Dienstag, April 22


Entdeckungen

Stark, aromatisch, heiss, bekömmlich und mit wenig Säure sollte er sein, der perfekte Espresso. Wo man den kleinen Schwarzen genau so serviert bekommt.

Mein Verhalten gibt mir oftmals Rätsel auf, die noch unergründlicher sind als alle Geheimnisse des Universums. Ich schaue so gerne zu. Wie es herausfliesst. Elixiergleich und haselnussbraun, mehr luftig-cremiger Schaum als Wasserähnliches. Neben flüssig, fest und gasförmig müsste das der vierte klassische Aggregatzustand sein. In diese Konsistenz sollte man einmal hineinspringen dürfen – vieles im Leben würde erträglicher.

Unten in der Tasse manifestiert sich die aromatische Substanz zum kleinen Schwarzen. Getoppt von der zentimeterdicken, festen Crema. Hineinrieselnder Zucker versinkt darin langsam, aber unaufhaltsam, wie der Bösewicht im Treibsand. Das Stimulans für Fern- und Nahfahrer, für Chirurgen und Kanzlerinnen, für Partygänger und Ölbohrer, für alle, die sich – freiwillig oder auch nicht – Tage und Nächte um die Ohren schlagen, ohne ihre Konzentration und Haltung vollends zu verlieren.

Und ja, auch für Kolumnenschreiber, die über der weltverändernden Frage, worüber sie schreiben sollen, den lockenden Ruf des Siesta-Sofas mit einem (doppelten) Espresso kontern.

Kleinigkeiten können den Espresso ruinieren

Ob man ihn direkt am Tresen bestellt oder ihn sich zu Hause aus einer Maschine tröpfeln (sollte er eben nicht, sondern konstant fliessen, und zwar etwa 20 Sekunden) lässt, die Erwartungen sind immer dieselben. Stark, aromatisch, heiss, bekömmlich, wenig Säure. Sie werden auf jeder italienischen Autobahnraststätte regelmässiger erfüllt als in hiesigen Etablissements.

Da akzeptiere ich an der Autogrill-Bar gerne auch das lange Anstehen, um vorher zu bezahlen, das anschliessende Drängeln gegen andere Gäste und das wortlose Hinknallen meines Espresso durch einen schwitzenden Barista, der seine Miesepetrigkeit wohl schon mit der Muttermilch aufgesogen hat.

Betrete ich in der Schweiz eine Kaffeebar, sind die Erfahrungen eher durchzogen. Ein Blick auf Maschine und Mühle, zwei Minuten dem Barista (so nennen sich die Berufsleute, die sich selbst auf den Espresso-Thron gehievt haben, der Begriff ist genauso ungeschützt wie der des Kolumnen-Autors) zuschauen, und ich kann die Tauglichkeit des kleinen Schwarzen einschätzen.

Sind die Tassen mit dem Boden nach oben auf der heissen Maschine gestapelt? Falsch, wir wollen den Tassenboden gewärmt und uns nicht die Lippen am heissen Tassenrand verbrennen. Die Siebträger liegen erkaltet neben der Maschine? Sie sollten immer eingespannt und somit vorgewärmt an der Maschine bleiben, natürlich gereinigt.

Dass jede Portion Bohnen frisch gemahlen wird und nicht schon vorgemahlen aus einem Behälter gezogen wird, ist selbstredend. Der wie ein Stempel geformte Anpresser (Tamper) darf beim Zusammenpressen des Pulvers nicht gedreht werden, es würde dadurch ungleichmässig verteilt. Ein Hindernis für den gleichmässigen Wasserdurchfluss.

Bei fast 800 verschiedenen Aromen, die aus dem Kaffeepulver gespült werden, kann jede Kleinigkeit ein optimales Ergebnis ruinieren. Das zu den hard facts. Idealen Wasserdruck (6–9 Bar) und ideale Wassertemperatur (etwa 94 °C) kann ich natürlich nur voraussetzen. Auch ob vorzugsweise gefiltertes Wasser durch die Maschine gejagt wird.

Der italienische Kaffee bleibt der beste

Passen mir zu viele dieser Parameter nicht, mutiere ich zum Albtraum jedes Café-Betreibers und stelle die Jungs oder Mädels an der Maschine zur Rede. Weil ich hier für einen Fünfliber einen besseren Kaffee trinken möchte als in einem Diner in Texas. Die von vielen Hipster-Baristas hervorgezogene Ausrede über die noch unterirdischere Kaffeequalität in anderen Ländern nützt mir (und ihnen) in diesem Moment nichts.

Sicher, die Spanier sind gut im Zusammenschütten von Sangria. Kaffee können sie nicht. Die Franzosen haben zwar die Croissants erfunden. Den Kaffee dazu vergassen sie. Espresso in Deutschland? Da sag ich jetzt lieber nichts dazu, man möchte ja wieder einmal einreisen dürfen. Österreich? Na ja, sie schlagen mehr Rahm in die Tasse als ich auf meine Pawlowas, und das will etwas heissen! Auch wird in den Wiener Kaffeehäusern zurzeit anderes bewundert als die Kaffeequalität. Zum Beispiel die Machenschaften von Immobilien-Benko.

Ein guter Espresso für 1 Euro

Bleibt Italien. Es ist nach wie vor die geografische Referenz für den ultimativen Espresso, dort Caffè genannt. Die Röstung immer dunkel, im Norden öfter aus 100 Prozent Arabica-Bohnen. Je südlicher man sich durch die Caffè-Bars trinkt, desto höher wird der Robusta-Anteil in der Röstung. In Sizilien sind 80 Prozent Robusta keine Seltenheit, diese Bohne garantiert kraftvollen Körper und mächtige Bitterkeit, welche der kleinere Arabica-Anteil mit seiner eleganten Fruchtigkeit perfekt etwas ausgleicht. Und dort kostet er in den Bars noch immer gleich wenig wie bei der Einführung des Euro. Nämlich genau einen.

Meine beiden Espresso-Erleuchtungen glühten natürlich in Italien auf, wo sonst. Vor zwanzig Jahren wollte der Wirt der Trattoria Temptation in Sferracavallo, Palermo, uns keinen Kaffee servieren, die neuen Gäste warteten schon auf unseren Tisch. Zum Glück stand draussen am Hafen ein winziger Kiosk, mit Kaffeemaschine. Und was da ölig-mokkabraun und langsam wie die Lava aus dem Ätna herausfloss? Caffè Morettino aus Palermo! Eine der letzten Torrefattori, welche die braunen Bohnen schonend über dem Holzfeuer rösten.

Meinen anderen Favoriten fand ich bei meinem Freund Alberto, in seiner Trattoria da Amerigo nahe Bologna. Er lässt sich eine exklusive Mischung rösten, die neuerdings jedermann bei seinem Röster Manuel Terzi in Vignola ordern kann. Bei beiden Kaffees überzeugt mich die perfekte Ausgewogenheit von kräftig-tiefgründigem, fast schokoladigem Körper und der eleganten Bitternote – und die fast völlige Abwesenheit von Säure.

Die Aromen bleiben minutenlang im Gaumen, füllen ihn immer intensiver aus, wollen gar nicht mehr verschwinden und uns zum Abschluss nur eines sagen: Wie kann man nur Vollautomaten, popeligen Möchtegern-Baristas sowie der Kapselkaffee-Industrie auf den Leim gehen und sich mit einem anderen als einem solchen Kaffee abspeisen lassen?

Richard Kägi ist Autor, Foodscout, schreibt Kochbücher und Kolumnen. Rezepte: auf homemade.ch und Instagram: @richifoodscout. Seine Elektra-Kaffeemaschine und sein Terzi-Kaffee müssen mit auf die Insel, denn ohne Kaffee ist sein Leben sinnlos.

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