Samstag, April 19

Das Werk des 1940 geborenen Schriftstellers Rolf Dieter Brinkmann ist so zerrissen wie sein kurzes Leben. Eine Biografie erzählt zu seinem fünfzigsten Todestag von den Eskapaden eines Berserkers.

Plötzlich ist die schwarze Limousine da. Der Fussgänger im hellen Mantel, der gerade die Strasse kreuzt, wird vom Kotflügel erwischt und in die Luft geschleudert. Sein Körper landet halb im Rinnstein, halb am Gehweg. Nach Sekunden der Stille beugt sich eine Passantin über den Verunglückten und sagt: «I think he is dead.»

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Der Tod von Rolf Dieter Brinkmann am 23. April 1975 auf der Londoner Westbourne Grove zählt zu den traurigen Geschichten der Literatur. Ein schnelles Leben ging schnell zu Ende. Mit seinen fünfunddreissig Jahren hatte der junge Dichter schon viele Himmel und Höllen hinter sich. Im Frühjahr 1975 sollte sein neues Buch «Westwärts 1 & 2» erscheinen. Dass es postum publiziert wurde, passt zu einer Biografie, deren Nachschriften genauso wichtig sind wie Brinkmanns gelebte Zeit.

Fünfzig Jahre nach seinem Tod ist der Dichter aus Vechta ein Mythos. Ermüdend und erfrischend können seine Texte sein, die aus Aufrichtigkeit und Selbstbetrug gemacht sind, aus Zartheit und Brutalität. Es sind lange Kamerafahrten durchs Elend der Städte und des eigenen Ichs. Mit so viel ungebremstem Wumms schreibt heute niemand mehr. Und genau deshalb schaut man gerne noch einmal genauer hin, wenn auf dem Altar des Nachruhms ein paar Kerzen entzündet werden.

Vom Krieg geprägte Kindheit

«Westwärts 1 & 2» erscheint mit sechsundzwanzig bisher nicht veröffentlichten Gedichten. Michael Töteberg und Alexandra Vasa haben eine grosse Biografie geschrieben. Sie heisst «Ich gehe in ein anderes Blau» und versucht erst gar nicht, das Leben des Widerständigen zu glätten. Alle Risse sind da, und wenn sie sich zum Abgrund weiten, dann weiss man: Mit Brinkmann war ein Berserker am Werk, der dem Krieg, in den er hineingeboren wurde, genauso die Schuld an seinem Unglück geben konnte wie den falschen Idyllen Nachkriegsdeutschlands.

1944 fliegen die Sturzkampfbomber über den Flugplatz der niedersächsischen Stadt Vechta, an deren Rand die Familie wohnt. Eine der ersten Kindheitserinnerungen ist das Blinken der Stuka-Plexiglaskuppeln in der Sonne. Man kann sich über das Kriegsende retten, aber die inmitten von Mooren gelegene Stadt bleibt kleben am Schuh der Erinnerung.

Später wird der Schriftsteller die Bilder immer wieder aufrufen. Grüne Heide, «zweistöckige, ältere Häuser» und «Dunkelställe», aus denen Nachtklubs wurden. Er selbst sei «in den ersten Kriegstagen zusammengefickt» worden, schreibt Brinkmann. Seine Four-Letter-Words der Verlorenheit sind Provokation und Markenzeichen in einem. Die Realität ist der schmächtige Bruder solcher Männlichkeitsphantasien.

Seinen ersten Brotberuf als Finanzbeamter gibt der angehende Schriftsteller früh auf, versucht sich als Buchhandelslehrling und scheitert an einer Ausbildung zum Lehrer. Dass er Schriftsteller sein will, weiss Brinkmann sehr früh, und die ganze Welt soll es wissen. Er schreibt kollegiale Geburtstagsgrüsse an Gottfried Benn und schickt unermüdlich Texte an die wichtigsten Literaturzeitschriften Deutschlands.

Experimente mit Drogen

Schon im Alter von siebzehn Jahren ist der damalige Benn-Epigone sehr selbstbewusst und dient sich den grössten Verlagen als Autor an. Durch Absagen lässt er sich nicht entmutigen und landet 1965 bei Kiepenheuer & Witsch. Der Erzählungsband «Die Umarmung» wird ein Achtungserfolg. Reich-Ranicki räumt dem 25-Jährigen in der «Zeit» eine ganze Seite ein und attestiert ihm «auffällige Reizbarkeit» und «erstaunliche Sensibilität».

Aus beiden Polen speist sich Brinkmanns Energie, aber das Unvereinbare sorgt auch für Chaos. Brinkmann setzt sich mit den neuesten amerikanischen Dichtern auseinander, gibt mit dem Freund Ralf-Rainer Rygulla Anthologien wie «ACID» heraus und macht nicht nur aus Forschungszwecken auch die LSD-Drogenerfahrungen der transatlantischen Kollegen.

In den Texten von «Westwärts 1 & 2» tobt sich das Collagieren von Motiven auf unnachahmliche Weise aus. Das Gedicht «Einige sehr populäre Songs» kommt von der Metaphysik der Kühe über die Lieder Leonard Cohens zu Brinkmanns Geburt und von dort zur Lockenbrennschere der Hitler-Freundin Eva Braun. «Filigranes Grau hypothetischer Fragen, / Ranken, Zementverzierungen, wo die Träume / absterben wie Ebenen.»

«Wie mühsam das Ordnen!», hat der Schriftsteller einmal notiert. Wenn er arbeitete, sass er an einem Stapel von Einfällen und später oft auch inmitten eines Bergs aus Fotografien, Zeitungsausschnitten und Ansichtskarten. Alles war Material, selbst privateste Briefe. In dem vier Jahre nach Brinkmanns Tod veröffentlichten berühmten Buch «Rom, Blicke» schiesst alles durcheinander. Es sind Texte der Entkräftung, aber geschrieben sind sie wie auf Speed.

Ein Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom hat den Stipendiaten 1972 in eine Welt voller gescheiterter Schönheit geschossen. «‹Auch ich in Arkadien!› hat Göthe geschrieben, als er nach Italien fuhr. Inzwischen ist dieses Arkadien ganz schön runtergekommen und zu einer Art Vorhölle geworden.» An den antiken Ruinen urinieren die streunenden Katzen. Die italienischen Männer sind dem Dichter ein Greuel, weil sie sich machohafte Selbstbestimmtheit gönnen und noch im strahlendsten Sonnenschein am Sack kratzen.

Legendär sind auch die nicht zu Literatur gewordenen Ereignisse in Rom. Einmal soll Rolf Dieter Brinkmann die Lautsprecher seines Plattenspielers im Stipendiatenzimmer aufs Fensterbrett gestellt und damit das gegenüberliegende Altenheim beschallt haben. Die Aktion löste einen Militäreinsatz und diplomatische Verwicklungen aus, weil die Villa Massimo deutsches Hoheitsgebiet ist. Ein andermal klopfte der Autor an die Türen der anderen Künstler, sie sollten herauskommen, er wolle sich mit ihnen prügeln. Höhepunkt dieser Kalamitäten war ein Duell, bei dem man sich mit Boccia-Kugeln bewarf. Dabei kam allerdings niemand zu Schaden.

Das Geld ist immer knapp

In ihrer Biografie gelingt es Michael Töteberg und Alexandra Vasa sehr überzeugend, die grundschlechte Laune des Porträtierten als Teil seines Werks darzustellen. Gleichzeitig ist sie auch Gegengift zu einem nach aussen hin ziemlich unspektakulären Leben. Das spielt sich in Vechta ab und vor allem in Köln. Hier besingt Brinkmann das hässliche Grau des Rheins und kommt es zu euphorischen Séancen mit Alkohol, Apomorphin und Gras, den bevorzugten Rauschmitteln. Das Geld ist immer knapp. Seine Ehe mit der selbstlosen Bibliothekarstochter Maleen schwebt zwischen inniger Liebe und heilloser Zerrüttung. Der kleine Sohn Robert war eine Frühgeburt und tapst als Bündel seiner geistigen Einschränkungen fröhlich an den Schreibtisch des unfrohen Vaters.

Einen «D’Annunzio aus Vechta» hatte ihn sein Freund Hermann Peter Piwitt genannt, aber Brinkmann war auch ein grosser Denunziant. Reihenweise mussten sich Kollegen Schmähungen gefallen lassen. «Der dumme humane Böll» kommt in «Rom, Blicke» vor, der «Muff-Schriftsteller Chotjewitz» und «der stumpfe Bulle Born». Heinrich Böll, Peter O. Chotjewitz und Nicolas Born waren Weggefährten und Förderer seine Karriere.

Peter Handke gehörte auch zum illustren Kreis der Brinkmann-Verehrer, was ihn aber nicht aus der Schusslinie nahm. An einen Freund schreibt der wütende Autor: «Ich habe 5, 6 Stunden an 1 Gedicht geschrieben gestern, 2 Seiten, das ich Samstagabend mit schneller Hand aus dem Augenblick heraus skizzierte, ‹Blues am Samstagabend›, als ich zufällig im Transisterradio ne Kultursendung hörte, Handke (Fusske) und der Büchnerpreis: enorm brav protestiert, so ganz die gute, ordentliche Protesttour, die olle abgetakelte Schriftstellerprotesttour ‹wie wird man ein politischer Mensch› – seltsam, dachte ich, der biederste, bravste, ordentlichste Protest.»

Von seinem Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom macht Brinkmann einen Abstecher zu einem Dichtertreffen in Graz. Nach ein paar Veranstaltungen ist man abends in einem Restaurant beisammen. «Setze mich in die hintere Reihe: vorn ein Tisch mit hemdsärmelig hingeflegelten Westdeutschen.» Ausserdem: «Rotanlaufende besoffene österreichische Dichter – die gleiche Hässlichkeit. Wo bin ich?» Das Wort «hässlich» hat der wilde Mann immer griffbereit. Mit ihm schiesst er auf alles, was ihn an seinen eigenen Hass erinnert. Der kann grenzenlos sein. Misogyn, rassistisch. In Summe: menschenunfreundlich.

Handgreifliche Gewaltphantasien

In einem Essay für das Heft 20 der Literaturzeitschrift «Kursbuch. Über ästhetische Fragen» nimmt sich 1970 der Literaturbetriebspatriarch Martin Walser den sehr speziellen Zorn der Nachwuchsgeneration vor. «Die Autoren der neuesten Stimmung kann man kennen, fast ohne ihre Werke zu lesen. Der Autor ist die Botschaft.» Peter Handke und Rolf Dieter Brinkmann werden von Walser namentlich genannt.

Die heroischen Akte politisch engagierter Autoren, zu denen sich Walser natürlich selbst zählt, scheinen ihm bei den Jungen zu einer Art Maulheldentum degeneriert. «Das ist narzisstische Gestik. Böse zum Selbstgenuss.» Zum eigenen Vergnügen ist dann auch Walser ein bisschen böse, wenn er Peter Handkes Ausbruch nach einem Kinobesuch zitiert. Beim Betrachten eines Western hatte sich der sensible Dichter vom restlichen Publikum gestört gefühlt und daraufhin notiert: «Mein Wunsch: dass man sie zusammentun würde, die linke Scheisse und die rechte Scheisse, die liberale Scheisse dazu, und eine Bombe draufschmeissen.» Bomben gegen Popcorn!

Bei Brinkmann ist die Gewaltphantasie noch handgreiflicher, weil sie tatsächlich vor den Adressaten formuliert wird. Bei einer Veranstaltung der Berliner Akademie der Künste im November 1968 sollen Schriftsteller mit Kritikern diskutieren. Auf der Bühne sitzen Rolf Dieter Brinkmann und Marcel Reich-Ranicki. Der Dichter findet die Veranstaltung wohl zu verplauscht, und fällt seine üblichen Pauschalurteile, diesmal über den Zustand der Literaturkritik.

Man bittet ihn höflich um Differenzierung. Er aber protestiert: «Über Differenzierung kommt man zur Versöhnung. Es geht nicht um Differenzierung, es geht vielleicht gar nicht um Literatur. Ich müsste ein Maschinengewehr haben und Sie über den Haufen schiessen.» Dank einer Rundfunkaufzeichnung sind diese Sätze des Schriftstellers erhalten. Sie sind Teil der Folklore, die sich um den Revolutionär gebildet hat. Das Vereinsbanner der Brinkmannianer ziert der ausgestreckte Mittelfinger, und die Drohungen des Dichters gelten als souveräner poetischer Akt.

Dem verzogenen Kind der deutschen Literatur haben am Ende alle verziehen. Reich-Ranicki schrieb trotz der Maschinengewehr-Episode einen freundlichen Nachruf auf den «unzurechnungsfähigen Poeten». Peter Handke hielt 1975 am Mont Ventoux die Laudatio, als Rolf Dieter Brinkmann dort postum der Petrarca-Preis verliehen wurde. «Ein Ich, das querliegt zur Welt» nannte Handke den bedeutenden Bürger einer niedersächsischen Kleinstadt, die sich seiner lange nicht rühmen wollte. Erst 1992, siebzehn Jahre nach seinem Tod, wurde der Name des Schriftstellers in Vechta in den Grabstein graviert.

Michael Töteberg und Alexandra Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine Biografie. Rowohlt Verlag, Hamburg 2025. 400 S., Fr. 48.90.

Rolf Dieter Brinkmann Westwärts 1 & 2. Gedichte. Rowohlt Verlag, Hamburg 2025. 448 S., Fr. 70.90.

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