Samstag, Oktober 5

Wolodimir Selenski und seine Berater entlassen und versetzen Minister nach Gutdünken. Manche Motive lassen sich erahnen, teilweise geht es um Sündenböcke. Das geschieht in einer heiklen Kriegsphase.

Mitten in einer heiklen Kriegsphase tauscht Wolodimir Selenski eine Reihe von Ministern und Spitzenbeamten aus. Am Mittwochmorgen reichte auch Aussenminister Dmitro Kuleba seinen Rücktritt ein, das neben dem Präsidenten international bekannteste Gesicht des Landes. Mindestens fünf weitere Mitglieder des 24-köpfigen Kabinetts verlieren ihre Posten oder erhalten neue Zuständigkeiten. Dazu kommt die Entlassung des CEO des Netzbetreibers Ukrenerho, des Leiters des Fonds für Staatsvermögen und des stellvertretenden Leiters der Präsidialverwaltung.

Selenski begründete den grössten Umbau der Regierung seit Kriegsbeginn mit dem Setzen neuer Prioritäten im Hinblick auf den Herbst: Dieser werde entscheidend für die Ukraine. «Gewisse Bereiche unserer Innen- und Aussenpolitik brauchen deshalb etwas andere Schwerpunkte», erklärte der Präsident am Dienstagabend vage. Er erhoffe sich von den Personalwechseln neue Energie. Der Fraktionsführer der Regierungspartei kündigte weitere Änderungen an.

Selenskis intransparentes Personalkarussell

Weshalb Selenski ein so grosses Personalkarussell in Bewegung setzt, erschliesst sich nur teilweise. So soll die bis jetzt für die europäische Integration zuständige stellvertretende Regierungschefin Olha Stefanischina laut übereinstimmenden Medienberichten zusätzlich das Justizministerium übernehmen, wovon sich Kiew wohl Synergien bei den anstehenden Beitrittsverhandlungen mit der EU erhofft. Laut Bloomberg soll Aussenminister Kuleba nun in einer noch zu definierenden Funktion für die Beziehungen zur Nato zuständig sein. Auch diese hatte Selenski als Priorität genannt.

Olexander Kamischin, der die Aktivitäten der Rüstungsindustrie koordinierte, werde Berater des Präsidenten, heisst es zudem. Dieser will den strategischen Bereich wohl näher an sich ziehen. In einigen anderen Fällen werden nun Ministerposten besetzt, die vakant waren. Das unklare Ausmass der personellen Wechsel sorgt aber bei Beobachtern auch für Irritation. So glaubt der Politologe Olexi Koschel, der Präsident und seine Berater spielten schlicht ihre Macht aus, um von ihnen abhängige Figuren in der Regierung so herumzuschieben, wie es ihnen passe. «Unsere tiefe Regierungskrise lösen wir so nicht.»

Damit spricht er die grosse Machtballung bei Selenski und seiner Umgebung an, die unter dem Kriegsrecht noch gewachsen ist. Parlament und Regierung setzen im Wesentlichen die Vorgaben des Präsidenten um. Einer klaren Mehrheit der Ukrainer ist der Einfluss der mehreren Dutzend nicht gewählten Selenski-Berater ein Dorn im Auge. Der Politologe Jewhen Mahda nennt die Ukraine nur halb scherzhaft eine «Präsidialverwaltungs-Republik».

Nicht nur Mahda bezeichnet Andri Jermak, den obersten Präsidentenberater, deshalb als «grauen Kardinal». Der Experte verweist darauf, dass Jermak die eigene Macht regelmässig durch Personalwechsel vergrössert. Seine Handschrift erkennt Mahda in diesem Fall vor allem bei der Absetzung von Kuleba. Dessen bisheriger Stellvertreter und wahrscheinlicher Nachfolger Andri Sibiha arbeitete bis vor wenigen Monaten als Berater unter Jermak. Laut Medienberichten sind zwei weitere Mitarbeiter der Präsidialverwaltung als neue Minister vorgesehen.

Populärer Präsident mit viel Macht

Selenski selbst bleibt zwar der populärste Politiker. Doch seine Beliebtheitswerte sinken ständig – von 90 Prozent zu Beginn des Krieges auf noch knapp über 50 Prozent in diesem Sommer. Als Symbol der Einheit bleibt er für die Ukrainer höchst bedeutsam, aber die Machtballung bedeutet auch, dass sie den Präsidenten direkt für Missstände verantwortlich machen. Für Kiew wächst deshalb die Versuchung, Sündenböcke zu suchen, wie etwa bei der Absetzung des Oberkommandierenden Waleri Saluschni zu Beginn des Jahres.

Auch die nun erfolgte Entlassung des Ukrenerho-CEO Wolodimir Kudrizki wirkt so: Das Stromnetz der Ukraine steht nach einer Reihe von verheerenden russischen Luftangriffen am Rande des Kollapses. Die Unfähigkeit des Staates, dieses zu schützen, ruft in der Bevölkerung Wut und Hilflosigkeit hervor. Selenski sah sich deshalb offenkundig veranlasst, ein Zeichen zu setzen, damit er handlungsfähig bleibt.

Allerdings attestieren in- und ausländische Experten Kudrizki grosse Kompetenz – gerade weil er das System bisher gegen eine präzedenzlose Gewaltwelle am Laufen gehalten hat. Zwei der sechs Aufsichtsräte stimmten gegen die Absetzung. Sie warfen dem Büro des Präsidenten politische Einmischung vor und traten unter Protest zurück. Auch internationale Partnerorganisationen äussern sich besorgt. Dazu kommt die Frage, wie klug es ist, kurz vor Beginn einer schwierigen Heizsaison den Leiter des Netzbetreibers auszuwechseln.

Kudrizkis Nachfolger hat allerdings ebenfalls einen guten Ruf. Der Vorwurf, Selenski setze reine Loyalisten an die Stelle der Entlassenen, lässt sich momentan nicht erhärten. Der Präsident weiss sehr wohl, dass er Experten und Beamte braucht, die das Land auch international repräsentieren können. Er besitzt auch die verfassungsmässigen Kompetenzen, die Regierung umzubauen.

Das angeknackste Vertrauen der Ukrainer

Selbst regierungskritische Politologen wie Jewhen Mahda stellen dies nicht in Abrede. Er stört sich an der chaotischen Kommunikation und bezweifelt, dass hinter Selenskis Umstellungen eine Strategie steckt. «Der Regierung fehlt es an Professionalismus», sagt der 49-Jährige. «Doch statt dass nun Fachleute hereingeholt werden, kommen neue Leute, die ebenfalls niemand kennt.» Dies könne sich die Ukraine als Land im Krieg nicht leisten.

Die unklaren Entscheidungsgrundlagen und die mangelnde Kommunikation gegenüber der Bevölkerung erstaunen bei einem Präsidenten, der oft sehr medienwirksam agiert. Dass dies das angeknackste Vertrauen der Ukrainer in ihren Staat fördert, darf bezweifelt werden. Die Kaderpolitik funktioniert aber nach ihren eigenen Regeln.

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