Dienstag, November 4

Wieder Bauhaus-Magie im Hinterhof: München hat die Reichenbachsynagoge zurückbekommen. Der Bau im Stil der Neuen Sachlichkeit wurde bis ins Detail originalgetreu rekonstruiert.

Als 2006 die grosse Ohel-Jakob-Synagoge im Münchner Stadtzentrum eingeweiht wurde, sprach Charlotte Knobloch, damals Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, in ihrer Festrede von einem «neuen Kapitel» in der deutsch-jüdischen Geschichte. Sie sagte: «Was ich heute erlebe, bestätigt mich in meiner Liebe zu diesem Land.» Die neue Synagoge beweise, «dass wir Juden wieder auf die Zukunft dieses Landes vertrauen».

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Dass diese Zuversicht erschüttert sein könnte, zeigte die Wiedereröffnung der Reichenbachsynagoge, einer architektonischen Perle, die 1931 nach dem Entwurf des jüdischen Architekten Gustav Meyerstein im Geist des Bauhauses und der Neuen Sachlichkeit entstanden war. In ihrer Festrede äusserte die inzwischen 92-jährige Knobloch, noch immer Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, vor der versammelten Prominenz nicht nur ihre Freude über die wiedergewonnene Synagoge.

Sie adressierte auch die «Angst», in der Juden seit dem 7. Oktober 2023 leben. Die Initiatorin der Rettungsaktion, die Literaturwissenschafterin Rachel Salamander, wurde konkreter: «Der Antisemitismus ist so gross wie seit 1945 nicht mehr.» Als sie das Synagogenprojekt 2011 in Angriff genommen habe, sei «die Welt noch eine andere» gewesen.

Knobloch erneuerte ihre Warnungen vor dem Rechtsextremismus, während der bayerische Ministerpräsident Söder vor allem den «Antisemitismus der linken Kulturszene» angriff.

Bundeskanzler Merz versuchte sich in Selbstkritik. «Wir», sagte er, hätten «zu lange die Augen davor verschlossen», dass in vielen Herkunftsländern der nach Deutschland eingewanderten Menschen «Israelhass schon den Kindern in den Schulen vermittelt wird». Er sei beschämt, dass nach dem Massaker «auf manchen deutschen Strassen gefeiert» wurde und sage dem Antisemitismus den Kampf an.

Dann sprach der Kanzler über Rachel Salamander, die als Kind immer gefragt habe: «Warum hat den Juden denn niemand geholfen?» Das Publikum reagierte überrascht, als Merz plötzlich Tränen in den Augen standen, seine Stimme brach.

Die Synagoge an der Reichenbachstrasse 27 wurde am Vorabend der NS-Machtergreifung von Ostjuden erbaut, die aus Russland geflohen waren und darauf gehofft hatten, in München sicher zu sein. Doch in der Pogromnacht 1938 verwüsteten SA-Trupps das Innere des Sakralbaus, der unscheinbar in einem Hinterhof liegt. Ein Brand wurde nur gelöscht, um das Übergreifen des Feuers zu vermeiden. 1943 wurde die Synagoge zur Autowerkstatt.

Ab 1947 waren es wieder hauptsächlich Juden aus Osteuropa, Displaced Persons, die sich in der notdürftig hergerichteten Reichenbachsynagoge versammelten – und das Land der Täter nur als Übergangsstation ansahen. Rachel Salamander, selbst aus jüdisch-polnischer Familie, erinnerte sich daran, dass «beim Totengebet, dem Jiskor, ein tiefes Schluchzen das gesamte Gotteshaus erfasste». Die «Reichenbachschul», wie sie früher genannt wurde, war fast sechzig Jahre die Münchner Hauptsynagoge. Bis am 9. November 2006 die Torarollen feierlich in die neue Ohel-Jakob-Synagoge übergeführt wurden.

Dass das leerstehende Gebäude gerettet wurde, ist allein Rachel Salamander zu verdanken. Sie wollte dem Verfall der letzten Münchner Vorkriegssynagoge nicht länger zusehen und gründete gemeinsam mit dem Rechtsanwalt Ron Jakubowicz einen Verein, der Bund, Freistaat Bayern und Stadt für sich gewann und den geforderten Eigenanteil an Spenden zusammenbrachte. «Ein Gemeinschaftswerk von Juden und Deutschen», wie Salamander unterstrich, «die beste Form der Verständigung.»

Widerstände gab es genug. So sperrte sich ausgerechnet der Denkmalschutz lange gegen eine Rekonstruktion im Originalstil – obwohl es Beispiele neusachlicher deutscher Synagogenarchitektur heute nur mehr in Bad Nauheim, Hamburg und Plauen gibt. Lieber wollte die Behörde den provisorischen – und weniger kostspieligen – Zustand von 1947 wiederherstellen.

Der neue Glanz der alten Reichenbachsynagoge gibt Salamander recht. Auf Basis von Originalplänen und Fotos erstellte das verantwortliche Architekturbüro ein 3-D-Modell, das eine präzise Rekonstruktion erlaubte. Der Lichtstimmung in dem minimalistischen Gebäude haftet etwas Magisches an. Im Zusammenspiel von milchigem Oberlicht und blauer Wandfarbe variiert die Farbigkeit zwischen Hellblau, Türkis und Violett.

Alle Details sind originalgetreu, vom «pompejanisch-roten» Vorraum, der an die Art-déco-Ausstattung eines Hochseedampfers erinnert, über die Leuchtkörper in Form von Torarollen bis hin zu den raffinierten Sichtblenden der Frauenempore – in der orthodoxen Synagoge sitzen Männer und Frauen getrennt.

Einziges buntes Ornament sind die Bleiglasfenster mit jüdischen Motiven, die von derselben Glaserei, die hier bereits 1931 tätig war, aufwendig rekonstruiert wurden. Anders als andere deutsche Synagogen, bei denen Spuren der NS-Zerstörungen bewusst erhalten wurden, weist die Reichenbachsynagoge keine baulichen Wunden mehr auf. Mit Blick auf die früheren Synagogenbesucher, die aus Deutschland, Israel und den USA zusammengekommen waren, sagte Salamander, dass sie «ein Stück Geschichte heilen» wolle.

Bild oben: Vorraum der Synagoge mit rituellem Waschbecken;
Bild unten links: Bleiverglaste Fenster im Erdgeschoss auf der Nordseite rekonstruiert nach Originalvorlagen mit rituellen jüdischen Motiven; Bild unten rechts: Blick von der Ostnische in Richtung Eingang und Frauenempore.

Seit ein paar Wochen brennt vor dem Toraschrein in der Reichenbachstrasse wie früher das ewige Licht, das Ner Tamid, das auf die ständige Anwesenheit Gottes verweist. Anstelle des traditionellen, aufwendig bestickten Vorhangs hängt vor der Toranische jedoch ein schlichter, moderner Stoff der Bauhaus-Designerin Gunta Stölzl. Die gebürtige Münchnerin, selbst nicht jüdisch, wanderte 1936 nach Zürich aus.

Stölzl war eine Zeitlang mit Arieh Sharon, dem «Vater der israelischen Architektur», verheiratet, der wie Gustav Meyerstein nach Israel emigrierte und das berühmte «Weisse Tel Aviv» mitprägte. Der Stoff ist eine Spende aus dem schmalen Originalfundus von Stölzls New Yorker Enkel Ariel Aloni. Aloni war, wie auch Emanuel Meyerstein, der hochbetagte Sohn des Architekten, eigens zum Festakt angereist.

Wie im Jahr 1931 leben heute wieder über 9000 Jüdinnen und Juden in München, das damit die grösste jüdische Gemeinde Deutschlands beherbergt. Bundeskanzler Merz gab am Eröffnungsabend im abgeriegelten Gärtnerplatzviertel ein Versprechen ab: Er versprach den deutschen Juden Schutz. Daran wird beizeiten zu erinnern sein.

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