der Durchreise sei. Heute verstehe ich jedoch, wenn auch erst im Nachhinein, dass seine einfache und fast oberflächliche Frage nur allzu bedrohlich war.

An jenem warmen Aprilmorgen sass Jeremías an der Réception in der Lobby, als er auf dem Bildschirm der Überwachungskamera erkannte, dass es Polizisten waren, die draussen auf der Strasse vor dem Gebäude standen und rauchten. Irgendwie wusste – oder ahnte – er, dass sie seinetwegen da draussen waren, und so flüchtete er sofort in den Keller und versteckte sich in einer kleinen Abstellkammer, zusammengekauert zwischen all den Wischmopps und Besen und einigen schmutzigen Eimern.

Die Polizeibeamten, die von den knappen und ausweichenden Antworten der Angestellten frustriert waren – wie immer bei Guatemalteken, die durch jahrzehntelange Unterdrückung, Misstrauen und die lähmende Angst, sich zu äussern, zum Schweigen gebracht wurden –, bestanden nun darauf, mit einigen der Mieter zu sprechen, auch mit meiner Mutter und meinem Vater. Sie gingen von Wohnung zu Wohnung, klopften an die Türen und stellten Fragen.

Aber keiner der Mieter konnte helfen, Jeremías ausfindig zu machen. Keiner wusste, wo er war oder ob er überhaupt an diesem Tag zur Arbeit erschienen war. Nach einigen angespannten Stunden der Drohungen und des Herumschnüffelns gaben die Beamten schliesslich auf und verliessen das Gebäude, während die Mieter die Türen ihrer Wohnungen schlossen und alle Angestellten wieder zur Arbeit gingen.

Enthüllung eines Doppellebens

Jeremías blieb den Rest des Tages in der Abstellkammer versteckt. Er wartete, bis es Nacht war und er sicher sein konnte, dass die Polizeibeamten nicht mehr in der Nachbarschaft waren. Dann stand er auf, kam aus dem Schrank hervor und verliess das Gebäude. Dort, mitten auf der Strasse, wurde er blitzartig von den Polizeibeamten, die in Zivilfahrzeugen auf ihn gewartet hatten, umzingelt und festgenommen.

Der erste Gedanke aller war, dass Jeremías zu Unrecht verhaftet worden war – etwas, das in diesem Land nur allzu häufig vorkommt. In der Regel aufgrund eines persönlichen Rachefeldzuges, eines bürokratischen Fehlers oder, was noch wahrscheinlicher ist, weil ein korrupter Regierungsbeamter falsche Anschuldigungen gegen jemanden erfunden hat, um dann ein saftiges Schmiergeld zu verlangen. Es dauerte Wochen, um herauszufinden, was wirklich passiert war.

Nach wiederholten Anrufen und Briefen und mehreren teuren Anwaltsbesuchen wurden die Mieter des Gebäudes schliesslich darüber informiert, dass Jeremías im Staatsgefängnis von Mazatenango, einer Stadt in der Küstenebene, die zum Pazifischen Ozean führt, festgehalten wird, weil er in eine Reihe von Entführungen verwickelt war, die die Einheimischen auf Spanisch als «secuestros exprés», als Express-Kidnapping, bezeichneten.

So funktionieren sie.

Sie erhalten einen Anruf von einem Entführer, der Ihnen mitteilt, dass jemand das Auto eines Ihrer Familienmitglieder, Ihres alten Vaters oder Ihrer Tochter im Teenageralter oder vielleicht sogar Ihrer Frau, verfolgt und Ihren Vater, Ihre Tochter oder Ihre Frau erschiessen wird, wenn Sie nicht innerhalb einer Stunde eine bestimmte Summe auf das Konto des Entführers einzahlen – in der Regel nicht mehr als ein paar tausend Dollar.

Minuziöse Beschreibung

Als Beweis wird der Entführer Ihnen zunächst alle persönlichen Daten des Familienmitglieds nennen (vollständigen Namen, Wohnadresse, Geschäftsadresse, Telefonnummer, Nummer des Führerscheins); der Entführer wird Ihnen dann genau sagen, welche Kleidung Ihr Familienmitglied in diesem Moment trägt und auf welcher Strasse der Stadt es gerade fährt. Schliesslich wird der Entführer Ihnen eine genaue Beschreibung des Autos Ihres Familienmitglieds geben, einschliesslich der Marke, des Modells, des Jahres, der spezifischen Farbe, des Kennzeichens und aller besonderen Merkmale wie sichtbarer Beulen oder Kratzer oder Stossstangenaufkleber.

All dies, um Ihnen klarzumachen, dass Ihr Vater oder Ihre Tochter oder Ihre Frau in gewisser Weise bereits entführt worden ist und im eigenen Auto gefangen gehalten wird, vielleicht sogar mit einer Schrotflinte, die ein paar Autos weiter auf den Kopf gerichtet ist, und nur dann aus dieser grausamen und seltsamen Form der Gefangenschaft befreit wird, wenn Sie schnell und diskret die geforderte Anzahlung leisten.

Jahrelang war Jeremías, unser sanftmütiger Jeremías, der Geldmann bei diesen Operationen gewesen. Es war sein persönliches Bankkonto, das die Entführerbande immer wieder für die Entgegennahme aller Lösegeldzahlungen genutzt hatte.

Also, Señor Halfon, würde er mit einem schüchternen Lächeln sagen, bleiben Sie hier, oder sind Sie nur auf der Durchreise?

Nur auf der Durchreise, Jeremías. Immer nur auf der Durchreise.

Der Schriftsteller Eduardo Halfon wurde 1971 in Guatemala-Stadt geboren und lebt heute in Berlin. – Übersetzt aus dem Englischen.

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