Donnerstag, Oktober 10

Eine Million Menschen verliessen innerhalb kurzer Zeit das Land. Pérez bleibt und kämpft für die Meinungsfreiheit auf der Insel: «Die Gesellschaft braucht den kritischen Dialog wie den Sauerstoff zum Atmen», sagt er.

Die kleine Tätowierung am linken Handgelenk von Fernando Pérez lässt tief blicken. Die Silhouette Kubas ist da zu sehen. Das zeigt die Verbundenheit des derzeit einflussreichsten kubanischen Filmregisseurs mit der Insel.

La Habana, wie die Kubaner ihre Hauptstadt nennen, ist der zentrale, prägende Bezugspunkt von Fernando Pérez. «Hier komme ich her, hier bin ich verwurzelt, nur hier richtig kreativ, und folgerichtig entstehen und spielen meine Filme in aller Regel in Havanna», sagt die hagere, fast 80-jährige Kino-Ikone.

Am Rande von Centro Habana, an der Grenze zum Stadtteil Cerro, lebt der Regisseur, steht wie alle anderen auch in der Schlange beim Bäcker, vor der Bodega oder dem Supermarkt. Trotz seinen Kinoerfolgen wie «Das Leben, ein Pfeifen» oder «Clandestinos» bewegt er sich vor allem in den einfachen, oft von Armut geprägten Stadtteilen Havannas.

Die Linke kritisiert den Staat

Von Aufrichtigkeit zeugen nicht nur die Filme des hyperaktiven Cineasten, sondern auch sein Eintreten für die Meinungsfreiheit und den Dialog. Erst Anfang Juli stand sein Name unter dem offenen Brief von rund 200 Künstlern und Intellektuellen, die die staatliche Repression gegen die Historikerin und Philosophin Alina Bárbara López und ihre Freundin Jenny Pantoja verurteilten.

Die beiden Frauen aus der rund 120 Kilometer von Havanna entfernten Hafenstadt Matanzas sind in Kuba durch die linke Zeitschrift «La Joven Cuba» bekannt geworden. Die von Alina López koordinierte Redaktion kritisierte immer wieder die Regierung: für ihre einseitige Investitionspolitik, für die wenig ausgewogene Sozialpolitik. «Mir hat dieser Blick auf unsere Realität sehr gefallen. Für mich zählt Alina als Historikerin und Philosophin zu den wichtigen Denkerinnen unserer Gegenwart», sagt Pérez der NZZ in Berlin.

Dort fand von Ende Juli bis Anfang August Big Cuba statt. Für das kubanische Kinofestival war Pérez nach Deutschland gekommen. Es eröffnete mit einem Konzert des Jazzpianisten Roberto Fonseca und bot die Chance, nicht nur rund sechzig Meilensteine des kubanischen Kinos zu sehen, sondern auch mit Regisseuren wie Pérez über die kriselnde Insel und ihre Widersprüche zu diskutieren.

Für Pérez ist Alina López ein Vorbild, weil sie diese Widersprüche treffend aufzeigt. «Sie tritt ein für das, was sie denkt. Das ist konsequent, und daher wird sie immer meine Unterstützung haben», erklärt der Mann mit dem graumelierten Schnauzer. Er gilt in Kuba ebenfalls als konsequenter, unabhängiger Kritiker der Verhältnisse, und als solcher hat er immer wieder an Initiativen teilgenommen, die sich gegen Repression und für freie Meinungsäusserung engagierten. Innerhalb der Kinoszene, aber auch darüber hinaus wie am 27. November 2020. Damals hatten sich in einem der seltenen Proteste auf der Insel zwischen dreihundert und siebenhundert Künstler und Intellektuelle in Havanna vor dem Kulturministerium versammelt, um gegen Polizeiwillkür und Repression zu protestieren.

Wenige Tage zuvor war die Polizei gegen den Movimiento San Isidro (MSI) vorgegangen, etliche der Aktivistinnen und Aktivisten wurden festgenommen. Zwei von ihnen, Luis Manuel Otero Alcántara, MSI-Koordinator und Maler, und der Rapper Maykel «Osorbo» Castillo, sitzen nach wie vor in Haft. Das kritisiert Fernando Pérez genauso wie den fehlenden Dialog mit der politischen Führung. «Der 27. November 2020 war ein Meilenstein», sagt er. Aber er kritisiert auch, dass der Protest «nicht wie erhofft zu einem kritischen Dialog mit der Politik geführt hat». Der Dialog sei verweigert worden. Eine vertane Chance.

Stattdessen lässt die Regierung die Muskeln spielen, hat die Proteste vom 11. Juli 2021 niedergeschlagen, den Marsch für den Wandel vom 15. November 2021 unterbunden und geht immer wieder mit Zensur gegen die Kunst und ihre Protagonisten vor.

Er hofft auf die Jugend

Ein weiteres Beispiel war die Absetzung des Dokumentarfilms «La Habana de Fito» über den argentinischen Musiker Fito Páez vom kubanischen Regisseur Juan Pin Vilar im Juli 2023. «Ein klarer Akt der Zensur, und dagegen wehren wir uns. Kultur und Gesellschaft brauchen den kritischen Dialog und das Recht auf freie Meinungsäusserung wie den Sauerstoff zum Atmen», mahnt der derzeit bekannteste Kinoregisseur der Insel. Dafür engagiert sich Pérez auch innerhalb der Kinoszene: Er ist eines der Schwungräder der «Versammlung kubanischer Cineasten», arbeitet an deren Zeitung «Alterna» mit.

Auch unter jüngeren Regisseuren wie Miguel Coyula geniesst Pérez enormen Respekt. Doch der oft gut qualifizierte Nachwuchs verlässt in Scharen die Insel, und das schmerzt Fernando Pérez. Über ein Dutzend junger Menschen aus dem Team, mit dem er 2022 seinen jüngsten Film, «Die Welt von Nelsito», gedreht habe, seien emigriert. Rund eine Million Menschen verliessen gemäss offiziellen Zahlen zwischen 2021 und 2023 das Land. «Das ist ein Aderlass, den keine Gesellschaft aushält», bemerkt Pérez mit leiser Stimme.

Er hofft auf die Jugend. Sie sei es, die Veränderung, Reformen, den Wandel durchsetzen müsse. Das sei das Gesetz des Lebens, so der Mann, der derzeit an seinem vielleicht letzten grossen Projekt arbeitet: dem Drehbuch zu «Nocturno». Der Film, so Pérez, soll von Kuba in den Jahren von 1960 bis heute handeln: wie immer erzählt aus der Perspektive der einfachen Leute auf der Insel.

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