Donnerstag, November 13

Seit Jahrzehnten wollen Japans Konservative den umstrittenen Artikel 9 der Verfassung ändern. Nun kommt das Thema erneut auf die Tagesordnung – mit möglichen Folgen für Japans Beziehungen zu den Nachbarn.

In Japan nimmt ein politischer Vorstoss Fahrt auf, der bei den Nachbarn auf Widerstand stossen könnte: eine Reform der pazifistischen Verfassung. Japans Ministerpräsident Fumio Kishida stellte im innerparteilichen Wahlkampf um die Präsidentschaft seiner Liberaldemokratischen Partei (LDP) eine Revision weit oben auf die politische Tagesordnung.

«Die Zeit, nur über eine Verfassungsänderung zu reden, ist vorbei», erklärte der seit 2021 amtierende Regierungschef vor einem LDP-Ausschuss vorige Woche. Nun sei es an der Zeit, zu überlegen, wie die bisherigen Pläne umgesetzt werden könnten. Andere Anwärter auf die Parteipräsidentschaft unterstützen die Idee ebenfalls.

Koichi Nakano, Politologe an der Sophia-Universität, meint daher: «Die Bewegung für die kontroverse Revision wird sich dadurch beschleunigen.» Dies könnte sowohl in Japan wie im asiatischen Ausland umstritten sein. Denn der Regierungschef Kishida will genau den Artikel in den Mittelpunkt der Diskussion stellen, der nach dem Zweiten Weltkrieg den japanischen Militarismus ein für alle Mal beenden sollte.

Es handelt sich um Artikel 9 der Verfassung, die die amerikanischen Besetzer 1946 formuliert haben. In dem Artikel verzichtet Japan auf das Recht zur Kriegsführung und erklärt, das Land werde «keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel unterhalten».

Japan ist weit pazifistischer als Deutschland

Die Entwaffnung des asiatischen Feindes war damit noch stärker festgeschrieben als die Deutschlands. Doch genau wie im Falle Deutschlands bewaffnete sich Japan als Frontstaat des Kalten Kriegs gegen die Sowjetunion in den 1950er Jahren neu, allerdings mit wichtigen Unterschieden.

So nannten die Japaner ihr Militär mit Rücksicht auf die Verfassung «Selbstverteidigungskräfte» und beschränkten sich lange auf die reine Verteidigung. Zudem verzichtete Japan anders als Deutschland lange sogar auf das Recht zur kollektiven Verteidigung, also den militärischen Beistand für einen Verbündeten, der angegriffen wird.

Japan nahm daher im Unterschied zur europäischen Mittelmacht seit dem Zweiten Weltkrieg nicht an Kampfeinsätzen teil. Um die Sorge der Nachbarn China und Korea vor einem neuen Imperialismus zu lindern, war auch die Bewaffnung des Militärs auf die Verteidigung ausgelegt. Dies änderte sich schrittweise.

Japans Regierung will das Land bündnisfähiger machen

Ein Grund war der wachsende Druck der Schutzmacht USA, mehr für die eigene Verteidigung zu tun. Gleichzeitig nahm Japan die atomar bewaffneten Nachbarn China, Russland und Nordkorea durch ihre Aufrüstung und ihre aggressivere Aussenpolitik verstärkt als Bedrohung wahr.

Nach Russlands Angriff auf die Ukraine versprach Kishida, den Rüstungsetat nahezu auf 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu verdoppeln. Ausserdem kauft Japan unter anderem Tomahawk-Marschflugkörper, um im Falle eines Angriffs auch Ziele in China und Nordkorea attackieren zu können.

Zudem arbeitet Japan militärisch enger mit Südkorea und den USA, den US-Verbündeten, den Philippinen und auch der Nato zusammen. Denn für Kishida ist das Schlachtfeld in der Ukraine eng mit den möglichen Krisenherden in Asien verbunden. Immerhin unterstützt China Russland massiv, während Nordkorea sogar Waffen liefert.

Gleichzeitig erhebt China immer aggressiver Anspruch auf die Chiphochburg Taiwan, das Südchinesische Meer und die von Japan kontrollierten Felseninseln, während Nordkorea atomar aufrüstet und offen Japan bedroht. «Ostasien, die Ukraine von morgen», sagt Kishida daher.

Artikel 9 der Verfassung beschränkt den Handlungsspielraum

Das Problem: Der schon jetzt durch die amtlichen Interpretationen und die militärische Neuorientierung arg gebeugte Artikel 9 wird immer mehr zum Hindernis, Japans Selbstverteidigungskräfte zu einem «vollwertigen» Militär auszubauen. Eine Verfassungsänderung soll das ändern, die Frage ist nur wie.

Die LDP hat daher schon länger vorgeschlagen, im Rahmen einer grösseren Verfassungsreform wenigstens die Existenz der Selbstverteidigungskräfte in die Verfassung zu schreiben. Denn linke politische Kräfte meinen bis heute, dass selbst diese Form der Bewaffnung einen Verfassungsverstoss darstellt.

Ein weiterer Vorschlag ist daher, auch den Verzicht auf das Recht auf Kriegsführung zu streichen. In Japan wird darin nur der Versuch gesehen, ein vollwertiger Bündnispartner zu werden, der seinen Verbündeten auch militärisch beistehen kann.

Aber bei den Nachbarn weckt dieser Schritt die Befürchtungen, dass Japans konservative Kräfte einen neuen Militarismus aufbauen wollen. Dass Japans Rechte zudem die dunklen Seiten des japanischen Imperialismus aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängen will, schürt das Misstrauen in China und auch Südkorea noch zusätzlich.

Noch ist allerdings die Frage, ob auch dieser Vorstoss für eine Verfassungsänderung wie die vorhergehenden versanden wird. Die Hürde ist hoch, da neben dem Parlament auch das Volk mit einer Zweidrittelmehrheit einer Revision zustimmen muss.

Kishida habe das Thema in den ersten drei Jahren seiner Amtszeit nicht angepackt, gibt der Politologe Nakano daher zu bedenken. Denn an den Wahlurnen ist das Thema bisher Gift gewesen. Aber Nakano will mehr Bewegung nicht ausschliessen, nachdem der frühere Regierungschef Shinzo Abe ermordet wurde.

Da Abe mit einer Revision auch eine Stärkung der Staatsmacht vorschwebte, gab es keinerlei Verhandlungswillen bei den linkeren Oppositionsparteien. «Ohne Abe sind die anderen Parteien vielleicht weniger besorgt», meint Nakano.

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