Lange war das oberste Ziel in Indien, das Bevölkerungswachstum in den Griff zu bekommen. Doch inzwischen ist die Geburtenrate unter 2,1 Kinder pro Frau gefallen – und sie sinkt rasch weiter. Politiker sind alarmiert.
Über Jahrzehnte hatte die Bevölkerungspolitik in Indien nur ein Ziel – das rasche Wachstum der Bevölkerung zu bremsen. Die hohe Geburtenrate und der rapide Anstieg der Bevölkerung wurden als Hindernis für die Entwicklung des Landes gesehen. Nach der Unabhängigkeit 1947 propagierte der Staat daher das Modell der Zwei-Kind-Familie, förderte die Aufklärung der Frauen und die Verwendung von Verhütungsmitteln. Mit Erfolg: Die Geburtenrate fiel seit der Unabhängigkeit von 5,7 auf 2,0 Kinder pro Frau.
Damit liegt die Geburtenrate mittlerweile unter der Schwelle von 2,1, die zum Erhalt der Bevölkerung notwendig ist – und sie sinkt rapide weiter. Im stärker entwickelten Süden Indiens, wo die Teilstaaten eine besonders erfolgreiche Familienplanungspolitik verfolgt haben, liegt sie inzwischen bei 1,6. Aber auch in vielen nordindischen Teilstaaten ist die Geburtenrate längst deutlich unter 2,0 gefallen. In den grossen Städten erreicht sie bisweilen nur noch ein Niveau von 1,1.
Die Lage ist damit in Indien zwar noch nicht so ernst wie in China, wo die Geburtenrate unter 1,2 gesunken ist. Die Volksrepublik steckt aufgrund der Ein-Kind-Politik in einer demografischen Krise. Doch in manchen Regionen Indiens hat die Geburtenrate ein Niveau erreicht, das vergleichbar ist mit den Ländern Westeuropas. Zum Vergleich: In Frankreich lag die Fertilitätsrate zuletzt bei 1,79, in Deutschland bei 1,46 und in der Schweiz bei 1,39.
Politiker fordern wieder mehr Kinder
In Indien lösen die fallenden Geburtenraten zunehmend Besorgnis aus. Mindestens drei Kinder sollten die Inderinnen haben – sonst drohe dem Land der Niedergang, forderte Anfang Dezember Mohan Bhagwat, der einflussreiche Chef der Hindu-nationalistischen Freiwilligenbewegung RSS. Ein Volk, in dem die Geburtenrate unter 2,1 Kinder pro Frau falle, sterbe von allein aus, sagte Bhagwat. Sein Wort hat Gewicht in Indien. Denn die RSS ist die Mutterorganisation der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi.
Kurz zuvor hatten bereits die Ministerpräsidenten der südindischen Teilstaaten Andhra Pradesh und Tamil Nadu Schlagzeilen gemacht, als sie Paare aufforderten, wieder mehr Kinder zu haben. In Tamil Nadu liegt die Geburtenrate laut dem jüngsten National Family Health Survey bei 1,8 Kindern pro Frau, in Andhra Pradesh bei 1,7. Die demografische Studie des Sample Registration System, die eine andere Methodik verwendet, gibt die Geburtenrate sogar mit 1,4 und 1,5 an.
Andhra Pradeshs Ministerpräsident Chandrababu Naidu kündigte Ende Oktober ein Gesetz an, das Personen mit weniger als zwei Kindern verbieten soll, in Andhra Pradesh zu Wahlen anzutreten. Die Südinder fürchten, dass sie aufgrund des niedrigeren Bevölkerungswachstums Nachteile beim indischen Finanzausgleich bekommen. Nach dem für 2026 erwarteten Zensus, so ihre Sorge, könnte der Norden zudem wegen seiner gewachsenen Bevölkerung mehr Sitze im Parlament erhalten, während der Süden Mandate abgeben muss.
Der demografische Trend ist kaum umkehrbar
Im Westen dürfte diese Debatte viele überraschen. Hat Indien nicht eine junge, wachsende Bevölkerung? Und hat es nicht gerade erst mit 1,4 Milliarden Einwohnern China als das bevölkerungsreichste Land der Welt abgelöst? Tatsächlich ist die indische Bevölkerung stark gestiegen seit der Unabhängigkeit 1947 – damals lag sie bei rund 340 Millionen. Und sie wächst immer noch. Gemäss den Prognosen dürfte die Einwohnerzahl noch mehrere Jahrzehnte lang wachsen.
Dies liegt daran, dass derzeit besonders viele Inderinnen im gebärfähigen Alter sind. Gegenwärtig ist der Anteil der arbeitsfähigen Bevölkerung hoch, während der Anteil der abhängigen Kinder und Alten gering ist. Experten sprechen von einer demografischen Dividende. Für die wirtschaftliche Entwicklung bietet dies ein grosses Potenzial. Doch Indien könnte mit der Alterung seiner Bevölkerung konfrontiert sein, bevor es sein demografisches Potenzial hat einlösen können.
«Indien läuft Gefahr, dass es alt wird, bevor es reich wird», sagt der Demograf Srinivas Goli. Der Rückgang der Geburtenraten sei kaum mehr umkehrbar. «Die Erfahrung in Europa und Ostasien zeigt, dass es sehr viel leichter ist, die Geburtenrate zu senken, als sie wieder zu erhöhen», sagt der Professor am International Institute for Population Sciences in Mumbai. Ob Stadt oder Land, ob Hindus oder Muslime, ob Arm oder Reich – der Trend zeige in allen Bevölkerungsgruppen nach unten und nähere sich immer mehr an, sagt Goli.
Inderinnen zahlen für die Mutterschaft einen hohen Preis
Heute haben nur noch die schwach entwickelten Teilstaaten Uttar Pradesh und Bihar in Nordindien eine moderat hohe Geburtenrate. Doch auch dort gehe der Trend stetig nach unten, sagt Goli. Es seien längst nicht nur die Frauen in Südindien, die kleine Familien bevorzugten. Auch in nordindischen Teilstaaten wie Himachal Pradesh, Westbengalen, Punjab und der Hauptstadt Delhi bekommen Frauen im Schnitt weniger als 1,7 Kinder. Mittelfristig erwartet Goli, dass sich die Geburtenrate in allen Regionen auf niedrigem Niveau stabilisiert.
Der rasche Rückgang der Geburtenrate ist die Konsequenz der Familienplanungsprogramme der letzten Jahrzehnte. Indien habe so in wenigen Jahrzehnten die demografische Transition zu einer Geburtenrate unter 2,1 vollbracht, für die westeuropäische Staaten mehrere Jahrhunderte gebraucht hätten, sagt Goli. Doch auch die sozioökonomische Entwicklung, der Anstieg des Bildungsniveaus und das veränderte Familien- und Frauenbild hätten eine Rolle gespielt.
Mit dem Anstieg der Bildung strebten Frauen nach Selbstverwirklichung und gäben sich nicht mehr damit zufrieden, sich nur um die Kinder zu kümmern, sagt Goli. Sie wollten selbst arbeiten und Geld verdienen. Gleichzeitig sei die indische Gesellschaft aber weiterhin konservativ geprägt. Es herrsche die Erwartung, dass Frauen zu Hause blieben, sobald sie Kinder hätten. Der Preis der Mutterschaft sei so hoch, dass viele Frauen zögerten, Kinder zu bekommen.
Viele Paare können sich mehr Kinder nicht leisten
Auch viele Männer würden allerdings eine kleine Familie vorziehen, da sie sonst Einbussen beim Lebensstandard hätten, sagt der Demograf. Denn gerade in den grossen Städten seien die Kosten für Wohnraum, Bildung und Gesundheit sehr hoch. Viele Paare überlegten es sich da zweimal, mehr Kinder zu bekommen, sagt Goli. Hinzu komme, dass viele junge Leute aufgrund der schwächelnden Konjunktur nach dem Studium Mühe hätten, eine Arbeitsstelle zu finden. Sie würden daher erst später heiraten und Kinder bekommen.
Laut Goli wäre es wichtig, dass der Staat in der Schule verstärkt ein egalitäres Rollenverständnis fördern würde. Zudem müsse er mehr Plätze zur Kinderbetreuung schaffen und bessere Regeln zum Mutterschutz. Doch seine finanziellen Mittel sowie die Möglichkeiten, Einfluss auf die Arbeitsbedingungen zu nehmen, seien begrenzt. Nur drei Prozent aller Inderinnen und Inder sind schliesslich in einem regulären Arbeitsverhältnis, der Rest ist im informellen Sektor tätig.
«Indien wird sich mit der demografischen Entwicklung abfinden müssen», sagt Goli. Bis jetzt sei das Land aber nicht auf die Alterung der Gesellschaft vorbereitet. Weder sei das Gesundheitssystem bereit, noch gebe es genug Pflegeeinrichtungen. Viele Eltern wollten noch immer im Alter bei ihren erwachsenen Kindern leben, doch zögen diese oft fort in die Städte, um dort Arbeit zu finden, sagt Goli. So bleiben viele Alte allein auf dem Land zurück. Für Indien ist dies eine Herausforderung, deren Ausmass die Politik erst langsam begreift.